So hat Europa seine Macht verloren

Längst verliert Europa Macht auf der Weltbühne. Den Verlust an geopolitischem Einfluss
hat sich der alte Kontinent selbst zuzuschreiben. Es ist höchste Zeit, sich wieder auf die Grundlagen der Machtpolitik zu konzentrieren.

Ein Tisch mit einer Weltkarte und Platzkärtchen mit den Flaggen Chinas, der USA und Indiens. Europas Kärtchen steht auf einem, Kindertisch daneben. Das Bild illustriert einen Beitrag darüber wie Europa Macht abbaute.
Europa hat seinen Platz am Tisch der Weltmächte verloren. © Jens Bonnke
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Auf den Punkt gebracht

  • Abgehängt. Vor der Finanzkrise 2008 waren die EU- und US-Wirtschaft etwa gleich groß, heute ist das amerikanische Bruttoinlandsprodukt um ein Drittel größer.
  • Bedeutungsverlust. Mangels militärischer Stärke schwindet mit Europas Wirtschaftsmacht auch sein globaler Einfluss rapide.
  • Ausgedient. Die EU setzte zu lange bei internationalen Beziehungen auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Moral statt auf Machtdemonstrationen.
  • Gespalten. Ohne eine gemeinsame strategische Vision verliert sich die EU zunehmend in Regulierungsdebatten.

Ende letzten Jahres kamen etwa fünftausend außenpolitische Experten nach Katar, um auf dem Doha-Forum über Geopolitik zu sprechen. Im Mittelpunkt stand freilich der tragische Krieg in Gaza. Es wurde viel darüber spekuliert, was die Hamas, Israel und die Palästinensische Autonomiebehörde tun würden, wie sich die Amerikaner, Chinesen und Russen in dem Konflikt positionieren würden und was regionale Akteure wie die Türkei, der Iran und Saudi-Arabien tun könnten, um eine Lösung herbeizuführen oder eine Eskalation zu verursachen. Doch ein traditioneller Akteur schien bei all den Spekulationen zu fehlen: Europa. Weder die EU als Ganzes noch einer ihrer Mitgliedstaaten wurden in den verschiedenen Szenarien über den möglichen Verlauf des Kriegs auch nur erwähnt.

Dies ist für die meisten Beobachter kaum eine Überraschung – obwohl die Europäer dem Nahen Osten näherstehen als die Amerikaner, reicher sind als Russland und sich mehr für das Thema interessieren als China, haben sie im Gazakonflikt praktisch keine Rolle gespielt. Zumal ich für das European Council on Foreign Relations arbeite, dachte ich, ich sollte mich vielleicht nach den Gründen erkundigen. Ein katarischer Konferenzbesucher wirkte leicht verblüfft über diese Frage. Er hielt inne und blickte in den Himmel, als wolle er andeuten, dass er die Frage nie wirklich in Erwägung gezogen hatte. „Europäer? Sie sind natürlich wichtig“, sagte er höflich, „sie werden eine Schlüsselrolle bei der Finanzierung des Wiederaufbaus spielen.“

Europa macht zu wenig

Leider bleibt die Finanzierung des Wiederaufbaus weit hinter den europäischen Ambitionen zurück. Den Europäern liegt dieser Konflikt sehr am Herzen, und ihre politischen Entscheidungsträger möchten in der Lage sein, den Verlauf des Konflikts zu beeinflussen, auch um die europäischen Interessen in der gesamten Region zu schützen. Doch obwohl Europa mit Deutschland die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt beherbergt, hunderte Milliarden Euro für Rüstung ausgibt und wirtschaftlich wie kulturell mit dem Nahen Osten eng verbunden ist, sind Großbritannien, die EU und ihre Mitgliedstaaten nicht imstande, ihr politisches Gewicht geltend zu machen.

In den letzten fünfzehn Jahren ist Europa in fast allen wichtigen Machtbereichen ins Hintertreffen geraten.

Das zeigt, wie viel geopolitischen Einfluss Europa verloren hat. Vor allem in den letzten fünfzehn Jahren ist Europa in fast allen wichtigen Machtbereichen zunehmend ins Hintertreffen geraten. Von der wirtschaftlichen Größe über die militärische Kapazität bis hin zum politischen Zusammenhalt: Den Europäern kommt die Fähigkeit, Einfluss auszuüben, immer mehr abhanden. Sie können den Trend umkehren, aber der erste Schritt besteht darin, zu erkennen, dass man ein Problem hat. In diesem Sinne werden hier die wichtigsten Gründe genannt, warum die Europäer ins Hintertreffen geraten sind.

China und USA voran

Wenn es um wirtschaftliche Macht geht, ist Größe nicht alles. Aber sie hat natürlich eine Bedeutung, und in Bezug auf das grobe Maß des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ist die EU (plus Großbritannien) seit 2008 dramatisch hinter die USA und China zurückgefallen. Im Jahr 2008 war die Wirtschaft der EU etwas größer als jene der USA: 16 Billionen Dollar gegenüber 15,7 Billionen Dollar. Bis 2023 ist die amerikanische Wirtschaft auf 27 Billionen Dollar angewachsen, während die EU-Ökonomie (immer noch zusammen mit dem Vereinigten Königreich) nur 20 Billionen Dollar erreicht hatte. 

Mit anderen Worten: Die US-Wirtschaft war 2008 etwas kleiner als jene der EU, heute ist sie um ein Drittel größer. Noch dramatischer ist der Verlust an relativer Größe im Vergleich zu China. Im Jahr 2008 betrug das nominale BIP Chinas gut 30 Prozent des BIP der EU (inklusive Großbritannien); im Jahr 2023 lag es schon bei rund 90 Prozent.

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Zahlen & Fakten

Nun halten viele Ökonomen das nominelle BIP für keine gute Maßeinheit. Sie ziehen es vor, die Lebensqualität eines Landes anhand der Kaufkraftparität zu messen, die die Unterschiede in den lokalen Preisen und Wechselkursschwankungen berücksichtigt. Die Messung des nominalen BIP verschleiert auch die Quellen des Wachstums. Im Falle der USA und der EU geht ein Großteil des Unterschieds auf das stärkere Wachstum des US-Arbeitsmarkts zurück und nicht auf Produktivitätssteigerungen. Dieser Einwand ist sehr wichtig, wenn man die Lebensqualität in Europa im Vergleich zu den Vereinigten Staaten oder zu China verstehen will.

Aber hier und jetzt wollen wir ja den politischen Einfluss beleuchten. Und da spielt die schiere Größe durchaus eine entscheidende Rolle. Denn wenn man versucht, Entwicklungshilfe, Handels- oder Investitionspakete zu mobilisieren, um geopolitischen Einfluss auszuüben, sind die eigenen lokalen Preise nicht relevant. Chinas rasant gewachsenes BIP hat es dem Land ermöglicht, enorme Summen in seine Neue Seidenstraße zu investieren. Für die ökonomisch geschrumpfte EU wäre ein solcher Kraftakt bereits schwer vorstellbar.

Auch militärische Macht, zumindest was die Ausrüstung betrifft, wird größtenteils auf dem internationalen Markt gekauft. Wer mehr Geld hat, kann sich mehr Panzer leisten – wiederum unabhängig vom eigenen Preisniveau. 

Wie erwähnt geht das Wachstumsgefälle zwischen den USA und der EU zu einem großen Teil auf den starken Anstieg der Erwerbsbevölkerung in den USA zurück. Amerika hat also kein geheimes Wachstumsrezept gefunden, über das die EU nicht verfügt. Aber gleichzeitig sind der größere US-Arbeitsmarkt und der daraus resultierende Anstieg des nationalen Wohlstands auch eine Quelle für mehr geopolitische Macht.

Keine Tech-Giganten aus Europa

In der modernen Welt scheint der technologische Einfluss aber ebenso von Bedeutung zu sein wie der wirtschaftliche, wenn auch etwas schwieriger zu definieren. Es geht dabei nicht nur um die Fähigkeit zu technischen Innovationen. Die Erfindung neuer Technologien ist sicher wichtig, aber gute Innovationen verbreiten sich heutzutage sehr schnell über Landesgrenzen hinweg, selbst wenn das geistige Eigentum geschützt ist. Aus einer Machtperspektive betrachtet, scheint es einen wichtigeren Punkt zu geben als die schiere Zahl an Erfindungen: die Fähigkeit, neue Technologien für die nationale Wirtschaft und das Militär zu nutzen. Die technologische Macht eines Landes hängt also mindestens so sehr oder sogar noch mehr von seinem Finanzsystem, den geltenden Regulierungen und der wirtschaftlichen Freiheit ab wie von der reinen Innovationsfähigkeit.

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Zahlen & Fakten

In diesem breiteren Sinne hat die technologische Dominanz der USA und Chinas gegenüber Europa ebenfalls stark zugenommen. Die großen US-Technologieunternehmen – die „Big Five“ Alphabet (Google), Amazon, Apple, Meta (Facebook, Instagram) und Microsoft – sind heute nahe daran, die Technologielandschaft in Europa ebenso zu dominieren wie jene in den USA. 

In China ist auch eine Reihe von Tech-Giganten entstanden, die global zwar weniger erfolgreich sind als die US-Konzerne, aber den chinesischen Markt beherrschen und dem Rest der Welt ein wettbewerbsfähiges Angebot machen können. Die Europäer haben keine vergleichbaren Unternehmen entwickelt. Wie Gideon Rachman von der „Financial Times“ feststellt, „sind die größten Technologieunternehmen der Welt, gemessen an der Marktkapitalisierung, alle amerikanisch. Es gibt nur zwei europäische Unternehmen unter den Top 20 – ASML und SAP.“

Anstatt ebenfalls nationale Champions zu schaffen, versuchen die Europäer, sich mithilfe von Regulierung und Wettbewerbspolitik gegen die Vorherrschaft der USA zu wehren. Wie die finnisch-amerikanische Rechtswissenschaftlerin Anu Bradford in ihrem neuen Buch „Digital Empires“ erörtert, kann diese Art von „Regulierungsmacht“ erfolgreich sein, wenn es darum geht, US-Unternehmen zu mehr europäischen Konzepten des Datenschutzes und des fairen Wettbewerbs zu bewegen. Aber es wird auf diese Art nicht gelingen, europäische Mitbewerber zu schaffen, die im Rennen um die technologische Macht mitspielen können. 

Brüssel ist zu zaghaft

Die Europäer scheinen auch nicht mit der neuen strategischen Industriepolitik für Schlüsseltechnologien Schritt halten zu können, die in China und den USA entstanden ist. Der US Chips Act zum Beispiel ahmt bewusst die chinesischen Bemühungen nach, mit staatlichen Subventionen und Exportkontrollen die Halbleiterindustrie in den USA massiv auszubauen. Politiker in den Vereinigten Staaten sehen die Halbleiterindustrie als Schlüssel für zukünftiges Wachstum und die Kontrolle dieser Produkte als bedeutsam für die Aufrechterhaltung eines qualitativen militärischen Vorsprungs.

Wenn die USA und China mit ihrer Industriepolitik Schlüsseltechnologien der Zukunft erobern, fällt Europa noch weiter zurück.

Die Europäische Kommission hat einige zaghafte Schritte unternommen, um diese Politik nachzuahmen, aber offenbar wird sie durch starre Vorschriften für staatliche Beihilfen und die Uneinigkeit der Mitgliedstaaten behindert. Wenn es der strategischen Industriepolitik in den USA und in China gelingt, sich die Schlüsseltechnologien der Zukunft – wie zum Beispiel die künstliche Intelligenz – zu sichern, werden die Europäer im geopolitischen Wettbewerb noch weiter zurückfallen.

Wo bleibt die Zeitenwende?

Seit 2008 haben die Europäer auch einen dramatischen Verlust an militärischer Macht gegenüber den USA, China und Russland erlitten. Der Anstieg der europäischen Militärausgaben nach der russischen Invasion in der Ukraine 2014 verschleiert diesen Trend manchmal. Aber man muss diese Investitionen in Relation sehen: Europas Militärausgaben haben deutlich weniger stark zugelegt als jene der USA, Russlands und Chinas, weshalb Europa weiter zurückfiel. Zwischen 2008 und 2022 stiegen die Militärausgaben der USA von 656 Milliarden Dollar auf 877 Milliarden Dollar, jene Chinas von 79 Milliarden Dollar auf 292 Milliarden Dollar und jene Russlands von 56 Milliarden Dollar auf 86 Milliarden Dollar. Im gleichen Zeitraum stiegen die der EU-27 und Großbritanniens nur von 303 Milliarden auf 328 Milliarden Dollar.

Dazu kommt, dass die EU kein Nationalstaat ist, sondern 27 separate Militärapparate finanziert werden, sodass diese Zahlen die Fähigkeiten der EU wahrscheinlich überbewerten. Die Europäer arbeiten bei den Ausgaben für ihr Militärbudget kaum zusammen – das System bleibt also ineffizient. Die EU-Mitgliedstaaten haben die 2017 eingegangene Verpflichtung, mindestens 35 Prozent ihres Budgets für militärische Ausrüstung in Kooperation auszugeben, nicht erfüllt. Im Jahr 2020 waren es nur 11 Prozent. Auch die Investitionsausgaben sind weitaus geringer als die ihrer Konkurrenten. Die USA geben siebenmal mehr für neue Verteidigungstechnologien aus als alle EU-Mitgliedstaaten zusammen.

Macht durch Zusammenhalt

Schließlich, und das ist wohl das Wichtigste, leidet Europa unter wachsenden Spannungen zwischen den Mitgliedsländern. Im Jahr 2008 schien die EU kurz davor zu stehen, eine gemeinsame Außenpolitik zu schmieden und die enorme Stärke der damals größten Volkswirtschaft der Welt zu nutzen. Stattdessen hat die Finanzkrise einen Keil zwischen den Norden und den Süden getrieben, die Migrations- und die Ukraine-Krise haben Ost und West entzweit, und der Brexit hat Großbritannien von allen anderen getrennt. Die Institutionen der Europäischen Union schaffen es nicht, diese gewaltigen Unterschiede in einer gemeinsamen Außenpolitik zu überbrücken. 

Alles in allem ist die EU immer weniger in der Lage, mit einer Stimme zu sprechen. Ein extremes Beispiel für die Dissonanzen und Alleingänge einzelner Länder war im Dezember 2023 zu beobachten, als Ungarn auf der Tagung des Europäischen Rates ein wichtiges Hilfspaket für die Ukraine blockierte.

Spaltung verstärkt

Die meisten anderen Meinungsverschiedenheiten werden weniger öffentlich ausgetragen, gehen deshalb aber nicht weniger tief. Die EU ist in vielen außenpolitischen Fragen uneinig – vom Umgang mit Marokko über den Krieg in Gaza bis zu den geopolitischen Machtspielen Chinas. Das schränkt die Wirksamkeit der europäischen Diplomatie natürlich dramatisch ein.

Die Europäer werden sich von ihrer Überzeugung lösen müssen, dass ihre Normen weltweit den Ton angeben.

Klarerweise sind alle diese Maßstäbe für Macht recht grob. Geopolitischer Einfluss speist sich auch noch aus vielen anderen und komplexeren Quellen, die vom kulturellen Einfluss bis zur Kontrolle wichtiger Rohstoffe reichen. Die Gründungsidee der Europäischen Union bestand in gewisser Weise darin, dass die Welt über solche Machtspiele hinausgewachsen sei. Insbesondere nach 1989 vertrat die Union ein neues Modell internationaler Beziehungen, in dem Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Moral an die Stelle von militärischen, wirtschaftlichen oder technologischen Machtdemonstrationen treten sollte.

Leider hat sich die Welt in den letzten Jahren von diesem Ideal deutlich entfernt. Die alten, groben Machtmittel zählen jetzt wieder. Auch Europa hat das natürlich registriert: Als Ursula von der Leyen 2019 den Vorsitz der Europäischen Kommission übernahm, beschloss sie, den Abwärtstrend umzukehren, indem sie die sogenannte „geopolitische Kommission“ ins Leben rief. Die Europäer werden sich von ihrer Überzeugung lösen müssen, dass europäische Normen und Moralvorstellungen weltweit den Ton angeben, und zu akzeptieren haben, dass es in den internationalen Beziehungen nach wie vor auch darum geht, die Muskeln spielen zu lassen.

Taten statt Worte

So wichtig dieses Umdenken wäre, es wird nicht ausreichen. Die Europäer müssen auch etwas tun, um ihre Machtpositionen wenigstens teilweise wieder zurückzubekommen. In den vergangenen fünfzehn Jahren hat Europa viel von seinem geopolitischen Einfluss verloren. Wenn die EU-Mitglieder diesen Verlust rückgängig machen wollen, müssen sie aufhören, sich hinter Scheindebatten über Regulierungen und Kaufkraftparitäten zu verstecken, und sich stattdessen auf das wirklich Wichtige konzentrieren: militärische Macht, wirtschaftliche Macht, technologische Macht und vor allem Kohäsionsmacht.

Kommt Europa hier nicht endlich in die Gänge, wird sich sein geopolitischer Abstieg fortsetzen. Und auf künftigen Doha-Foren oder bei anderen wichtigen Zusammenkünften auf internationaler Ebene wird dann tatsächlich niemand mehr so tun, als müsste man auf die Europäer hören. 

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Conclusio

Der Gaza-Krieg hat einmal mehr Europas mangelnde geopolitische Präsenz verdeutlicht. Trotz der geografischen Nähe und strategischer Interessen im Nahen Osten spielen die EU-Staaten keine nennenswerte Rolle. Der alte Kontinent hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich an geopolitischer Macht eingebüßt. Verantwortlich dafür sind der schrumpfende Anteil an der Weltwirtschaft, eine verschlafene Tech-Branche und zu wenig militärische Power. Dagegen führte der Aufstieg Chinas kaum dazu, dass die US-Wirtschaft an Gewicht verlor: Nach wie vor wird jeder vierte Dollar in den USA erwirtschaftet. Zu lange vertraute Brüssel darauf, mit Werten und Normen international den Ton anzugeben. Europa muss sich jetzt auf den Kern der Machtpolitik besinnen: eine innovative Wirtschaft und ein schlagkräftiges Militär.

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