Die Schwäche des europäischen Kapitalmarkts
Europas Unternehmen fallen im Wettbewerb mit den USA zurück. Der Hauptgrund: Sie sind zu sehr von Banken abhängig und können sich kaum über den Kapitalmarkt finanzieren.

Auf den Punkt gebracht
- Kapitalschwäche. Europäische Firmen müssen sich über Bankkredite finanzieren, US-Unternehmen können sich Eigenkapital über die Aktienmärkte holen.
- Wohlstandsverlust. Die Europäer sparen mehr, aber investieren weniger. Daher ist das durchschnittliche Haushaltsvermögen in Europa viel geringer als in den USA.
- Finanzierungsbedarf. Um wirtschaftlich, technologisch und militärisch bestehen zu können, braucht Europa einen leistungsfähigen, integrierten Kapitalmarkt.
- Kapitalmarktunion. Wenn die EU keine gemeinsame Lösung zustandebringt, sollten die integrationswilligen Volkswirtschaften mit gutem Beispiel vorangehen.
Bei aller Unvollkommenheit ist die Europäische Union insgesamt ein monumentaler Erfolg. Sie integriert 440 Millionen Menschen und 23 Millionen Unternehmen in eine wettbewerbsintensive, reiche und soziale Marktwirtschaft, die aktiv Armut bekämpft. Zudem ist sie weltweit tonangebend in den Bereichen Volksgesundheit, Bildung und Umweltschutz.
Doch Europas Finanzmärkte sind unterentwickelt und zersplittert. Wo in den USA ein integrierter Kapitalmarkt mit der Securities and Exchange Commission (SEC) als zentraler Aufsichtsbehörde mit einem einheitlichen Regelwerk funktioniert, hält sich in der EU auch fast sieben Jahrzehnte nach dem Vertrag von Rom noch immer ein provinzieller Flickenteppich aus 27 kleinen bis mittelgroßen Kapitalmärktlein.
In ihnen wachen tief eingegrabene Sonderinteressen eifersüchtig über ihre Reviere und ökonomischen Renten, indem sie die Schaffung eines integrierten Marktes hintertreiben. Jedes Land hat eigene Börsen, Finanzdienstleister, Aufsichtsbehörden und individuelle Regelwerke für Wertpapiere, Steuern, Insolvenzrecht, Buchhaltung und Wirtschaftsprüfung. Man stelle sich vor, die USA hätten 50 Börsen und Wertpapieraufsichtsbehörden!
Diese Fragmentierung behindert Technologieentwicklung, Produktivität und Wirtschaftswachstum; in allen drei Punkten ist die EU weit abgehängt. Dabei sind die Volkswirtschaften der USA und EU größenmäßig durchaus vergleichbar. Zwar ist nominal das BIP der USA um die Hälfte größer, doch ihr Vorsprung verringert sich auf nur zwei Prozent, wenn man Kaufkraftparitäten vergleicht und damit um schwankende Wechselkurse bereinigt. Allerdings: Pro Kopf der Bevölkerung bleibt der Vorsprung der USA bei ziemlich dramatischen 34 Prozent.
Zahlen & Fakten
Europa fällt zurück
Europa braucht einen leistungsfähigen, integrierten Kapitalmarkt als Grundlage für den enormen Finanzierungsbedarf von Energiewende, digitaler Infrastruktur, Verteidigung und demografischem Wandel. Mario Draghis viel beachteter Bericht The Future of European Competitiveness rechnet mit etwa 800 Milliarden Euro pro Jahr, um die fünf Prozent des BIP der EU, um sich der „existentiellen Herausforderung“ stellen zu können.
Europäische Firmen müssen sich noch immer zu drei Vierteln über Bankkredite finanzieren, während US-Firmen sich Eigenkapital hauptsächlich über Venture Capital und die Aktienmärkte holen. Startups haben es in der EU besonders schwer, da Banken kein Risikokapital bereitstellen. Dies führt oft zur Abwanderung europäischer Technologie-Startups in die USA mit ihren höheren Bewertungen und dem einheitlichen Regelwerk.
Zudem sind europäische Banken im internationalen Vergleich klein (nach Marktkapitalisierung schafft es global keine unter die Top 25) und nationalstaatlich organisiert. Zwar fordern europäische Bankmanager und Politiker in frommen Sonntagsreden gerne und oft die längst überfällige Konsolidierung des europäischen Bankensektors, doch praktische Initiativen stoßen auf erbitterten Widerstand. Ein besonders peinliches Beispiel für den Kontrast zwischen Lippenbekenntnissen und gelebter Praxis ist der deutsche Schulterschluss gegen eine Übernahme der Commerzbank durch die italienische UniCredit.
Alle europäischen Aktienmärkte zusammen sind nur etwa ein Viertel so groß wie jene der USA und obendrein in den letzten zwei Jahrzehnten viel langsamer gewachsen. Das liegt vor allem an der Seltenheit von großen Technologieunternehmen. In den US-Startups kommt Venture Capital über spezialisierte VC-Fonds von institutionellen Investoren, während es in der EU vorwiegend von staatlichen Förderungen stammt (Dänemark und Schweden bilden hier Ausnahmen), die zudem rückläufig sind.
Sparsamer und ärmer
Insgesamt ist das investierbare Kapital in der EU erheblich kleiner als in den USA. Dort macht es 600 Prozent des BIP aus – ein Wert, den in Europa nur Dänemark (650 %) und Schweden (500 %) erreichen. In den größeren Volkswirtschaften der EU sind es nur 130 bis 200 Prozent.
So verfügen Europäer auch über ein deutlich geringeres Haushaltsvermögen, obgleich sie viel mehr sparen als Amerikaner, denn die europäischen Anleger investieren zu wenig in Aktien. Vor allem kanalisiert der US-Kapitalmarkt Ersparnisse viel besser in renditestarke Anlagen. Zwischen 2009 und 2023 wuchs das US-Haushaltsvermögen um das Zweieinhalbfache, jenes in der EU nur um die Hälfte.
In den EU-Ländern – mit Ausnahme von Dänemark, den Niederlanden und Schweden – spielen Pensionsfonds kaum eine Rolle, weil Umlagesysteme die Altersvorsorge finanzieren. In den USA hingegen sind fondsbasierte Rentensysteme (z. B. California Public Employee Retirement System CALPERS oder die Pensionsfonds von IBM, AT&T) die tragenden Säulen der Altersvorsorge, die bei weitem größten Investoren auf den Kapitalmärkten und zentrale Komponenten der Haushaltsvermögen.
Zudem werden enorme Summen in steuerbegünstigten privaten Eigenvorsorgekonten angespart und investiert, zum Beispiel in „401K“-Konten, die oft einen eingebauten Nudge-Effekt haben: Arbeitnehmer partizipieren automatisch, sofern sie sich nicht proaktiv abmelden. (Auf „401K“-Konten können Arbeitnehmer einen Teil ihres Einkommens einzahlen, der in der Regel von einem privaten Investmentunternehmen veranlagt wird. Das Geld wird vom Arbeitgeber direkt abgeführt.)
Europäer verfügen über ein viel geringeres Haushaltsvermögen, obwohl sie viel mehr sparen als Amerikaner.
Natürlich könnte man auch die in Umlagesystemen entstandenen Pensionsansprüche an den Staat zu ihrem diskontierten Gegenwartswert in das private Haushaltsvermögen rechnen. Für Kapitalmärkte haben Umlagesysteme jedoch einen entscheidenden Nachteil: Es wird kein investierbares Kapital angesammelt.
Die Bremser
Schließlich fehlt in der EU auch ein ausgebautes gemeinnütziges Stiftungswesen. So gibt es nur wenige private Universitäts- und Forschungsstiftungen, während in den USA die Fonds von Universitäten (Harvard, University of Texas, Yale, Stanford, Princeton und vielen anderen) und gemeinnützigen Privatstiftungen (z. B. die Bill & Melin- da Gates Foundation) zu den größten institutionellen Anlegern in Aktien und Risikokapital gehören. Wer oder was bremst?
Seit 2014 ist die Kapitalmarktunion ein erklärtes Ziel der EU, doch alle bisherigen Initiativen scheiterten an Sonderinteressen. Lokale Börsen bangen um ihre Umsätze, Banken um billige Spareinlagen und die Nachfrage nach Unternehmenskrediten und Bürokraten in nationalstaatlichen Aufsichtsbehörden um Revierverluste.
Zahlen & Fakten
Zu den Bremsern gehören Luxemburg, Irland, Zypern, Malta und Österreich sowie kleinere ehemals kommunistische Mitgliedsländer (Bulgarien, Litauen, Lettland, Estland, Tschechien, Kroatien, Rumänien, Slowenien), die jeden weiteren Kontrollverlust fürchten, weil die Banken weitgehend in ausländischem Besitz sind. Luxemburg dürfte es wohl in erster Linie um die Bewahrung seiner Stellung als Zentrum der europäischen Investmentfondsindustrie gehen, andere Länder (z. B. Irland, Estland) fürchten, nicht mehr mit Steuerdumping Firmen anlocken zu können.
Auf der Ebene der Investoren bremsen der Mangel an Finanzbildung, die geringe Aktienkultur und die Scheu vor Risiko. Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass auch diverse Ideologen und Populisten von ganz rechts und ganz links mit integrierten Kapitalmärkten oder überhaupt liberalisierten Märkten nicht viel am Hut haben. Auch unfreundliche externe Akteure wie Russland, das systematisch alles bekämpft, was Europa stärkt, dürften an einer erfolgreichen europäischen Kapitalmarktunion kein Interesse haben.
Ein neuer Anlauf der EU
In einem neuen Anlauf verpasste Ursula von der Leyen der Initiative den neuen Namen „Europäische Spar- und Investitionsunion“ und holte detaillierte Vorschläge von Enrico Letta, Christian Noyer und Mario Draghi ein: Die europäische Börsenaufsicht ESMA soll gestärkt werden und europaweit einheitliche Regeln durchsetzen; statt 27 einzelner Börsen soll ein gemeinsamer europäischer Aktienmarkt entstehen; Steuersysteme, Buchhaltungsstandards und Insolvenzrechte sollen europaweit harmonisiert werden; Pensionsfonds, die auf dem Kapitalmarkt investieren, sollen die Altersvorsorge sichern; private und betriebliche Altersvorsorge soll steuerlich gefördert werden, ebenso wie langfristige Anlagen in Aktien und Anleihen und Finanzbildung; Banken und Finanzdienstleister sollen grenzüberschreitend fusionieren dürfen. Schließlich soll ein gemeinsamer Schuldtitel (EU-Anleihe) höchster Bonität als Referenzwert geschaffen werden.
Gleichgesinnte Vorreiter
Ein neuer, pragmatischer Ansatz zu einer „Koalition der Gleichgesinnten“ verspricht, ein Momentum zu erzeugen. Dabei würden integrationswillige Mitgliedsländer mit gutem Beispiel vorangehen und einen „Kern-Kapitalmarkt“ innerhalb der EU schaffen – nicht als Ersatz, sondern als Vorreiter und Katalysator für eine breitere Integration.
Der damalige französische Finanzminister Bruno Le Maire schlug im Februar bei einer Sitzung der EU-Finanzminister in Gent vor, eine kleine Gruppe von Ländern solle auf freiwilliger Basis mit einer Kapitalmarktunion vorausgehen: „Ich habe die Diskussionen satt. Ich habe die leeren Versprechungen satt. Glauben Sie, dass China und die Vereinigten Staaten von unseren Versprechungen beeindruckt sein werden? Wir brauchen Entscheidungen!“
Ein komplementärer Vorschlag kam aus Spanien: Eine Vorhut von drei oder mehr gleichgesinnten Ländern könnte mit einem gemeinsamen Pilotprojekt („Competitive Lab“) vorangehen und so Ideen für Kapitalmarktintegration austesten. Andere Länder könnten diesem Nukleus jederzeit beitreten, und über kurz oder lang würden andere EU-Länder nachziehen.
Conclusio
Flickenteppich. Die Zersplitterung in winzige, unterschiedlich regulierte Kapitalmärkte lässt die EU bei Technologieentwicklung, Produktivität und Wirtschaftswachstum zurückfallen. Vor allem Technologie-Startups wandern in die USA ab.
Bremser. Ein gemeinsamer Kapitalmarkt scheitert seit 2014 an Sonderinteressen in den einzelnen Mitgliedsländern, wirtschaftlichen Interessen der Banken und den Machtinteressen von Bürokraten in den nationalen Aufsichtsbehörden.
Pragmatismus. Da der gordische Knoten kleinteiliger Interessen derzeit nicht zerschlagen werden kann, sollten integrationswillige Volkswirtschaften einen Kernkapitalmarkt bilden, dem sich andere EU-Länder anschließen können.
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