Die Gefahren des Metaverse

Beim Internet ging alles ganz schnell – und jetzt sind wir mit Desinformation und Hass im Netz konfrontiert. Das Metaverse sollten wir von Anfang an zu einem besseren Ort machen.

Beijing, 2016: Ein Junge fährt mittels virtueller Realität Achterbahn
Beijing, 2016: Ein Junge fährt mittels virtueller Realität Achterbahn. VR floriert in China längst als eine Form der Mainstream-Unterhaltung: Im ganzen Land gibt es VR-Arkaden, Kiosks, Cafés und „Erlebnisräume“, die zum Preis einer Kinokarte VR-Erlebnisse anbieten. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Warnsignal Internet. Das Internet hat unsere Leben komplett neugestaltet, uns aber auch eine Welle der Online-Radikalisierung gebracht.
  • Virtuelle Gemeinschaften. Das Metaverse wird von seinen Nutzern bevölkert – die sich auch dort so verhalten werden, wie sie es jetzt im Internet tun.
  • Gefahrenquelle. Mobbing, Hass und Frauenfeindlichkeit könnten im Metaverse noch stärker traumatisieren, weil es so immersiv sein wird.
  • Input liefern. Wenn wir es als Bürger schaffen, Input für das Metaverse zu liefern, können wir die Fehler der Vergangenheit vermeiden.

Das Metaverse ist im Begriff, unser Leben zu revolutionieren, ob wir wollen oder nicht. Und auch wenn es beruhigend sein mag, dass mächtige Tech-Giganten euphorisch versprechen, es wäre zum Nutzen der Gesellschaft – sollten wir uns vielleicht doch davor fürchten?

In den letzten fünf Jahrzehnten hat der rasante Aufstieg des Internets unser Leben mit einer Reihe beunruhigender Probleme belastet – von Cyberangriffen über Desinformation bis hin zu Online-Radikalisierung und Hass. Diesmal jedoch, wo wir mit dem mit Spannung erwarteten Metaverse an der Schwelle zu etwas Unglaublichem stehen, bietet sich eine Gelegenheit für einen integrativen Ansatz, bei dem die Zivilgesellschaft mit Technologieunternehmen und Regierungen zusammenarbeiten kann, um es zu einem sicheren Ort zu machen.

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Teil eines ungeplanten Experiments

Bereits 1993 schlug der Autor Howard Rheingold vor, dass die Bürgerinnen und Bürger ein Mitspracherecht bei der Gestaltung virtueller Welten haben sollten, da diese zu beliebten Räumen für menschliche Interaktion wurden. Er glaubte, dass Bürger ein Verständnis dafür haben, wie computervermittelte Kommunikation, der Cyberspace und virtuelle Gemeinschaften dazu beitragen, Menschen, Communitys und Demokratien zu verändern.

Dieses Verständnis könne zu einem tieferen Dialog für die digitale Zukunft im Netz beitragen – einem Raum, der Gefahr lief, von großen kommerziellen und politischen Machthabern dominiert zu werden. Aber es passierte so viel und so schnell – es war schwer, mit dem Wandel Schritt zu halten. Es war nicht möglich, viele der aufkommenden Probleme vorherzusehen. Aber jetzt, vierzig Jahre später, sind wir älter und weiser. 

Wir sind Teilnehmer eines sozialen Experiments geworden, „das niemand geplant hat, das aber dennoch stattfindet“.

Rheingold sagte damals, dass wir durch unser Engagement in virtuellen Welten zu Teilnehmern eines sozialen Experiments geworden sind, das „niemand geplant hat, das aber dennoch stattfindet“. Wir mögen zwar immer noch Teil dieses sozialen Experiments sein, aber nachdem wir die digitale Revolution in ihrem Anfangsstadium miterlebt haben, sind wir nun besser in der Lage, kritisch über unsere Zukunft nachzudenken. Daher sollten die Entwickler bei der Planung einer Vision des Metaverse den dringend benötigten Dialog mit den Bürgern führen.

Das Virtuelle als Einheit

Derzeit liegt die Zukunft dieser dreidimensionalen digitalen Parallelwelt, in der Virtualität und Realität miteinander verschmelzen, in den Händen von Technologieunternehmen und ihren Designern. Ihr Ziel ist es, ein Gefühl zu schaffen, in dem das Physische und das Virtuelle als Einheit erlebt werden, in dem mehrere Nutzer gleichzeitig interagieren können und das daher realer erscheint als die derzeitigen Systeme der virtuellen oder erweiterten Realität. Um sich mühelos in einem „Netzwerk von in Echtzeit gerenderten virtuellen 3D-Welten“ bewegen zu können, ist Interoperabilität erforderlich.

San Francisco, 2022: Ein Handy-Screenshot eines von Ray Kallmeyer geschaffenen NFT, betrachtet durch die App Enklu, auf der immersiven NFT-Ausstellung Verse
San Francisco, 2022: Ein Handy-Screenshot eines von Ray Kallmeyer geschaffenen NFT, betrachtet durch die App Enklu, auf der immersiven NFT-Ausstellung Verse. Die Ausstellung bot Besuchern die Möglichkeit, Zeit im Metaverse zu verbringen und NFTs sowohl auf ihren Telefonen als auch mit der Microsoft HoloLens 2 zu betrachten. © Getty Images

Das bedeutet, dass Zahlungs- und Währungssysteme und digitale Vermögenswerte wie NFTs (non-fungible tokens) sowie die eigene Identität überallhin mitgenommen werden können – das Metaverse ist nicht nur ein Ort. Simon Milner, Vizepräsident für öffentliche Politik in Asien und im Pazifik bei Meta (ehemals Facebook), versichert auch, dass das Metaverse durch einen Prozess der „Dezentralisierung“ nicht „von einem einzelnen Unternehmen wie Facebook oder Instagram geschaffen oder besessen“ wird und „kein einzelnes Produkt oder ein Stück Hardware wie das iPhone“ umfasst. In der Zwischenzeit wächst die Begeisterung über die unendlichen Möglichkeiten für Bildung, Wirtschaft, Gesundheit und Unterhaltung, die angepriesen werden.

Fokus auf Profit

Dennoch ist der Enthusiasmus von Tech-Giganten wie Meta, Google und Microsoft sowie von Investoren, die sich auf den nächsten großen Sprung in der digitalen Revolution stürzen, ein wenig beunruhigend. Vor allem, wenn Begriffe wie „der neue Trend der industriellen Digitalisierung“ und „Multi-Milliarden-Dollar-Industrie“ den intensiven Fokus auf wirtschaftlichen Profit unterstreichen.

Ziel von Online-Missbrauch wie Frauenfeindlichkeit und Hassreden in der vollen Realität des Metaverse zu werden, ist eine beängstigende Vorstellung.

Die Entwicklung des Metaverse ist noch nicht abgeschlossen (manche sagen, dass es noch fünf, andere 15 Jahre dauern wird), und obwohl die Technologieunternehmen mit Branchenexperten und Beratern zusammenarbeiten, um es richtig hinzubekommen, ist es noch nicht zu spät, dass auch die Bürger ein Wörtchen mitreden.  Als künftige Teilnehmer am Metaverse können die Bürger nicht nur kreative Ideen beisteuern, sondern auch auf potenzielle Gefahren hinweisen oder Hinweise geben, wie man ihnen begegnen könnte.

Es wurden bereits Bedenken geäußert, dass das Metaverse als eine erweiterte Version des Cyberspace den Weg für einen aufdringlicheren Überwachungskapitalismus ebnet, insbesondere wenn sogar Daten wie unsere Augenbewegungen und Körpersprache verfolgt und gesammelt werden können. Das Metaverse kann auch bestehende negative Verhaltensweisen wie Identitätsdiebstahl, Betrug, Fake News, Desinformation und Deepfakes verstärken und ein neues Terrain für Radikalisierung, Extremismus, Verschwörungspanik oder illegale Aktivitäten im Dark Web bieten.

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Zahlen & Fakten

Stuttgart, Juli 2022: Der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) hielt zum Fachtag des Digitalisierungsministeriums eine Rede über Hass im Netz.
Stuttgart, Juli 2022: Der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) hielt zum Fachtag des Digitalisierungsministeriums eine Rede über Hass im Netz. © Getty Images

Die vielen Gesichter der Cybergewalt

  • Noch gibt es keine offizielle Definition von Cybergewalt. Cybergewalt kann verschiedene Arten von Belästigung, Verletzung der Privatsphäre, sexuellem Missbrauch und sexueller Ausbeutung sowie Vorurteile gegenüber sozialen Gruppen oder Gemeinschaften beinhalten.
  • Online-Drohungen können auch in physische Gewalt übergehen, entweder durch direkte Übergriffe des Gewalttätigen oder durch die Selbstverletzung von Opfern.
  • Cyber-Belästigung richtet sich überdurchschnittlich häufig gegen Frauen und Mädchen und umfasst sexuelle Belästigung, Vergewaltigungsdrohungen und Rache-Pornografie.
  • Bei einer Studie zu Gewalt im Netz gegen Frauen und Mädchen in Österreich 2018 gaben 64 Prozent der Mädchen zwischen 15-18 Jahren an, im Vorjahr von Gewalt im Netz betroffen gewesen zu sein.
  • Kinder stellen eine weitere Hauptgruppe von Opfern der Cybergewalt dar, insbesondere im Hinblick auf Kinderprostitution und Kinderpornografie.
  • Rassistische, fremdenfeindliche, homophobe, transphobe und andere Cybergewalt, die sich gegen bestimmte Gruppen richtet, kann schwerwiegende Folgen für Einzelpersonen und Gesellschaften haben und zu kommunaler Gewalt und der Destabilisierung ganzer Gesellschaften führen.

Ziel von Online-Missbrauch wie Frauenfeindlichkeit, Hassreden und Mobbing in der vollen Realität des Metaverse zu werden, ist eine beängstigende Vorstellung, wenn man bedenkt, dass die Auswirkungen solcher Verhaltensweisen in den sozialen Medien nachweislich ähnlich traumatisch sind wie Erfahrungen im wirklichen Leben.

Missbrauchsopfer in die Diskussion einbinden

Auch die digitale Kluft könnte sich im Metaverse in Bezug auf Konnektivität, Zugänglichkeit und digitale Kompetenz vergrößern. Wenn wir eine weitere Ebene der Besorgnis über die potenziellen psychologischen und emotionalen Auswirkungen des Eintauchens in das Metaverse freilegen, könnten wir uns fragen, wie es sich auf unseren Realitätssinn und unsere persönliche Identität. Wie werden zukünftige Generationen damit umgehen? Werden unsere Kinder mehr Zeit im Metaverse verbringen als im Freien zu spielen und die physische Welt zu erkunden?

Teheran, April 2023: Zwei Frauen sehen sich während ihres Besuchs der Internationalen Koranmesse simulierte 3D-Filme von der Pilgerstadt Karbala und von Imam Hussein, einem Enkel des Propheten Mohammed, der im 7. Jahrhundert gelebt hat, an.
Teheran, April 2023: Zwei Frauen sehen sich während ihres Besuchs der Internationalen Koranmesse simulierte 3D-Filme von der Pilgerstadt Karbala und Imam Hussein, einem Enkel des Propheten Mohammed, der im 7. Jahrhundert gelebt hat, an. © Getty Images

Bei der Planung dieser schönen neuen Welt ist der Input verschiedener Gruppen erforderlich. Menschen mit Behinderungen könnten beispielsweise bereits in der Entwurfsphase einen Beitrag leisten und so den Unternehmen Zeit sparen, die sie für die nachträgliche Behebung von Problemen mit der Zugänglichkeit aufwenden müssen. Diejenigen Gruppen, die Online-Diskriminierung oder Missbrauch erfahren haben – zum Beispiel LGBTQIA+, religiöse und ethnische Gemeinschaften – oder diejenigen, die über soziale Ungleichheiten oder Meinungsfreiheit besorgt sind, können ebenfalls Perspektiven zum Umgang mit Inhalten beitragen.

Wir können es uns nicht leisten, abzuwarten

Akademiker und Forschungseinrichtungen verfügen über eine Fülle von Erkenntnissen aus verschiedenen Projekten. In Bezug auf die Regulierung müssen kritische Fragen gestellt werden. Wer wird zuständig sein? Lässt sich die derzeitige Gesetzgebung problemlos auf das Metaverse übertragen? Wenn es neue Gesetze für das Metaverse gibt, sind sie fair? Sind sie praktikabel? Die Europäische Union als „globale digitale Regulierungsbehörde“ kämpft zum Beispiel mit der Durchsetzung von Gesetzen zum Schutz der Privatsphäre und des Datenschutzes im aktuellen Umfeld. Es gibt eine Menge zu bedenken.

Experten sind sich uneins darüber, ob das Metaverse bis 2040 ein funktionaler Teil unseres täglichen Lebens sein wird. Aber wir können es uns nicht leisten, die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten, was dabei herauskommt. Es mag ehrgeizig sein, von Technologieunternehmen, Investoren und Regierungen zu verlangen, dass sie die Bürgerinnen und Bürger einbeziehen, wenn es darum geht, Mensch und Technologie gründlich zu betrachten und tiefgreifende strategische und ethische Überlegungen über eine einheitliche Vision anzustellen, die der Gesellschaft wirklich zugute kommt. Wenn es jedoch gelingt, die Zusammenarbeit zwischen diesen verschiedenen Parteien von Anfang an zu fördern, könnte dies dem Metaverse den bestmöglichen Start verschaffen.

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Conclusio

Das Metaverse wird unser Leben revolutionieren – dabei wissen wir noch gar nicht, wie es genau aussehen wird. Gerade deshalb ist es für Bürgerinnen und Bürger aber jetzt schon essentiell, an der Entwicklung dieser neuen Welt beteiligt zu sein. Hass und Hetze, wie wir sie aus dem Internet und den Sozialen Medien kennen, dürfen nicht unreguliert im Metaverse gedeihen dürfen, denn die Folgen wären fatal: In einer vollsimulierten Welt Opfer von Hate Speech zu werden, wird zu noch traumatischeren Erfahrungen führen, als es aktuell der Fall ist. Es muss unser Anliegen sein, uns alle, aber besonders vulnerable Gruppen vor Diskriminierung und Missbrauch im Metaverse zu schützen.

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Social-Media-Konzerne wie Facebook gehen zwar aktuell strikter gegen Desinformation und Hassreden vor, vernachlässigen dabei aber die Mehrheit ihrer Nutzer: Alle, die nicht Englisch sprechen.

Illustration von Tarunima Prabkahar
ist Forschungsleiterin bei Tattle Civic Tech

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