Der Niedergang der russischen Armee

Die Versuche der Putin-Ära, Russlands Streitkräfte zu modernisieren, sind gescheitert. Die katastrophalen Ereignisse in der Ukraine signalisieren gröbere Probleme für den Kreml.

Zerstörte russische Militärfahrzeuge in Butscha am Rande von Kiew.
Zerstörte russische Kriegsmaschinerie in Butscha bei Kiew. Das Massaker von Butscha, bei dem mehrere hundert Zivilisten durch russische Streitkräfte ermordet wurden, ist nur eines von vielen russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Heldenhafter Widerstand. Zu Beginn des Kriegs in der Ukraine wurde vielerorts ein schneller Sieg Russlands befürchtet. Das Gegenteil ist eingetreten.
  • Russlands Schwäche. Das russische Scheitern liegt nicht nur an der starken Gegenwehr der Ukrainer. Russlands Streitkräfte weisen eklatante Mängel auf.
  • Problem Korruption. Besonders die Kriegsmaschinerie ist großteils in einem maroden Zustand – weil russische Beamte in die eigene Tasche gewirtschaftet haben.
  • Geopolitische Risiken. Putins Außenpolitik hat zu diversen eingefrorenen Konflikten vor der eigenen Haustür geführt. Diese könnten nun wieder aufflammen.

Im Krieg gegen die Ukraine setzt Russland zurzeit alles daran, einen Sieg über die Ukraine im östlichen Donbass zu erringen. Auch dieses Mal ist es wahrscheinlich, dass die ukrainischen Verteidiger dem Feind genügend Verluste zufügen werden, um einen russischen Rückzug zu erzwingen – zur wiederholten Überraschung westlicher Analysten.

Als der Kreml am 24. Februar seinen ersten Vorstoß unternahm, erwartete man allgemein einen raschen und vernichtenden russischen Sieg. Als der ukrainische Botschafter in Deutschland um Hilfe bat, wurde er höflich darauf hingewiesen, dass es sinnlos sei, Waffen zu schicken, da der Krieg in 48 Stunden vorbei sein würde.

Fehleinschätzung beider Seiten

Einen Monat nach Kriegsbeginn hatte sich das Blatt gewendet. Die ukrainische Seite hatte dem Aggressor massive Verluste zugefügt und in erfolgreichen Gegenangriffen die Initiative ergriffen. Schwer angeschlagen zogen sich die russischen Streitkräfte aus der Nordukraine zurück. Dies bedeutet, dass man zwar die Fähigkeit der Ukraine, Widerstand zu leisten, unterschätzt hatte, die Fähigkeiten der russischen Kriegsmaschinerie aber noch viel stärker überschätzt hatte.

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Zahlen & Fakten

Russischer Mann in T-Shirt mit Z-Aufdruck bei einem Marsch des Unsterblichen Regiments
Ein Teilnehmer bei der Gedenkaktion „Unsterbliches Regiment“ mit den Kriegssymbolen Z und Georgsband in Moskau, Mai 2022. © Getty Images

Warum ist Z das russische Symbol für den Krieg?

Er ist seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine überall zu sehen, zählt aber nicht zum kyrillischen Alphabet und wurde vorher nicht für Propagandazwecke verwendet: der Buchstabe Z. Zu seiner Bedeutung gibt es verschiedene Theorien:

  • Einer Spekulation zufolge markiert der Buchstabe entweder die Herkunfts- oder die Zielregion der so gekennzeichneten Militärfahrzeuge: Z steht dabei für Zapad, Westen, und das seltener anzufinde V für Vostok, Osten.
  • Das russische Verteidigungsministerium erklärte im März, das Kürzel stehe für za pobedu – für den Sieg. V stehe hingegen für die Phrase sila v pravde – Kraft in der Wahrheit.
  • Tatsächlich kann Z als Präposition za zur Konstruktion verschiedenster Losungen zur Unterstützung der russischen Streitkräfte verwendet: za naschich (für die unseren), za rodinu (für das Mutterland – bereits in Sowjetzeiten gebraucht), oder auch za nami pravda (hinter uns steht die Wahrheit).
  • In Russland wird das Z zunehmend in den Farben des Georgsbandes, orange und schwarz, abgedruckt. Das Georgsband ist das seit Jahren etablierte Symbol für Russlands Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, der russische Name für den Zweiten Weltkrieg.

Die Entwicklungen vor Ort lassen vermuten, dass die russische Offensive im Donbass das gleiche Schicksal erleiden wird wie die gescheiterten Ambitionen, Kiew einzunehmen. Sollte dies der Fall sein, wird die Ukraine den Krieg gewinnen – wenn auch zu einem schrecklichen Preis.

Die ukrainischen Streitkräfte haben durch ihren Mut und ihre militärischen Fähigkeiten bereits jetzt Geschichte geschrieben. Was zu klären bleibt, ist, wie die zweitgrößte Armee der Welt sich als derart ineffizient erweisen konnte – so sehr, dass wahlloser Bombenterror gegen die Zivilbevölkerung zu Moskaus einziger Option für die Fortsetzung der Aggression geworden ist.

Gründe für Russlands Scheitern

Eine erste Antwort könnte lauten, dass der Krieg vom Kreml und den russischen Sicherheitsdiensten und nicht von professionellen Militärs geplant und in die Wege geleitet wurde. Bedenkt man, dass im Kreml eine Atmosphäre der Angst herrscht, die eine realistische Berichterstattung über den desolaten Zustand der Armee unwahrscheinlich macht, dann lässt sich leicht schlussfolgern, dass die Kriegsinitiatoren Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden sind – ein klassisches Problem autoritärer Herrschaftssysteme.

Zwar steckt in einer solchen Analyse viel Wahres. Doch die wesentlichen Gründe für das Scheitern des Kremls sind andere: der Kollaps grundlegender Logistik, das Versagen von Führung und Kontrolle, der marode Zustand eines Großteils der Ausrüstung und die mangelnde Genauigkeit der präzisionsgelenkten Munition. Dieser katastrophale Gefechtstest deutet auf erhebliche Systemmängel hin.

Zum Zeitpunkt der Invasion hatte Russland an den Grenzen der Ukraine fast 200.000 Mann und ein umfangreiches Arsenal an Panzern und schwerem Gerät zusammengezogen. Russlands Arsenal an Langstreckenraketen schien geeignet, die ukrainische Luftwaffe und Luftabwehr lahm zu legen. Und im Kreml glaubte man, dass die Sicherheitsdienste ausreichend ukrainische Verräter rekrutiert hätten, um eine pro-russische Regierung einzusetzen.

Die vielleicht symbolträchtigste Manifestation des anschließenden Debakels war der frühe Verlust einer Truppenkolonne der Nationalgarde des Kremls, der Rosgwardija, die in leicht gepanzerten Fahrzeugen auf Kiew zufuhr. Die mit Schutzausrüstung – Helmen, Schilden und Schlagstöcken – ausgestattete Einheit hatte den Auftrag, in den Straßen des (vermeintlich bis dahin) eroberten Kiew zu patrouillieren. Diese Männer erwiesen sich als leichte Ziele für die ukrainischen Verteidiger.

Versäumte Geschichtslektionen

Wie konnte die russische Armee in einen derart jämmerlichen Zustand geraten – und anschließend die Welt davon überzeugen, es sei zu einer ernsthaften Bedrohung für die NATO geworden? Zur Beantwortung dieser Frage müssen zwei Aspekte beleuchtet werden: Die „Erfolgs“bilanz des Putin-Regimes, die den Glauben an eine moderne russische Kriegsmaschinerie von Anfang an hätte erschüttern sollen, und der gescheiterte Versuch einer russischen Militärreform.

Blicken wir zuerst in die Geschichte. Ein Muster für das, was sich in der Ukraine abgespielt hat, lieferten die beiden Tschetschenien-Kriege, die Russland zur Unterdrückung eines radikal-islamistischen Aufstands führte. Der erste Tschetschenienkrieg (1994-1996) unter Boris Jelzin war eine Art Präzedenzfall für die erste Phase der Ukraine-Invasion: Auch er basierte auf dem unbegründeten russischen Glauben an einen Blitzsieg. Durch den erbitterten Widerstand der Tschetschenen erlitt die russische Armee jedoch schwere Verluste und musste schließlich den Rückzug antreten.

Die ‚Erfolgs‘bilanz des Putin-Regimes hätte den Glauben an eine moderne russische Armee von Anfang an erschüttern sollen.

Der zweite Tschetschenienkrieg, der von 1999 bis 2009 von Wladimir Putin geführt wurde, war wiederum eine Art Vorläufer der zweiten Phase des Ukraine-Kriegs: Nachdem Russland erkannt hatte, dass Kriegsführung in den Städten zu massiven Verlusten führte, griff es zu heftigem Artilleriebeschuss und legte Tschetscheniens Hauptstadt Grosny in Schutt und Asche.

Noch während der zweite Tschetschenienkrieg im Gange war, zog Russland 2008 in den Kampf gegen Georgien. Auch dieser Krieg war von logistischem Chaos und dem Scheitern kombinierter Waffeneinsätze geprägt. Letzteres führte zu Zwischenfällen mit den eigenen Streitkräften, einschließlich des Abschusses eigener Flugzeuge. Die Invasion gelang letztlich nur aufgrund der zahlenmäßigen Überlegenheit der russischen Streitmächte.

Proteste in Georgien gegen Putins Angriff auf die Ukraine im Februar 2022
In Georgien kennt man das Leid der Ukrainer – und zeigt demonstrativ Unterstützung. Bei einem Protest im Februar 2022 forderten Tausende den Rücktritt des Ministerpräsidenten Irakli Gharibaschwili, nachdem dieser erklärt hatte, keine Sanktionen gegen Russland einführen zu wollen. © Getty Images

Gescheiterte Militärreformen

Die Antwort des Kremls auf diese Debakel war die 2009 unter Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow eingeleitete Militärreform. Das Hauptaugenmerk lag dabei auf der Abschaffung der alten Streitkräftestruktur mit fünf Millionen Soldaten, die auf über 200 Divisionen aufgeteilt waren – noch im Stil des Zweiten Weltkriegs.

Die neu aufgestellten Bodentruppen sollten aus 89 „Bereitschaftsbrigaden“ bestehen – alle mit vollem Personalbestand, ausgerüstet für autonomes Handeln und bereit zum Einsatz „innerhalb einer Stunde“. Um sicherzustellen, dass die neue Streitkräftestruktur zwar schlanker, aber auch schlagkräftiger sein würde, entwarfen die Reformer ein Programm zur militärischen Modernisierung, dessen Kosten sich auf schwindelerregende 600 Milliarden Dollar beliefen.

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Zahlen & Fakten

Russische Militärfahrzeuge während der Generalprobe für die Militärparade zum Tag des Sieges in Moskau, Mai 2022
Die russische Armee demonstrierte bei der Generalprobe für die Gedenkparade zum Tag des Sieges im Mai Stärke – während sie in der Ukraine massive Verluste erlitt. © Getty Images

Russlands Armee: Die schwache Supermacht

  • Schon 2001, kurz nach Putins Amtsantritt als Präsident, wurde der Verteidigungshaushalt Russlands stark erhöht. Erfolg brachte das keinen: Eine wissenschaftliche Untersuchung aus dem Jahr 2004 beschrieb die russischen Streitkräfte als „unterfinanziert, demoralisiert und überwiegend ineffektiv […] Das Militär leidet bis heute unter der Mentalität des Kalten Krieges, einer kopflastigen Hierarchiestruktur, sinkender Moral und sinkendem Ansehen, schlechter Ausbildung und veralteter Ausrüstung“.
  • 2009 folgten umfassende Reformen, die dazu beitrugen, dass Russland auf der internationalen Bühne zunehmend als ernstzunehmende Militärmacht wahrgenommen wurde. Doch die großzügigen Finanzspritzen wurden mehr in Quantität als Qualität investiert. Ein Beispiel: Bei einem russischen Militäreinsatz in Syrien 2015 landeten durch eine Fehlfunktion vier der 26 abgefeuerten Langstreckenraketen im Iran – nicht im vorgesehenen Zielland.
  • Auch in der Ukraine häufen sich Beispiele für ernstzunehmende Logistik- und Ausrüstungsmängel. Russische präzisionsgesteuerte Raketen haben eine Ausfallrate von etwa 60 Prozent, das Fehlen sicherer Kommunikationskanäle und der Einsatz ungeschützter Telefonverbindungen tragen zu einem Rekordverlust an Generälen bei, und bislang soll die russische Armee rund ein Viertel ihrer verfügbaren Panzer und etwa 1.000 Militärfahrzeuge verloren haben.

In den darauffolgenden zehn Jahren führte Russland gut einstudierte und groß angelegte Militärübungen durch, die zu den größten Militärshows der westlichen Hemisphäre wurden. Diese alle vier Jahre stattfindenden Militärspiele führten russische Streitkräfte auch nach Belarus; bei der Übung 2009 wurde ein Atomschlag gegen Warschau simuliert. Zwischen den Kriegsspielen führte Russland auch „Blitzinspektionen“ durch, um die kurzfristige Einsatzbereitschaft der Truppen zu testen.

Verpasste Signale

Aufmerksame Beobachter warnten davor, dass diese spektakulären Kriegsspiele charakteristische Elemente einer Potemkinschen Fassade enthielten. Doch die westliche Militärindustrie nahm die russischen Projektionen begierig auf und forderte lautstark eine Aufstockung der Mittel.

Als Russland in den Syrienkrieg eintrat, wurde früh klar, was auf die Ukraine zukommen würde. In dem Bestreben, das schwächelnde Regime von Präsident Bashar al-Assad zu stützen, führte Russland eine Kampagne wahlloser Bombardierungen durch. Das Ergebnis war wie in Grosny: Die Rebellenhochburg Aleppo wurde in Schutt und Asche gelegt. Bedrohlich für die Ukraine ist, dass Giftgas eingesetzt wurde, um die Verteidiger aus ihren Kellerstellungen zu vertreiben und sie auf offener Straße zu töten.

Durch russische Bombenangriffe zerstörte Wohnhäuser in Syrien und in der Ukraine
Aleppo, Syrien im November 2016 und Charkiw, Ukraine im März 2022: In beiden Ländern begingen russische Streitkräfte Kriegsverbrechen, indem sie vorsätzlich die Zivilbevölkerung angriffen. © Getty Images

Die extreme Ruchlosigkeit war das einzig bemerkenswerte an Russlands Militäreinsatz. Der zur Unterstützung des Luftangriffs entsandte Flugzeugträger Admiral Kusnezow erwies sich als unbrauchbar, da die von seinem Deck gestarteten Flugzeuge nicht zurückkehren konnten und in Syrien landen mussten. Auch die gefürchtete Söldnertruppe Wagner erlitt im Kampf gegen die amerikanischen Streitkräfte massive Verluste.

Die Kombination aus Ineffizienz und mörderischer Brutalität, die die Feldzüge in Tschetschenien, Georgien und Syrien kennzeichnete, gilt auch für die Invasion in der Ukraine. Die russische Militärführung war nicht in der Lage, die Lufthoheit zu gewährleisten, zeigte Mängel bei der Befehls- und Kommandogewalt und musste einen erheblichen Verlust an hochrangigen Offizieren hinnehmen. Nachdem die „Bereitschaftsbrigaden“ neuen Stils kläglich gescheitert waren, griff die Militärführung auf die bewährte Taktik zurück, Städte einzukesseln und mit Raketen und Artillerie in Schutt und Asche zu legen.

Korruption zieht Kreise

Die schlechte Qualität der Ausrüstung, einschließlich der Fehlschläge angeblich präzisionsgelenkter Munition, könnte mit der endemischen Korruption im russischen Militärsektor zusammenhängen. Nach Schätzungen offizieller Rechnungsprüfer wird jedes Jahr ein Fünftel des russischen Verteidigungshaushalts unterschlagen; möglicherweise ist die Dunkelziffer noch höher.

Bemerkbar macht sich das in Dingen wie der Reifenqualität. Russische Militärfahrzeuge konnten in der Ukraine nicht abseits befestigter Straßen fahren, da Auftragnehmer nicht wie angeordnet Reifen aus dem Westen, sondern minderwertige Produkte aus China bezogen. Die Differenz steckten sie in ihre eigene Tasche.

Nach offiziellen Schätzungen wird in Russland jedes Jahr ein Fünftel des Verteidigungshaushalts unterschlagen.

Ähnliche Hinweise gibt es für Fahrzeugbatterien, deren extrem kurze Lebensdauer Ausrüstung ohne Strom zurückließ. Aus erbeuteten russischen Vorräten geht wiederum hervor, dass manche Lebensmittelrationen bereits 2007 abgelaufen waren – obwohl Gelder für deren Aufstockung zur Verfügung standen.

Nicht besser verhielt es sich, als die russische Militärführung versuchte, die Verluste auf dem Schlachtfeld durch den Einsatz von Panzern aus Lagerbeständen zu kompensieren. In zahlreichen Fällen waren unverzichtbare Hightech-Bestandteile wie Gyroskope und Zielsuchgeräte entwendet worden. Teils fehlten ganze Motorblöcke; in Bogutschar, Gebiet Woronesch, erwiesen sich 40 Prozent der langfristig gelagerten Ausrüstung als nicht funktionsfähig.

Neue geopolitische Risiken

Russlands Aussichten auf einen Wiederaufbau seiner Militärkapazität sind schlecht. Zwar könnte das Land die bestehenden Softwareprobleme überwinden und wahrscheinlich auch professionelle Führungskader wiederaufstellen. Mit der Zeit könnte auch die Moral der Truppen gestärkt werden. Doch der Ersatz der verlorengegangenen Ausrüstung präsentiert sich als ausgesprochen schwieriges Unterfangen.

Passanten in Kiew gehen an einem zerstörten russischen Panzer vorbei, Mai 2022
Neues, verstörendes Normal: Kiew im Mai 2022 nach der gescheiterten Belagerung der Stadt durch russische Truppen. © Getty Images

Einige europäische Staaten könnten versuchen, die Ukraine zu einem Kompromiss zu zwingen, der den Krieg zu russischen Bedingungen beendet. Ziel dieser Haltung wäre es, die Tür für die Aufhebung der Sanktionen und die Wiederaufnahme des business as usual zu öffnen. Russische Kriegsverbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung haben jedoch zu einer so tiefgreifenden moralischen Verurteilung Russlands geführt, dass es für demokratische Regierungen nahezu unmöglich sein wird, die Sanktionen aufzuheben.

Diese Situation hat vier Folgen:

  • Die erste betrifft die Finanzierung. Da die russischen Öl- und Gasexporte nach Europa schrittweise eingestellt werden, werden auch die bestehenden Pipelines nach Europa bald überflüssig sein. Andere Märkte zu finden ist möglich, allerdings zu niedrigeren Preisen und höheren Transportkosten. Nach dem Debakel in der Ukraine werden sich auch die Aussichten für russische Waffenexporte verschlechtern, da China wahrscheinlich einen Großteil der russischen Marktanteile in den Entwicklungsländern übernehmen wird.
  • Die zweite Auswirkung ist, dass Russland essenzielle Zulieferer für den Verteidigungssektor verloren gehen. Nach 2014 konnte Moskau keine ukrainischen Rüstungsunternehmen mehr in Anspruch nehmen, nun werden deutsche Unternehmen folgen. Russlands größter Panzerhersteller Uralwagonsawod hat wegen Teilemangel bereits den Betrieb eingestellt. Ob China einspringt, hängt von Pekings Bereitschaft ab, westliche Sanktionen zu riskieren.
  • Drittens könnte sich nun die Abwanderung von Fachkräften beschleunigen. In dem Maße, in dem gebildete junge Russen das Land verlassen und ausländische Firmen ihre Zelte dort abbrechen, könnte sich die Qualität des für die militärische High-Tech-Entwicklung benötigten Humankapitals dramatisch verschlechtern.
  • Die vierte und wichtigste Konsequenz ist, dass sich der Kreml durch die fortschreitende Schwächung Russlands gezwungen sehen könnte, Truppen von anderen Einsatzorten abzuziehen. Das könnte rapide zu deren Destabilisierung beitragen. Aserbaidschan hat seine Offensive in der umstrittenen Region Berg-Karabach bereits wieder aufgenommen.

In Zukunft könnte auch Georgien die Rückeroberung von Südossetien und Abchasien anstreben, und die Republik Moldau könnte beschließen, gegen das abtrünnige Transnistrien vorzugehen. Die Türkei könnte sowohl in Syrien als auch in Libyen eine entschlossenere Haltung gegenüber Russland einnehmen. Und nach der Demütigung des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow in der Ukraine könnte Russland sogar in einen dritten Tschetschenienkrieg hineingezogen werden.

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Conclusio

Die Potemkinsche Fassade ist zusammengestürzt. Entgegen aller Erwartungen hat die russische Armee auch vier Monate nach Beginn der Invasion der Ukraine keinen Sieg errungen – ein Scheitern, das sich bei genauerer Betrachtung der Umstände schon länger angekündigt hat. Russlands stark nach außen propagierte Modernisierungsmaßnahmen der Armee waren mehr Schein als Sein; die endemische Korruption im Land hat dazu geführt, dass die Truppen nach wie vor katastrophal ausgerüstet und entsprechend ineffektiv sind. Diese hausgemachten Probleme machen nicht nur ein Wiedererstarken der Streitkräfte für absehbare Zeit unwahrscheinlich, sie stellen den Kreml auch vor zusätzliche geopolitische Herausforderungen. Europa sollte die Lage in Russlands eingefrorenen Konflikten nicht außer Acht lassen.