Eine Stadt überholt die Welt

Schneller, weiter, höher: In der Metropole Shenzhen im Süden von China geht die Post ab – technologisch, gesellschaftlich wie städteplanerisch. Das gemächliche Europa sollte derart rasante Entwicklungen in Asien sehr ernst nehmen. 

Chinesische Frau im Profil vor der Stadt Shenzhen
Shenzhen ist eine junge Stadt – und weist den Weg in die Zukunft. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Zukunft passiert. Die 20-Millionen-Megacity Shenzhen vor den Toren Hongkongs ist der Innovationstreiber Chinas, in Bereichen wie 5G oder Alternativen zu Fleisch.
  • Aus einer Hand. Shenzhen vereint die Bereiche Forschung, Produktionsanlagen und reale Markterprobung in Echtzeit – und zieht der Welt davon.
  • Jung und schnell. Das Durchschnittsalter der Metropole beträgt nur 29 Jahre. Ihr atemloser Lifestyle wird auch Shenzhen-Speed genannt.
  • Sichtbare Schattenseiten. Lärm, Hitze und Wolkenkratzer-Fallwinde fordern von den Menschen höchste Anstrengungen. Auch der Überwachungsgrad ist hoch.

Tempo, Fortschritt, Hightech – wer das alles live erleben will, muss nach Shenzhen im Süden von China. Hier im Perlfluss-Delta gibt es die Zukunft zum Anfassen – und zwar die ganze Bandbreite: von 5G-autonomem Fahren bis zu tierlosem Fleisch. Ebenso flächendeckend ist freilich auch die Überwachung. Das ist der Preis einer supermodernen, in der Planung vom Staat orchestrierten 20-Millionen-Menschen-Megacity, von der in Europa viele noch nie etwas gehört haben.

Hongkongs Schatten

Die Stadt stand lange im Schatten Hongkongs, doch inzwischen ist Hongkong ein Vorort Shenzhens. Von dort kommen Weltkonzerne wie Huawei, ZTE, Foxconn oder Tencent. Nun rückt die Metropole als „Stadt der Zukunft“ in den Fokus – und gibt den Takt vor. Siebzig Prozent aller Drohnen kommen von hier. Nicht nur in der Luft geht es rasend schnell zu. Das der Stadt eigene Tempo heißt tatsächlich „Shenzen-Speed“ – geschlafen wird in einem anderen Leben! China 2.0.

Wie kam es zu dieser atemberaubenden Entwicklung? Zu dieser seltsamen Mischung aus Kontrolle und Innovation? Die Ursache dafür ist eine Art Angst, so wie im 19. Jahrhundert, einen Innovationsschub zu verpassen und die Kontrolle über das Land zu verlieren. Mitte des 19. Jahrhunderts hat der chinesische Kaiserhof aus einer Mischung von Überheblichkeit und Lethargie die industrielle Revolution in Europa unterschätzt. Dieser Fehler führte zu sinkender Wirtschaftskraft und steigenden sozialen Unruhen, die zum Sturz des Kaisers und zu einem Bürgerkrieg führten. Die Einheit Chinas war lange Zeit in Gefahr. Das stolze Reich lag am Boden. Mao ist es im letzten Moment gelungen, das Reich zu einen und zu reanimieren. Es gelang ihm trotz brutaler Aufbruchskampagnen, China wieder auf die Füße zu kriegen.

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Zahlen & Fakten

Innovation als Chinas Trumpfkarte

Erst der große Reformer Deng Xiaoping traute sich öffentlich einzugestehen: Das stolze China schafft es nicht allein. Es muss sich vom Ausland helfen lassen. Das war für Chinas Nationalstolz und die kommunistische Ideologie eine bittere Pille, aber der entscheidende Schritt zum Wiederaufstieg Chinas. Die Sonderwirtschaftszone Shenzhen war 1980 der erste Schritt dazu. Deng Xiaoping auf die Idee gebracht hatte der Vater des heutigen Staatspräsidenten Xi Jinping. 

So wurde China zur „Fabrik“ der Welt, die unsere Produkte billiger und besser herstellt. Seit einigen Jahren ist China nun wieder in der Lage, selbst innovativ zu sein, wie die meiste Zeit in seiner Geschichte. In vierzig Jahren ging es von null auf zwanzig Prozent Anteil an der Weltwirtschaft. Shenzhen, die fortschrittlichste Stadt Chinas, ist das Symbol dafür. Der Fortschritt kam, die Versagensangst blieb. Und deswegen gibt es heute die überzogene Sehnsucht nach Kontrolle und das übereifrige Innovationsstreben. Das eine bereitet uns im Westen berechtigte Sorgen, das andere imponiert uns. 

Mischung aus Markt und Lenkung

Shenzhen ist eine seltsame Mischung aus Markt und staatlicher Lenkung mit einigen Vorteilen gegenüber dem Silicon Valley. Dessen nächstes Finanzzentrum liegt rund fünf Flugstunden von der Westküste der USA entfernt: in New York. Die Produktion liegt gar zwölf Flugstunden entfernt: in China. In Shenzhen ist das anders, beides liegt um die Ecke – das Finanzzentrum in Hongkong, die Produktionsstätten im Norden von Shenzhen; die Teile für Produktinnovationen sind vor Ort vorrätig. Das beschleunigt die Entwicklung sehr. Hinzu kommt ein Staat, der mit Subventionen nicht geizt und weiß, wie wichtig vernünftige Stadtplanung ist. Weil die Stadt so attraktiv ist, ist sie die globale Megametropole mit dem jüngsten Durchschnittsalter: 29 Jahre. Das gibt es sonst nur noch in Mumbai.

Shenzhen liegt im größten Wachstumsmarkt der Welt, mit Menschen, die Technologien gegenüber aufgeschlossen sind.

Dazu kommt: Shenzhen liegt im größten Wachstumsmarkt der Welt, mit Menschen, die neuen Technologien gegenüber noch aufgeschlossener sind als Amerikaner. Sie saugen neue Entwicklungen auf. So sind in Shenzhen ganz neue Technologiebranchen wie die Drohnenindustrie entstanden. Aber Shenzhen ist auch die Welthauptstadt der E-Fahrzeuge: 16.000 Busse und 23.000 Taxis der Stadt wurden auf Elektromobilität umgestellt. Und das, obwohl alle Fahrzeuge Klimaanlage haben müssen, weil in Shenzhen subtropisches Klima herrscht. BYD, der führende chinesische E-Auto-Hersteller und zweitgrößte Batteriehersteller, kommt aus Shenzhen. 

Experimentierfeld für Ideen in China

Ähnlich verhält es sich mit Alternativen zu Fleisch. Shenzhen ist Chinas Hauptstadt des tierlosen Steaks. Die Chinesen können nicht so viel Fleisch pro Kopf essen wie die Amerikaner. Das hält das Weltklima nicht aus. 

Ausprobiert werden hier auch neue Lösungen im legislativen Bereich. Beispielsweise eine Insolvenzordnung, die ähnlich der US-Regelung „Chapter 11“ ein Weiterarbeiten des Unternehmers nach einer Pleite ermöglicht. Damit werden Start-Ups risikoärmer. 

Foto von Shenzhen im Sonnenaufgang
Die Mega-City Shenzhen zeigt, wo Chinas Zukunft liegt. © Adobe Stock

Oder ein neues Gesetz, das Arbeitszeiten begrenzt. Zudem testet Shenzhen aus, Bürgerinitiativen mehr Rechte zu geben. Früher durfte man nur als Privatperson klagen – mit viel höherem Risiko. Nun steht die Klagemöglichkeit auch NGOs offen. Das stärkt Proteste – wie aktuell jene gegen eine Müllverbrennungsanlage. Warum macht die Regierung das? Weil sie merkt, dass das zu einer modernen Stadt dazu gehört. Und wenn Shenzhen die besten Forscher und Entwickler für die Stadt will, muss es für die Anliegen der Bürger ein offenes Ohr haben. 

Daher dürfen auch Subkulturen wachsen. Im wesentlich strengeren Peking gibt es kaum Vergleichbares mehr. Gleiches gilt für die Architektur, bei der mehr Experimente zugelassen werden. Diese Anstrengungen haben alle ein Ziel: die Attraktivität und internationale Wettbewerbsfähigkeit der Stadt zu erhöhen. Der deutsche Architekt Ole Scheeren hat sich zum Beispiel überlegt, wie man althergebrachte Hochhausarchitektur mit relativ kleinen Etagenflächen für eine Art Dorfstruktur geeigneter macht – wo dann mehr interagiert wird. Er hat dafür einfach ein Hochhaus flachgelegt. Eine Etage des Gebäudes hat jetzt die Größe von zwei Fußballfeldern. Auf diese Art will er lebenswerte Bürostrukturen und eine fruchtbare Arbeitskultur schaffen, in der Freizeit und Arbeitszeit ineinander übergehen. 

Autonomes Fahren in Shenzhen im Alltagstest

Auch bei der Elektromobilität ist China seinen eigenen Weg gegangen. Am Anfang hat der Staat gesagt: Zehn Prozent aller Autos müssen in zwei Jahren elektrisch angetrieben werden. Als dieses Ziel in Sichtweite war, wurde der geforderte Prozentsatz einfach erhöht. Nun passiert Ähnliches mit dem autonomen Fahren. Erste Taxis sind in Shenzhen bereits seit Januar autonom unterwegs, und es wird nicht sehr lange dauern, bis die fahrerlosen Autos alltäglich sein werden. Die Vorteile liegen auf der Hand: Der Verkehr wird durch den Einsatz von Technologie besser organisiert. Die Freizeit für den Pendler beginnt schon im Auto. 

Die nächste große Entwicklung ist der Ausbau der Drohnentechnologie – nicht nur um Pakete zu transportieren, sondern auch für den Personentransport auf kurzen, standardisierten Strecken vom Flughafen zum Hotel. Das Bemerkenswerte in Shenzhen ist, dass Prototypen – so wie beim autonomen Fahren – nicht unter Laborbedingungen, sondern im echten Alltag getestet werden. Also im dichten Stadtverkehr, weil auf diese Weise die Systeme am schnellsten lernen können. Die Filme darüber, zum Beispiel von AutoX, kann man auf YouTube sehen. 

Das Bemerkenswerte in Shenzhen ist, dass Prototypen nicht unter Laborbedingungen, sondern im Alltag getestet werden.

Wie in anderen Städten auch passt die Stadtverwaltung auf, dass genug billiger Wohnraum vorhanden ist. Es gibt ja nicht nur die ganz neuen, hypermodernen Stadtviertel, sondern auch sogenannte Stadtdörfer. In Berlin würde man dazu Kiez, in Wien Grätzel sagen – das sind Stadtteile mit alten Häusern, Bars und vielen Studenten. Dort wird auch schon modernisiert, aber mittlerweile zum Glück mit Einschränkungen. Denn auch neu Hinzugekommene müssen in Shenzhen halbwegs günstig wohnen können. 

Klar, dass es in puncto Lebensqualität in einer so modernen Stadt auch Schattenseiten gibt. Eines der Probleme ist, dass die Hochhäuser ganze Nachbarschaften verdunkeln, Fallwinde erzeugen und sich in einer subtropischen Megastadt auch Lärm und Hitze nicht ausblenden lassen. Außerdem werden die Onlineforen stark von Menschen frequentiert, die mit der Geschwindigkeit und dem Stress nicht mehr klarkommen.

Chinas Weckruf für Europa

Da geht es Europa teilweise ruhiger an. Anderseits darf Europa wirtschaftlich nicht zurückfallen, es möchte mit am Tisch sitzen, wenn die Spielregeln der neuen Weltordnung ausgehandelt werden. Denn nur wenn es wirtschaftlich stark ist, wird es von globalen Aufsteigern wie China ernst genommen. Wenn Europa sich zurückzieht, wird es eben zum Freizeitpark der Welt.

Dann muss Europa, technisch zurückgefallen, sich darauf konzentrieren, seine Berge, Wälder, Seen und alten Städte zu monetisieren. Das muss nicht ganz schlecht sein – Teile Österreichs oder Mallorcas sind da Vorbilder. Aber das hat seinen Preis. Eine Wirtschaftskraft wie heute werden wir so nicht halten können. Deshalb sollten wir die technologische Herausforderung aus China annehmen. Es muss ja nicht gleich Shenzhen-Speed sein. 

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Conclusio

Shenzhen hat in vielen Bereichen Maßstäbe als Stadt der Zukunft gesetzt: Bei Städtebau, Mobilität, Innovation oder im Sozialbereich ticken die Uhren in der südchinesischen Metropole anders. Das Ergebnis: Das Tempo der Stadt ist extrem hoch, der Fortschritt gewaltig. Autonomes Fahren oder Drohnentransporte werden nicht unter Laborbedingungen erprobt, sondern im richtigen Leben. Ein Vorteil von Shenzhen ist, dass Forschungszentren, Produktion und Konsumenten in unmittelbarer Nähe zu finden sind. Damit verfügt die City auch über Vorteile gegenüber den innovativsten Ballungsräumen in den USA. Diese Form der Entwicklung sollte besonders in Europa aufmerksam verfolgt werden. Während in Shenzhen die Post abgeht, entwickelt sich der alte Kontinent zusehends zu einem Freizeitpark.