„Neue Wege zu Antibiotika“
Genome Mining, Bio-Engineering und Kooperationen: Sergey Zotchev und sein Team sind neuen Antibiotika auf der Spur, Saarvienin A ist eine vielversprechende Entdeckung.

Es gibt Krankheitserreger, gegen die heute zur Verfügung stehenden Antibiotika nichts mehr ausrichten können. Es sind Keime, die Wege gefunden haben, sich gegen diese Medikamente zu wehren. An sich ist das aus biologischer Sicht ein natürlicher Prozess, ein Beispiel für „Survival of the fittest“. Schätzungen zufolge sterben 1,27 Millionen Menschen weltweit an Infektionen, die durch Antibiotika nicht mehr unter Kontrolle gebracht werden können. Tendenz steigend. Die Medizin braucht also neue Antibiotika, solche, die die Krankheitskeime noch nicht kennen, insofern auch keine Abwehrmechanismen entwickelt haben und Infektionskrankheiten nicht mehr bezwingen zu können. Deshalb braucht man in der Medizin Alternativen, also neue Antibiotika, die die Krankheitserreger nicht kennen und damit auch keine Abwehrmechanismen entwickelt haben.
Sergey Zotchev, Professor für pharmazeutische Biotechnologie an der Universität Wien, arbeitet an solchen Projekten. Ihm und seinem Team ist kürzlich ein Durchbruch gelungen. Saarvienin A heißt das neu entdeckte Molekül, aus dem eines Tages vielleicht sogar ein Medikament werden könnte.
Der Pragmaticus: Schön, dass Sie sich Zeit nehmen mit uns zu sprechen. Gleich vorneweg. Saarvienin A ist eine seltsame Bezeichnung für ein neues Molekül. Wie ist er entstanden?
Sergey Zotchev: Unsere Entdeckung ist mit Beteiligung von Forschenden in Wien – also Vienna – und Saarbrücken entstanden. Der Name ist eine Zusammensetzung der ersten Silben der Ortsbezeichunungen und verewigt damit die Kooperation zwischen dem Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS) unter der Leitung von Rolf Müller und dem Institut für Pharmakologie der Universität Wien. Ein großer Teil der Entdeckung ist meinem Postdoc-Studenten Felipe Guerrero Garzón hier an unserem Institut gelungen.
Um welches Molekül handelt es sich dabei genau?
Sergey Zotchev: Um ein Glykopeptid, das von einem Actinobakterium produziert wird. Actinobakterien sind Mikroorganismen, die dafür bekannt sind, in ungewöhnlichen Umgebungen überleben können. Sie können Antibiotika wie Vancomycin oder Rifamycin produzieren, die schon unzählige Menschenleben gerettet haben, jedoch ihre Wirksamkeit verlieren, weil sie schon sehr lange im Einsatz sind.
Für alle, die es nicht am Schirm haben: Die meisten Antibiotika werden von Bakterien- oder Pilzkulturen erzeugt, wenn sie sich in ihrer natürlichen Umgebung gegen andere Mikroorganismen wehren. Dafür sondern sie Stoffe ab, die den Feind unschädlich machen. Sie nennt man Antibiotika und vor zirka 80 Jahren erkannte man, dass sie auch als Medikament gegen Infektionserkrankungen eingesetzt werden können, also gegen Bakterien, die Menschen krank machen.
Sergey Zotchev: Doch diese Mikroorganismen sind dafür aus ihrem natürlichen Umfeld herausgelöst werden, existieren in kontrollierten Laborbedingungen und sondern dort nur ganz bestimmte antibiotische Wirkstoffe ab. Es handelt sich also um Extrakte dieser Organismen, die man dann in der Folge gegen eine Reihe von Krankheitserregern getestet hat, um den Wirkmechanismus zu verstehen. Aber diese Art des Vorgehens war ausgereizt, könnte man sagen.
Mikroorganismen können viel mehr als das, was wir im Labor sehen.
Inwiefern?
Sergey Zotchev: Bakterien und Pilze produzieren antibiotische Wirkstoffe, um ihr eigenes Überleben in ihren natürlichen Bedingungen zu sichern. Sie leben überall, sind umgeben von Mikroorganismen, mit denen sie interagieren. So etwas lässt sich im Labor nicht simulieren, dort beschränkt man sich immer auf einen bestimmten Aspekt. Insofern hatten wir also einen sehr beschränkten Einblick in die Fähigkeiten solcher Mikroorganismen. Denn es ist davon auszugehen, dass sie viel mehr können, als wir im Labor sehen.
Hat die Genom-Forschung da nicht vieles verändert?
Sergey Zotchev: Absolut. Das war eine Revolution. In den Genomanalysen konnten wir sehen, welche Gene in den Mikroorganismen aktiv, welche ein-und ausgeschalten werden, wenn sich Bedingungen ändern und - ultimativ - wie so ein Mikroorganismus funktioniert, um zum Beispiel Enzyme zu produzieren, die dann für die Produktion der Sekundärmetaboliten verantwortlich zeichnen.
Sekundärmetaboliten?
Sergey Zotchev: So nennen wir Stoffe, die von Mikroorganismen produziert werden, eben Antibiotika zum Beispiel. Aber es ist so, dass die Umgebung, in der diese Mikroorganismen existieren, eine sehr wichtige Rolle spielt. Im Labor sehen wir immer wenig, wozu diese Organismen fähig sind, weil sie dort etwa mit anderen Organismen kommunizieren und sich potenziell also ganz anders verhalten. Aber durch die genetischen Analysen konnten wir quasi neue Potenziale entdecken. Daraus ist ein eigener Forschungszweig entstanden.
Welcher Forschungszweig?
Sergey Zotchev: Des Genom Mining. Dabei wird versucht, potenzielle Funktionen im Genom eines Mikroorganismus wie Bakterien oder Pilzen zu entdecken, Funktionen, die sich möglicherweise nicht aktuell manifestieren, weil sie nicht gebraucht werden. Damit entstand eine Art Katalog von Gen-Sets eines bestimmten Bakteriums, also der verschiedenen Wirkstoffe, die es produzieren kann.
Mit welchem Ziel?
Sergey Zotchev: Sie mit den Mitteln des Gene-Engineering zu manipulieren, dass man Gene gezielt ein- und ausschalten kann - zum Beispiel. Dann ist da ein überaus langwieriger Prozess des Ausprobierens. Die Extrakte müssen erzeugt, gereinigt und analysiert werden, um neue Potenziale zu entdecken. Es geht dabei immer darum, etwas Neues zu entdecken. Dafür muss man das analytische Werkzeug und Erfahrung haben.
Es geht immer darum, Neues zu entdecken.
Das ist aber im Fall von Saarvienin A gelungen. Wie?
Sergey Zotchev: Es begann mit eine Actinobakterium, das ich 2012 aus China bekommen habe.
Bakterien aus China? Ist das eine übliche Praxis?
Sergey Zotchev: Eigentlich ja. China hat sich darauf spezialisiert, große Mengen von Bakterien aus unterschiedlichen Quellen zu extrahieren, sie als Kataloge zusammenzustellen und sie Wissenschaftlern anzubieten. Es sind Bakterien von überall, aus der Erde, aus Pflanzen, Tierausscheidungen, Fischen. Das Actinobakterium, das mich damals interessierte, stammte aus einer Mine von Seltenen Erden. Das habe ich dann von einem Institut in Yunnan bekommen.
Und dann?
Sergey Zotchev: Dann war lange Zeit nichts. Ich bin von Norwegen nach Wien übersiedelt, habe meine Forschung hierher transferiert. In Wien hat dann einer meiner Postdoc-Studenten damit zu arbeiten begonnen. Er hat entdeckt, dass dieses Actinobakterium ein neuartiges Glykopeptid herstellt, eines das bislang noch nicht entdeckt worden war. In Kooperation mit Martin Zehl, damals Leiter des Instituts für Massenspektroskopie an der Universität Wien, konnten wir feststellen, dass diese Substanz chemisch betrachtet, superinteressant ist.
Was waren die Herausforderungen?
Sergey Zotchev: Wir kultivierten die Bakterien in einem ausreichenden Umfang, damit sie genügend Saarvienin A generieren zu können. Das brauchten wir, um die Struktur besser zu verstehen und biologische Tests überhaupt erst möglich zu machen. In dieser Phase haben wir begonnen, mit Rolf Müller vom HIPS zusammenzuarbeiten. Wir haben unsere Extrakte hingeschickt, am HIPS wurde die chemische Struktur aufgeklärt und die biologische Aktivität an Pathogenen getestet.
Was war anders?
Sergey Zotchev: Das Molekül bindet nicht wie Vancomycin (Anm.: Das auch aus Actonbakterien gewonnen wird) direkt am Zielmolekül, das an der Zellwandsynthese beteiligt ist, sondern wirkt über einen bisher noch unbekannten und vielleicht neuartigen Mechanismus.
Und wie geht es jetzt weiter?
Sergey Zotchev: Es gibt viele Aufgaben. Saarvienin A hat eine toxische Wirkung gegenüber Zellen von Säugetieren. Wir planen Derivaten von Saarvienin zu generieren, die weniger toxisch sind. Das könnten wir mit biosynthetische Methoden erreichen. Dass es funktionieren kann, also dass wir Toxität reduzieren können, wissen wir, weil es uns bei dem Medikament Nystatin schon gelungen ist.
Was ist gelungen?
Sergey Zotchev: Nystatin ist ein altes existierendes Medikament gegen Pilzinfektionen. Doch es war sehr toxisch in der systemischen Behandlung, etwa um Infektionen der Lunge zu bekämpfen. Diese Toxizität von Nystatin konnten wir reduzieren. Und retten Menschenleben vor allem in Indien bei der Behandlung von „Black fungus“, einer Pilzinfektion mit einer Todesrate von 70 Prozent.
Mit biotechnologischen Werkzeugen das Optimum herausholen können.
Diese Reduktion der Toxizität streben Sie auch für Saarvienin an?
Sergey Zotchev: Ja, aber da ist noch sehr viel zu tun. Wir müssen noch viele Schritte gehen, um eines Tages mit den richtigen biotechnologischen Werkzeugen das Optimum herausholen zu können.
Wird daraus eines Tages ein Medikament entstehen?
Sergey Zotchev: An diesem Punkt sind wir noch nicht. Wir müssen den Wirkmechanismus erst genau begreifen, um ihn in unserem Sinne dann nutzen zu können. Um ein Medikament produzieren zu können, müssen große Mengen einer Substanz hergestellt werden. Dafür braucht man große Produktionsanlagen und ganz abgesehen davon, ein Unternehmen, das das produziert. Es wird realistischerweise sicherlich noch vier bis fünf Jahre dauern, bevor es überhaupt erst im Tiermodell getestet werden kann. Bis aus Saarvienin A ein Medikament für den Einsatz am Menschen wird, müssen noch viele Hürden genommen werden.
Über Sergey Zotchev

Sergey B. Zotchev ist seit 2015 Professor für Pharmazeutische Biotechnologie an der Universität in Wien. Der aus Russland stammende Biologe hat seine Ausbildung am Institut für Genetik in Moskau begonnen und kam 1991 als Postdoc-Fellow nach Osnabrück. Seine weiteren Stationen: School of Pharmacy in Wisconsin, das Karolinska Institut in Schweden. Von 1996 bis 2015 war er an der Norwegian University of Science and Technology tätig, unterbrochen von Forschungsaufenthalten in den USA. In Wien beschäftigt er sich unter anderem mit Fragen der Biosynthese von Bakterien.