Das triste Erbe von Merkel und Putin

Wladimir Putin und Angela Merkel haben verblüffend ähnliche Biografien und prägten die europäische Politik über Jahrzehnte. Deutschland und Russland leiden heute auf ganz unterschiedliche Weise unter ihrem Wirken.

Angela Merkel und Wladimir Putin schütteln sich die Hände bei einem Treffen 2005 in Berlin.
Angela Merkel und Wladimir Putin bei einem Treffen 2005 in Berlin. Die beiden Politiker haben sich ungewollt ergänzt. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Abhängigkeit. In Zuge der deutschen Ostpolitik wurde Russland zum neuen Partner vor allem auf dem Gebiet der Energieversorgung.
  • Neuanfang. Unter Putin strebte Russland nach alter Größe, Merkels Politik hielt ihm dabei den Rücken frei.
  • Abgerüstet. Während Russland mehrere Kriege führte, rüstete Deutschland ab und steht nun vor großen militärischen Herausforderungen.
  • Kontrast. Während sich Putin mit der Invasion der Ukraine ins Eck manövriert, hat Merkel die Weltbühne in Ehren verlassen können.

Mehr als dreißig Jahre lang, vom Zerfall der Sowjetunion bis zum russischen Überfall auf die Ukraine, herrschte in Europa ein „unechter Friede“. Das wiedervereinte Deutschland und der amputierte Nachfolgestaat der Sowjetunion erlebten diese Zeit vollkommen unterschiedlich: Der eine wurde geheilt, der andere geteilt; in einem Land herrschte Euphorie, im anderen Frustration; der eine rüstete ab, der andere auf. Und doch hatten die beiden Länder eines gemeinsam: Die wesentlichen Protagonisten dieser unechten Friedenszeit waren zwei ehemalige Untertanen des Sowjetimperiums.

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Angela Merkel und Wladimir Putin haben diese Phase maßgeblich geprägt und einander dabei ungewollt ergänzt. Nun leiden beide Länder, jedes auf seine Art, unter dem von ihren politischen Führern angerichteten Schlamassel.

Nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 und der Wiedervereinigung im Jahr darauf glaubten die Deutschen, der Kalte Krieg sei ein für alle Mal vorbei. Statt an der Kriegsfront fühlte man sich nun „von Freunden umzingelt“. Hatte Deutschland in den 1960er-Jahren zeitweise noch über vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgegeben, sanken die Wehrausgaben nun unter eineinhalb Prozent. Die „Friedensdividende“ wurde zum Ausbau des Wohlfahrtsstaats genutzt. In der Europapolitik gab man Frankreich nach und ließ sich die geliebte D-Mark zugunsten einer europäischen Einheitswährung abringen.

Billige Energie für Merkel

In der Ostpolitik wurde Russland zum neuen Partner vor allem auf dem Gebiet der Energieversorgung. Billige Energie und eine schwächere Währung als die D-Mark waren die Steroide, mit denen Deutschland über viele Jahre seinen Titel als „Exportweltmeister“ verteidigte. Galt Helmut Kohl als „Kanzler der deutschen Wiedervereinigung“, so wurde Angela Merkel zur Hüterin des unechten Friedens. Sie verabreichte den Deutschen Beruhigungspillen, die eine durch ihre Geschichte neurotisierte und vom Wohlstand feiste Nation begierig schluckte.

Sehr viel schlechter lief es im Osten: Nach der langen Zeit des Terrors unter Josef Stalin und dem wirtschaftlichen Siechtum unter seinen Nachfolgern zeichnete sich in den 1980er-Jahren ab, dass der Sowjetkommunismus ökonomisch am Ende war. Reformversuche unter Michail Gorbatschow schlugen fehl, und das Sowjetimperium fiel Anfang der 1990er-Jahre auseinander.

Putins Phantomschmerz

Anders als bei früheren Großreichen war der Zerfallsprozess zunächst erstaunlich friedlich. Doch in seinem russischen Zentrum kam es zu erheblichen wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen. Kriegerische Konflikte zwischen dem Zentrum und der abtrünnigen Peripherie nahmen zu. Die Amputationen am Körper des Sowjetreichs verursachten einen Phantomschmerz, und der Wunsch nach Heilung durch eine Wiedergeburt des Imperiums wurde übermächtig. Boris Jelzin stand für die Verwerfungen, Wladimir Putin verkörperte den Neuanfang und das Streben nach alter Größe.

Merkel verabreichte den Deutschen Beruhigungspillen, die die neurotisierte Nation begierig schluckte.

Keine anderen Politiker haben die Zeit des unechten Friedens so geprägt wie Putin und Merkel – die auf verblüffend ähnliche Biografien zurückblicken: Putin wurde 1952, Merkel 1954 geboren, beide wuchsen hinter dem Eisernen Vorhang auf. Sie lernte, sich zu ihrem Vorteil den Verhältnissen in der DDR wie ein Chamäleon anzupassen. Er trainierte als Leningrader Straßenkämpfer seine Fähigkeiten, wie ein Wolf Beute zu machen.

DDR als Bindeglied

Beide begannen im Sowjetimperium ihre beruflichen Karrieren, sie als Physikerin, er als Geheimdienstagent. Und beide erlebten den Zusammenbruch des Imperiums in der DDR, sie in Ostberlin, er in Dresden. Sowohl Merkel als auch Putin gingen 1990 in die Politik, er als Beauftragter für Außenbeziehungen des Stadtrats von Leningrad, sie als Pressesprecherin für die ostdeutsche Partei Demokratischer Aufbruch. Einige glückliche Wendungen später kamen beide im Jahr 2000 in den Chefetagen der Politik an, Merkel als Vorsitzende der damaligen Oppositionspartei CDU, Putin als russischer Präsident.

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Zahlen & Fakten

Beide waren als Krisenmanager gefordert. Merkel schlug sich mit der Finanzkrise von 2007/08, der Eurokrise von 2010/2012, der Atomenergiekrise von 2011, der Flüchtlingskrise von 2015/16 und der Ukrainekrise seit 2014 herum. Ihre Strategie dabei war die Verschleppung von Problemen, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Merkel wurde als Politikerin populär, weil sie alles tat, um ihre Wähler möglichst vor Zumutungen und Lebensrisiken zu schützen.

Abhängigkeit unter Merkel

Dafür schuf sie einen fürsorglichen Versicherungsstaat; ließ den Umbau der Europäischen Union zu einer Haftungsunion zu; beschloss den vorgezogenen Ausstieg aus der Kernenergie, nachdem sie die Laufzeit der Kraftwerke zunächst verlängert hatte; versuchte, die Zuwanderung mit Zahlungen an die Türkei zu verringern, nachdem sie zuvor die Grenzen für alle geöffnet hatte; und sie beschwichtigte Putin, obwohl sie wusste, wie sie später einräumte, dass diesem nicht zu trauen war.

Unter ihrer Regie konnten kurzsichtige und eigennützige SPD-Politiker Deutschland in die Energieabhängigkeit von Russland führen. Merkel selbst trieb die Abhängigkeit der deutschen Industrie von China voran.

Putins imperiale Ambitionen

Putin verbündete sich schon in seiner Anfangszeit als Politiker in Sankt Petersburg nach Geheimdienstmanier mit dem organisierten Verbrechen, um seine politischen und wirtschaftlichen Ziele zu verfolgen. Als Präsident befriedigte er das Verlangen der Russen nach wirtschaftlicher Stabilität und Wiederherstellung des Nationalstolzes, indem er die Oligarchen unter seine Kontrolle brachte und Sezessionsbestrebungen in der russischen Föderation blutig bekämpfte.

Putin führte Kriege in Tschetschenien, Georgien, Syrien und schließlich in der Ukraine. Seine Wirtschaftspolitik steigerte anfangs den Wohlstand der Russen. Doch dann wurde sein Drang zur Wiederherstellung eines russischen Imperiums übermächtig. Seither geht es für alle bergab.

Als der Merkel-Nachfolger Olaf Scholz drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine die „Zeitenwende“ ausrief, räumte er nicht nur sechzehn Jahre merkelscher Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch die seit Willy Brandts Ostpolitik bestehende Affinität seiner Partei, der SPD, zu Russland rhetorisch ab. Doch den Reden folgten nur zögerlich Taten. Zu tief verwurzelt war in der SPD die Kumpanei mit Russland, und zu dysfunktional war der in der Merkel-Zeit heruntergewirtschaftete Staat.

Merkels kriegsunfähige Bundesheer

Auch heute, gut ein Jahr nach der „Zeitenwende“, bleibt die Bundeswehr kriegsunfähig, die Staatsbürokratie mit ihren Faxgeräten und Büroklammern im vordigitalen Zeitalter gefangen und der fettleibige Politikbetrieb bräsig und selbstreferentiell. Weil der Westen zusammenrückte, kann sich das post-merkelsche Deutschland jedoch unter den Rockschößen seiner Verbündeten verstecken.

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Zahlen & Fakten

Fehlkalkulation

Für Russland ist Putins Krieg eine Katastrophe. Die Ukrainer zeigen sich mutiger und der Westen geeinter als erwartet. Die russische Armee erweist sich als Koloss auf tönernen Füßen. Putins Antwort auf das Scheitern seiner Pläne waren harte Repression und die Brutalisierung der Kriegsführung. Systematische Kriegsverbrechen und Drohungen mit Atomwaffen ließen sogar das verbündete China auf Distanz gehen.

Russland ist auf dem Weg zu einem Schurkenstaat nach nordkoreanischem Muster.

Die Zukunftsaussichten könnten für Russland kaum düsterer sein: Es ist auf dem Weg zu einem Schurkenstaat nach nordkoreanischem Muster. Wladimir Putin ist als Politiker für alle Zeiten diskreditiert. Angela Merkel hat das bessere Ende für sich: Sie genießt in allen Ehren ihren Ruhestand.

Das Buch von Thomas Mayer, Russlands Werk und Deutschlands Beitrag, ist am 23. Februar 2023 im EcoWing Verlag erschienen.

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Conclusio

Angela Merkel und Wladimir Putin sind fast gleich alt, wuchsen beide im Sowjetimperium auf und lebten in der DDR, als die Mauer fiel. Ihre politischen Karrieren begannen beide im selben Jahr, nämlich 1990. Auch in den Chefetagen der Politik kamen sie zeitgleich an: Merkel wurde im Jahr 2000 CDU-Vorsitzende, Putin russischer Präsident. Ungewollt ergänzten sie einander. Merkel tat alles, um die Deutschen vor jeglichen Zumutungen und Risiken zu schützen. Putin gelang es anfangs, den Wohlstand der Russen zu vergrößern. Doch dann wurde sein imperialistischer Drang übermächtig. Merkel und Putin waren die prägenden Figuren einer Zeit des unechten Friedens in Europa. Deutschland und Russland leiden heute auf ganz unterschiedliche Weise unter dem einstigen und heutigen Wirken dieser zwei Politiker.