Wie Putins Blitzkrieg-Traum scheiterte

Putins Plan war vermeintlich simpel: Kiew mit einem Schlag einnehmen und einen Regimewechsel herbeiführen. Statt weniger Tage dauert der Krieg nun schon sechs Monate – und beweist die Kurzsichtigkeit des Kremls.

Zerstörtes Flugzeug am Flughafen Hostomel
Ein ukrainischer Soldat vor dem Wrack der Mriya (ukrainisch: Traum), dem ehemals größten Frachtflugzeug der Welt, auf dem zerstörten Militärflughafen in Hostomel bei Kiew. Die ukrainische Armee eroberte das Gebiet im April 2022 zurück. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Gescheiterte Pläne. Russlands Ziel war es, durch einen schnellen, harten Schlag einen politischen Umsturz in der Ukraine herbeizuführen.
  • Historische Parallelen. Für diesen Plan gab es auch eine Art Vorbild: die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Sowjetunion im August 1968.
  • Pures Glück? Warum genau es der Ukraine möglich war, den Plan Russlands am ersten Invasionstag zu durchkreuzen, ist bislang noch unklar.
  • Fehlkalkulation. Eines steht aber fest: Putin hatte einen langwierigen Krieg in der Ukraine nicht mit einkalkuliert. Sein Scheitern kam für ihn als Überraschung.

In den frühen Morgenstunden des 24. Februar eröffnete Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine. Der erste konventionelle Krieg auf europäischem Boden seit dem 2. Weltkrieg war allerdings in dieser Form sehr wahrscheinlich nie geplant. Ginge es nach den Plänen Russlands, hätte die Entscheidung in einer „militärischen Spezialoperation“ nach Stunden beziehungsweise wenigen Tagen erzwungen werden sollen: Ein schneller, harter Schlag in das Herz der Ukraine, die Hauptstadt Kiew, hätte einen politischen Umsturz herbeiführen sollen.

Die Chronologie: Die ersten Schläge der russischen Streitkräfte erfolgten gegen 4 Uhr in der Früh. Circa 100 Kurz- und Mittelstreckenraketen, die von Flugzeugen, Schiffen und vom Boden aus gestartet wurden, trafen Ziele in der Ukraine. Die Ziele waren vor allem militärische Führungseinrichtungen sowie militärische und kritische Infrastrukturen. Die ukrainischen Streitkräfte, die politische Führung und die Gesellschaft sollten paralysiert und damit die Verteidigungsfähigkeit herabgesetzt werden. Kurze Zeit später setzen sich russische Panzerverbände entlang vierer Angriffsachsen, aus dem Norden, dem Nordosten, dem Osten und dem Süden in Bewegung. Das Schwergewicht des Angriffs lag auf der Angriffsachse aus dem Norden in Richtung der Hauptstadt Kiew.

Ein gescheiterter „Enthauptungsschlag“

Eliteverbände der russischen Luftlandetruppen (VDV) spielten in dieser Eröffnungsphase eine entscheidende Rolle: Vorgestaffelte Elemente dieser Luftlandetruppen erreichten am Morgen des 24. Februar gegen 09:30 Uhr den circa 20 Kilometer nordöstlich von Kiew gelegenen Flughafen Hostomel, auch als „Antonow-Flughafen“ bekannt. Eröffnet wurde diese Luftlandung durch Mi-35 „Hind“ und Ka-52 „Alligator“-Kampfhubschrauber, welche die Verteidigungsstellungen der Ukrainer angriffen. In der Folge landete ein Vorauskommando, vermutlich besetzt mit Soldaten der 31. Garde-Luftsturm-Brigade, mit Mi-8 „Hip“-Transporthubschraubern, um den Flughafen zu sichern.

In Kiew sollten strategisch wichtige Positionen besetzt und die politische Führung vernichtet oder gefangengenommen werden.

In Russland und Belarus standen große militärische Transportmaschinen bereit, um Verstärkungen einzufliegen. Innerhalb weniger Stunden wären mit diesen Transportmaschinen vermutlich etwa 4.000 russische Luftlandetruppen, einschließlich Kampfunterstützungselementen wie zum Beispiel Panzerabwehr-, Luftabwehr- und Pionierkräfte, eingeflogen worden. Deren Ziel war eindeutig: das Zentrum von Kiew. Dort sollten strategisch wichtige Positionen besetzt, die politische Führung vernichtet oder gefangengenommen und Radio- und Fernsehstationen übernommen werden. Mit diesem „Enthauptungsschlag“ sollte jeder Widerstand im Keim erstickt werden.

Parallelen zum „Prager Frühling“

Ein Rückblick: In der Nacht zum 21. August 1968 begann die militärische Operation „Dunja“ (Donau), die den sogenannten „Prager Frühling“ in der damaligen Tschechoslowakei beenden sollte. Aus den angrenzenden sowjetischen „Bruderstaaten“ marschierten etwa 400.000 Soldaten mit 6.500 Panzern, 5.000 gepanzerten Fahrzeugen, 2.000 Geschützen, etc. ein. Noch in der Nacht landete die 7. Sowjetische Luftlandedivision am Prager Flughafen Ruzyně. Als die Prager Bevölkerung in der Früh erwachte, war die politische Führung festgesetzt und die wesentlichen Radio- und Fernsehstationen durch Sowjetsoldaten übernommen.

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Zahlen & Fakten

1968: Ein Passant beobachtet, wie sowjetische Panzer die Straße in Prag entlangrollen
August 1968: Passanten in Prag sind mit dem Anblick sowjetischer Panzer in ihrer Stadt konfrontiert. © Getty Images

Der Prager Frühling – eine Tauwetter-Episode

  • Der Prager Frühling war eine Reformbewegung, die vom 5. Januar bis 21. August 1968 in der Tschechoslowakei stattfand.
  • Die Bewegung ist eng mit dem damaligen Ersten Parteisekretär der Tschechoslowakei, Alexander Dubček, verbunden: Ab April 1968 verfolgte er die Vision eines neuen Sozialismus „mit menschlichem Antlitz“.
  • Teil dieser Vision war eine Liberalisierung der Gesellschaft, die sich unter anderem in einer Lockerung der Pressezensur, einer Rehabilitation von Opfern der politischen Säuberungen der Stalin-Ära und Plänen zur stärkeren Verankerung von Bürgerrechten in der Verfassung und einer Demokratisierung der Regierung äußerte.
  • Dubček meinte, die Transformation des Landes kontrollieren zu können. Doch die Sowjetunion und vier Länder des Warschauer Pakts (Bulgarien, die DDR, Polen und Ungarn) werteten die Entwicklungen als gleichbedeutend mit einer Konterrevolution – und marschierten am Abend des 20. August 1968 in die Tschechoslowakei ein, um das Land vor „feindlichen Kräften zu retten“.
  • Mehr als 100 Menschen wurden getötet, als sie versuchten, den eingeschlagenen Reformkurs – der auf viel Unterstützung in der Gesellschaft gestoßen war – zu verteidigen. Selbst im Politbüro waren die Reformbefürworter zahlenmäßig so stark vertreten, dass kein Regimewechsel herbeigeführt werden konnte.
  • Die Staatsführung der Tschechoslowakei wurde stattdessen dazu gebracht, das Moskauer Protokoll zu unterzeichnen, welches die Haupterrungenschaften des Prager Frühlings rückgängig machte. Sowjetische Truppen blieben bis 1991 im Land.

Auch wenn es zu zahlreichen heroischen Akten des Widerstandes kam, war die Entscheidung bereits zu Gunsten der Sowjetführung gefallen. Innerhalb weniger Tage erreichten die Panzerverbände Prag und die anderen großen Städte. Die Führung der Tschechoslowakei wurde durch ein moskautreues Regime ersetzt. Nach Artikel 10 des Moskauer Protokolls vom 27. August 1968 diente die Intervention der Abwehr „militaristischer, revanchistischer und neonazistischer Bestrebungen“ in der Tschechoslowakei.

Zurück im Jahr 2022: Die Parallelen sind nicht zu übersehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die russische Führung einen ähnlichen Verlauf wie 1968 geplant hatte, mit Panzerspitzen aus allen geografischen Richtungen und einer schnellen Luftlandung in das kulturelle und politische Herz der Ukraine, um die Entscheidung zu erzwingen. Die Ukraine als angegriffener Staat hätte derart paralysiert werden sollen, dass sie die russischen Kriegsziele „Entnazifizierung“ und „Demilitarisierung“ der Ukraine akzeptierte.

Pures Glück oder eine Warnung des Westens?

Der Unterschied: Die russische Luftlandung auf den Flughafen Hostomel scheiterte. Die russischen Luftlandetruppen wurden durch die 4. Schnelle Brigade der ukrainischen Nationalgarde aus dem Bereich des Flughafens zurückgeschlagen. Der Flughafen befand sich gegen Mittag in ukrainischer Hand und die russischen Verbände mussten sich in die angrenzenden Wälder zurückziehen. An eine Landung der Verstärkungskräfte war nicht zu denken; zumindest 18 russische Il-76 Transportflugzeuge mussten auf dem Weg zum Flughafen Hostomel in der Luft umkehren.

Warum gerade die Elitetruppe der ukrainischen Nationalgarde im Bereich des Flughafens Hostomel eingesetzt war und die russischen Kräfte zurückschlagen konnte, wird die Geschichte beantworten. Entweder war es pures Glück, die Truppen nicht zur Sicherung des Hauptflughafens Boryspil einzusetzen, sondern auf diesem „Nebenflughafen“. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die ukrainischen Kräfte durch westliche Nachrichtendienste vor der Luftlandung in Hostomel gewarnt wurden und dementsprechend ihre besten Kräfte in diesem Raum stationiert hatten.

Das Blatt wendet sich für die Ukraine

Erst in den frühen Morgenstunden des 25. Februar wurden die Luftlandetruppen durch russische Panzerverbände verstärkt. Diese Verbände waren zum Großteil durch die verstrahlten Prypjatsümpfe, am havarierten Atomkraftwerk Tschernobyl vorbei, in Richtung Kiew vorgestoßen. Nach dem Prinzip „Tiefe vor Breite“, ohne Rücksicht auf Flankensicherung und Sicherung der Nachschubrouten, erreichten diese Verbände die Vororte von Kiew. Gemeinsam wurde der Flughafen Hostomel erneut durch russische Truppen eingenommen. Allerdings war das Momentum der Überraschung nicht mehr vorhanden: Die ukrainischen Verteidiger hatten 24 Stunden Zeit, um Verteidigungslinien aufzubauen und die Gesellschaft für die Verteidigung zu mobilisieren.

Nach 24 Stunden waren die russischen Operationspläne durch die ukrainischen Verteidiger vernichtet.

Militärstrategisch ergab sich damit ein sogenannter Kulminationspunkt. Das ist der Zeitpunkt, wenn der Angreifer mit den vorhandenen Kräften nicht mehr weiter angreifen kann und sich die Initiative zugunsten des Verteidigers wendet. Nach 24 Stunden waren diese russischen Operationspläne durch die ukrainischen Verteidiger vernichtet und damit die geplante „militärische Spezialoperation“ gescheitert.

Der Kreml in der Sackgasse

Die Folge: Die russischen Verbände befanden sich in einer misslichen Lage. Ihre Versorgungswege waren überdehnt und wurden von den Ukrainern in „Partisanenmanier“ angegriffen. Die russischen Planungen hatten keinen Widerstand erwartet und waren mit einem viel zu geringen Kräftedispositiv in den Krieg gezogen. Für eine konventionelle Eroberung wäre nach konservativen Schätzungen eine vier bis fünf Mal so große russische Streitmacht erforderlich gewesen. Bis Anfang April versuchten die russischen Streitkräfte dennoch Kiew zu erobern, allerdings erlitten sie dabei schwere Verluste.

Aus russischer Sicht blieben nur zwei Optionen: Entweder mehr Kräfte in den Kampf zu schicken oder die Kriegsziele anzupassen. Nachdem aus innenpolitischen Gründen eine Mobilisierung für Präsident Putin nicht in Frage kam, entschied sich die russische Führung für die zweite Option. Russische Kräfte wurden aus der nördlichen Ukraine abgezogen und in den Osten verschoben. Es begann eine neue Phase eines Krieges.

„Kein Operationsplan reicht mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen mit der feindlichen Hauptmacht hinaus,“ schrieb Generalfeldmarschall von Moltke (der Ältere), der spätere preußische Chef des Generalstabs, 1871 in seinem Traktat „Über Strategie“. Das gilt offenbar auch für den Kreml. Die russischen Operationsplanungen gingen von einem schnellen Sieg, innerhalb von Stunden bis Tagen, aus. Mit der gescheiterten Luftlandung in Hostomel scheiterte auch der russische Kriegsplan und die „militärische Spezialoperation“ für die Ukraine – und ein ungeplanter Krieg begann, dessen Ende nicht abzusehen ist.

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Conclusio

Russlands Krieg hätte eigentlich eine kurze Angelegenheit sein sollen – doch Putins Plan, Kiew innerhalb eines oder weniger Tage einzunehmen und eine Marionettenregierung einzusetzen, scheiterte. Das lag nicht nur am gelungenen Gegenmanöver der ukrainischen Armee am ersten Tag der Invasion, die einen schnellen Vorstoß der russischen Truppen vereitelte, sondern auch an Wolodymyr Selenskyj und dem ukrainischen Volk, die Putins groteskem Narrativ von der Nicht-Existenz der ukrainischen Nation Lügen straften. Neben kühner Geschichtsverzerrung bewies der Kreml in der Ukraine vor allem eines: militärische Kurzsichtigkeit. Wie Putins weiterer Plan aussieht (oder ob es überhaupt einen gibt) lässt sich nach derzeitigem Stand nicht abschätzen. Aber die Vision eines schnellen, problemlosen Umsturzes ist gescheitert – und das im Prinzip schon am ersten Tag der Invasion.