Arbeiterpartei ohne Arbeiterklasse
Die Arbeiterbewegung blickt auf enorme Erfolge zurück. Doch die Sozialdemokratie hat sich von ihr entfremdet und steckt deshalb in einer tiefen Krise.
Nach 63 Verhandlungstagen zog sich die Jury um vier Uhr nachmittags zur Beratung zurück. Keine drei Stunden später schickte sie sieben Männer an den Galgen und einen ins Gefängnis. Drei von ihnen sollten später begnadigt werden, einer beging Selbstmord. Vier wurden am 11. November 1887 in weißen Overalls zum Galgen geführt, mit weißen Kapuzen über den Kopf gezogen. Auf ihrem letzten Weg sangen sie die Marseillaise, damals die Hymne der Arbeiterbewegung.
„Die Zeit wird kommen, in der unser Schweigen mächtiger sein wird als die Stimmen, die ihr heute erstickt!“, lauteten die letzten Worte von August Spies, dem in Deutschland geborenen Herausgeber der Chicagoer Arbeiter-Zeitung.
Den Strick um den Hals, riefen die Gewerkschafter George Engel und Adolph Fischer: „Ein Hoch auf den Anarchismus!“ Als sich der Herausgeber der populärsten anarchistischen Wochenzeitschrift der USA, The Alarm, Albert Parsons, zu Wort melden wollte, öffnete sich die Falltür. Ein schneller Tod blieb den Delinquenten verwehrt, sie wurden langsam zu Tode stranguliert.
Die Hinrichtungen markierten das grausame Ende der „Haymarket Affair“ (auch „Haymarket Riot“ oder „Haymarket Massacre“ genannt), die in der Folge zu einem weltweiten Symbol des Kampfes für die Rechte der Arbeiter werden sollte.
Seit die Zweite Internationale 1889 den 1. Mai zum Internationalen Tag der Arbeit erklärt hat, sind die blutigen Ereignisse vom 1. bis 4. Mai 1886 in Chicago, die zu dem eingangs erwähnten Prozess führten, untrennbar mit dem Ersten Mai verbunden.
Die Haymarket-Affair
Am 1. Mai 1886, einem Samstag, sangen Tausende von streikenden Arbeitern an Kundgebungen in den gesamten Vereinigten Staaten das Arbeiterlied Eight Hours: „Eight hours for work, eight hours for rest, eight hours for what we will.“ Der Achtstundentag war die zentrale Forderung der Gewerkschaft, die für diesen Tag zu einem Generalstreik aufgerufen hatte.
Damals arbeiteten in Chicago zehntausende deutsche und böhmische Einwanderer. Ihr Tageslohn lag bei etwa 1,50 Dollar – bei 12 Stunden Arbeitszeit und einer Sechs-Tage-Woche. In der Stadt, die zu jener Zeit eines der bedeutendsten Industriezentren des Landes war, traten dreißig- bis vierzigtausend Arbeiter in den Streik.
Wer die Bombe warf, ist bis heute ungeklärt.
Die McCormick Harvesting Machine Company, eine Fabrik für landwirtschaftliche Geräte, reagierte mit Aussperrungen. Bis zu einer Kundgebung vor dem Werksgelände am 3. Mai war der Streik weitgehend gewaltfrei verlaufen. Doch bei Arbeitsschluss stellte sich eine Gruppe von Arbeitern den Streikbrechern entgegen, es kam zu Tumulten, die Polizei schoss in die Menge. Mindestens zwei McCormick-Arbeiter wurden erschossen, manche Zeitungen berichteten von sechs Toten.
Um gegen das brutale Vorgehen der Polizei zu protestieren, beriefen anarchistische Gewerkschaftsführer für den nächsten Tag eine Massenversammlung auf dem Haymarket Square ein. Erste Flugblätter, die zur Bewaffnung aufriefen, wurden auf Betreiben von August Spies wieder eingezogen.
Die Veranstaltung verlief friedlich, wie auch der als Beobachter teilnehmende Bürgermeister von Chicago, Carter Harrison, berichtete. Gegen 22:30 Uhr – die meisten Demonstranten hatten die Versammlung bereits verlassen – forderte ein Polizeiaufgebot die Menge auf, sich zu zerstreuen. Plötzlich explodierte eine Bombe. Im darauffolgenden Schusswechsel zwischen Polizei und Demonstranten wurden mindestens vier Arbeiter und sieben Polizisten getötet, Dutzende verwundet.
Wer die Bombe warf, ist bis heute ungeklärt. Die für den Anschlag verurteilten Angeklagten waren es jedenfalls nicht. Wie dreißig Jahre später Sacco und Vanzetti wurden sie nur verurteilt, weil sie Anarchisten waren.
Und jetzt?
Seit dem Aufstand am Haymarket in Chicago hat die Arbeiterbewegung in den westlichen Gesellschaften Fortschritte erreicht, die sich August Spies wahrscheinlich nicht einmal erträumen hätte können. In Gesprächen zwischen Arbeitgebern und -nehmern fällt heute öfter das Wort „Work-Life-Balance“ als „Ausbeutung“.
Dennoch wählen die Arbeiter nicht mehr sozialdemokratisch, sondern Parteien am linken oder rechten Rand. Viele sagen, die Sozialdemokratischen Parteien wären Opfer ihres eigenen Erfolges geworden, sie hätten sich quasi selbst wegrationiert.
Ich glaube das nicht. Es gibt genug Leute, die morgens nur deshalb aufstehen, weil sie sonst ihre Miete nicht zahlen können. Die in ungeliebten Jobs hart arbeiten, um sich und ihre Familie aus eigener Kraft bestmöglich über die Runden zu bringen. Der eigentliche Grund für die Entfremdung zwischen der arbeitenden Bevölkerung und der Sozialdemokratie ist nicht politisch, zumindest nicht im klassischen Verständnis des Wortes. Es geht vielmehr um Kultur, Stolz und Werte.
Der Stolz der Arbeiter
2019 analysierte der österreichische Autor Robert Misik treffend in der taz: „Die alte Arbeiterklasse, so Joan C. Williams [eine amerikanische Rechtswissenschaftlerin und Autorin, Anm.], habe einen Stolz gehabt und sie habe sich Anerkennung verschafft – bis sie gewissermaßen als zentrale soziale Schicht angesehen wurde oder sich zumindest so fühlen konnte. Diese Arbeiterklasse habe aber auch bestimmte Werte hochgehalten: den Stolz darauf, harte Arbeit zu leisten; die Vorstellung, dass man niemandem auf der Tasche liegen darf; dass man es mit eigener Tüchtigkeit schafft; dass man mit Handarbeit die Wirtschaft am Laufen hält, dass man zupackt, nicht zu verkopft ist. Dass man einfach ‚normal‘ ist. Zugleich war dieser Stolz sehr verletzlich. Dafür, respektlos behandelt zu werden, hatte man immer ein feines Sensorium. Ein egalitärer Geist prägte die Arbeiterklassenmoral, und wer sich für etwas Besseres hielt, war schnell unten durch. Die Angehörigen der Arbeiterklasse schätzen rigide Selbstdisziplin, weil sie nötig ist, um einen harten Job, den man hasst, vierzig Jahre lang machen zu können.“
Die Verachtung der Funktionäre
Heute hat die Sozialdemokratie ein riesiges Biotop für die Ihren geschaffen, in dem diese kaum von den Unbilden des freien Arbeitsmarktes angekränkelt werden. Nicht der erfolgreiche Arbeiter wird dem Gemeindebau als role model präsentiert, sondern der sozial aufgestiegene Akademiker. Eine bestimmte Schicht von Funktionären ist im Bürgertum angekommen. Man weiß einen Barolo von einem Bordeaux zu unterscheiden, isst Sushi, geht ins Theater und schmückt sich mit Künstlern, Sportlern und anderen Society-Größen.
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Für das Milieu, dem man entkommen ist, bleibt nur Verachtung. Die trinken Bier, grillen Schweinekoteletts und gehen in Gabalier-Konzerte. Dass Hillary Clinton Anhänger Trumps bei einer Wahlveranstaltung als „Korb voller Erbärmlichen“ (basket of deplorables) bezeichnete, hat sie möglicherweise die Präsidentschaft gekostet. Denn diejenigen, die man für die Erbärmlichen hält, mögen zwar gesellschaftlich nicht aufgestiegen sein, das feine Sensorium für Respektlosigkeit haben sie behalten.
Also wählen sie nicht jene, die sich von ihnen abgrenzen – um nicht zu sagen für sie schämen, sondern die, von denen sie glauben, dass sie sie nehmen, wie sie sind – und eine Politik für die machen, die arbeiten wie sie, anstatt für jene, die von der Arbeit anderer leben.
Wie sich die Geschichte entwickeln wird, die vor weit über hundert Jahren begann, kann niemand wissen. Aber wenn ich heute Bilder von Maiaufmärschen betrachte, sehe ich in graue Gesichter von grauen Gestalten, die Funktionskleidung oder schlechtsitzende Anzüge tragen. Stolz und „starke Arme“ sehe ich nicht.