Ungleichheit ist nicht per se ungerecht
Warum wird soziale Ungleichheit grundsätzlich als Problem gesehen? Die sozialistische Utopie verspricht eine Welt, in der alle Menschen gleich viel besitzen. Doch das Ergebnis wäre eine Gesellschaft, in der alle gleich arm sind.
Während einer Podiumsdiskussion der Wiener Denkfabrik Agenda Austria im Mai 2014 zum Thema Sozialstaat und Armutsbekämpfung klaubte Diskussionsteilnehmer Alexander Van der Bellen, damals für die Grünen im Wiener Gemeinderat und Universitätsbeauftragter der Stadt Wien, ein gerade neu erschienenes Buch aus seiner Mappe und knallte es vor dem Publikum auf den Tisch. Er habe es zwar noch nicht gelesen, aber da stehe die Wahrheit drin!
Piketty: Falsche Zahlen, falsche Schlüsse
Es handelte sich um den Bestseller Das Kapital im 21. Jahrhundert des französischen Ökonomen Thomas Piketty. Von diesem stammt, was heute alle für die Wahrheit halten: Die Kluft zwischen Reich und Arm sei während der letzten Jahrzehnte beständig gewachsen. Insbesondere hätte in den USA das eine Prozent ganz oben den Rest der Bevölkerung abgehängt.
Dieses Narrativ dominiert die Medien – sogar der liberale „Economist“ konstatierte aufgrund von Pikettys Daten eine wachsende Einkommenskonzentration an der Spitze. Das Narrativ beherrscht aber auch das öffentliche Bewusstsein und dient mancherorts bereits zur Rechtfertigung politischer Maßnahmen, die beabsichtigen, diese Ungleichheit zu beseitigen. Doch Pikettys Zahlen sind falsch und seine Schlüsse daraus ebenso.
Wie eine vor kurzem im Journal of Political Economy veröffentlichte Studie der amerikanischen Ökonomen Gerald Auten und David Splinter zeigt, berücksichtigen die von Piketty verwendeten Daten aus der US-Einkommensteuerstatistik weder die Verminderung der Beträge durch Steuern und Sozialtransfers noch eine datenrelevante Steuerreform aus dem Jahre 1987, noch Änderungen in der Bemessungsgrundlage.
Der Armut entronnen
Statt der von Piketty behaupteten Zunahme der Spitzeneinkommen um mehr als das Doppelte bleiben demnach nur noch mickrige drei Prozent Zuwachs übrig. Ganz abgesehen davon, dass Schulden, Humankapital (Ausbildungsniveau) und Sozialversicherungsansprüche ausgeblendet werden. Mit der Ungleichheit scheint es demnach nicht so weit her zu sein.
Warum wird soziale Ungleichheit grundsätzlich als Problem gesehen?
Meiner Ansicht nach ist ohnehin eine andere Frage wichtiger: Warum wird soziale Ungleichheit grundsätzlich als Problem gesehen? Selbst wenn Pikettys Zahlen stimmen würden: Wäre das wirklich ein Problem? Ist nicht während der letzten Jahrzehnte die Ungleichheit in China – und nicht nur dort – rasant gestiegen, obwohl gleichzeitig hunderte Millionen Menschen bitterer Armut entronnen sind?
In der Tat gibt es einen Kausalzusammenhang zwischen wachsender Ungleichheit und ansteigendem Massenwohlstand. Denn Letzterer ist nur möglich, wenn dadurch zumindest einige Unternehmen beziehungsweise deren Eigentümer über das normale Maß hinaus reicher werden. Wer in einer kapitalistischen Wirtschaft breite Schichten von Menschen besserstellt, wird als Eigentümer eines Unternehmens unweigerlich weit überdurchschnittlich daran verdienen.
Dieser Vermögenszuwachs beruht nicht auf Umverteilung von unten nach oben – also nicht darauf, dass irgendjemandem etwas vorenthalten oder gar weggenommen wird. Er beruht auf Wertschöpfung und Bereicherung anderer Menschen, der Konsumenten. In sozialistischen Systemen hat das nie funktioniert. Zwar stieg die Ungleichheit dort nicht an, aber auch der Wohlstand nahm nicht zu. Es gab dann weder Wertschöpfung noch irgendetwas zum Verteilen, und am Ende waren – außer der Nomenklatura – alle ungefähr gleich arm.
Der Nutzen der Ungleichheit …
Auch wenn Piketty mit seinen Zahlen falschliegt, so ist soziale Ungleichheit dennoch ein Faktum, und man kann nicht leugnen, dass sie sich mancherorts vergrößert hat. Doch die moralische Relevanz dieser Tatsache – und darum geht es Piketty und Co – ist beschränkt. Piketty selbst schrieb 2013: „Ungleichheit ist nicht per se etwas Schlechtes: Die zentrale Frage ist, ob sie gerechtfertigt ist, ob es gute Gründe für sie gibt.“ Gerechtfertigt sei Ungleichheit, wenn sie gemäß der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 „im allgemeinen Nutzen begründet“ ist. Das sei aber im Kapitalismus nicht der Fall. Denn im Kapitalismus sei die Wachstumsrate der Kapitalrendite stets höher als die Zunahme des Wirtschaftswachstums.
Die Reichen bereichern sich also auf Kosten der Armen. Diese Theorie gilt jedoch in Fachkreisen bereits als widerlegt. Auch ein Blick in die Geschichte genügt, um zu erkennen, dass sie nicht mit den Tatsachen übereinstimmt.
Während der letzten Jahrzehnte konnten sich infolge der Verbreitung kapitalistischer Produktionsweisen, marktwirtschaftlicher Strukturen und der Gewährung unternehmerischer Freiheit nicht nur in China, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt Milliarden Menschen aus extremer Armut befreien. Vormals arme Länder erlebten einen enormen wirtschaftlichen und auch sozialen Fortschritt, wodurch sich die Ungleichheit zwischen armen und reichen Ländern ständig verringerte und eine globale Mittelschicht entstand. Im Unterschied etwa zu den 1960er- und 1970er-Jahren gibt es heute auf allen Kontinenten und in praktisch allen Ländern eine wachsende Zahl von Personen, die der Mittelschicht angehören.
René Benkos Signa-Gruppe ist nur die Spitze des Eisbergs.
Zugegeben: Dieser Prozess hat zu neuen Ungleichheiten geführt. Denn wer für einen globalen Markt mit einer globalen Mittelschicht produziert, verdient als einzelnes Unternehmen ungleich mehr, als ein Unternehmen früher verdienen konnte. Man sieht dies besonders an den großen, global tätigen IT-Riesen. Ihr Wachstum und der Anstieg ihrer Gewinne, die sie zum großen Teil in Forschung und Entwicklung investieren, sind ihrer globalen Natur, den enormen Skaleneffekten und der Möglichkeit zu verdanken, dort zu produzieren, wo es am billigsten ist. Das schafft in ärmeren Ländern Einkommenschancen, führt aber in reichen Ländern zu Deindustrialisierung mit entsprechenden Einkommenseinbußen in den davon betroffenen Regionen.
All das ist die normale Entwicklung der „schöpferischen Zerstörung“ (Schumpeter), wie sie seit der industriellen Revolution überall zum Anstieg des Massenwohlstands führte – früher allerdings nur in einzelnen Regionen der Welt, heute überall. Andere, negativ zu bewertende Ungleichheitstreiber kamen dazu, vor allem die Politik des billigen Geldes. Niedrige Zinsen führten zu einer Bevorteilung der bereits Vermögenden. Sie konnten in Aktien und Immobilien investieren, was zum inflationären Anstieg ihrer Vermögenswerte, aber auch zu höheren Mieten führte.
Doch dieser durch gehebelte Kredite erreichte Reichtum hat keine Substanz. Mit dem Zusammenbruch von auf der Luft niedriger Zinsen gebauten Immobilienimperien hat die Korrektur bereits begonnen. René Benkos Signa-Gruppe ist nur die Spitze des Eisbergs.
… ist wachsender Wohlstand
Dass der Kapitalismus Ungleichheit schafft, ist keine „Schuld“, die er abzubüßen hätte. Erfolgreiche Unternehmer müssen der Gesellschaft nichts „zurückgeben“, auch wenn sie dies aus Imagegründen selbst oft deklarieren.
Ungleichheit per se ist weder gerecht noch ungerecht, auch wenn sie unerwünscht oder beklagenswert sein kann.
In Wirklichkeit ist die vom Kapitalismus geschaffene Ungleichheit zum größten Teil eine gute oder, um es mit Piketty und der französischen Menschenrechtserklärung zu sagen, „im allgemeinen Nutzen begründete“ Ungleichheit. Ich sage bewusst nicht, sie sei „eine gerechte“, sondern sie sei „eine gute“ Ungleichheit im Unterschied zu einer „schlechten“ Ungleichheit, die eben nicht mit einer Vermehrung des allgemeinen Wohlstands einhergeht.
Ungleichheit per se ist weder gerecht noch ungerecht, auch wenn sie unerwünscht oder beklagenswert sein kann. Um vor dem moralischen Gewissen gerechtfertigt werden zu können, muss Ungleichheit nicht „gerecht“ sein, es genügt, dass sie „nicht ungerecht“ ist, im Prozess ihrer Entstehung also niemandem Unrecht getan wurde.
Wer seinen Reichtum durch produktives Wirtschaften vermehrt und dabei überproportional reicher wird, ohne anderen etwas wegzunehmen, sondern sogar deren Wohlstand anhebt – das ist die Logik des Kapitalismus –, der tut nichts Ungerechtes, sondern etwas für die Allgemeinheit außerordentlich Nützliches. Die einseitige Fokussierung auf das Thema „Ungleichheit“ ist deshalb in Wirklichkeit zynisch. Wer so argumentiert, dem ist offenbar Gleichheit wichtiger als der effektive Wohlstand der Menschen. Statt monotoner Skandalisierung von Ungleichheit wäre es wichtiger, sich zu fragen, weshalb Menschen in Armut gefangen bleiben. Barrieren für den Zugang zu Bildung müssen abgebaut und vermehrt Anreize für die Integration in den Arbeitsmarkt geschaffen werden.
Die wichtigste liberale Forderung
Doch lieber nährt man den Neid von Geringverdienern und wenig Vermögenden, als ob diese aufgrund des Reichtums der „Superreichen“ benachteiligt würden. Nicht wenige prominente Superreiche hingegen – oft Erben – zelebrieren selbst ein schlechtes Gewissen oder haben sogar wirklich eines, weil sie den für die Allgemeinheit segensreichen Zusammenhang zwischen ihrem Reichtum und kapitalistischer Wertschöpfung nicht verstehen. Doch es gibt auch Ungleichheit, die eine Folge von Ungerechtigkeit und deshalb selbst ungerecht ist. Die Geldpolitik der extrem niedrigen Zinsen wurde bereits erwähnt; die Inflationierung des Geldes durch den Staat ist an sich schon ungerecht, weil sie als verdeckte Steuer die niedrigen Einkommensschichten am härtesten trifft.
Durch Ungerechtigkeit verursachte Ungleichheit findet man vor allem dort, wo Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Hautfarbe, Religion oder anderer Merkmale von Gesetzes wegen der Zugang zu höherer Bildung und lukrativen oder prestigebehafteten Berufszweigen verwehrt bleibt.
So durften Juden früher kein Land besitzen, der Zugang zum Beruf des Arztes, Rechtsanwalts, höheren Offiziers und zu anderen Funktionen war ihnen gesetzlich versperrt. Solche Diskriminierungen ganzer Gruppen von Menschen führen zu niedrigeren Einkommen und geringerem sozialen Status. Weil derartige Diskriminierungen ungerecht sind, sind es auch die Ungleichheiten, die daraus resultieren.
Am wichtigsten ist die liberale Forderung nach Gleichheit vor dem Gesetz.
Deshalb ist die fundamentale und damit auch ungerechteste aller Ungleichheiten die Ungleichheit vor dem Gesetz. Umgekehrt formuliert: Am wichtigsten ist die liberale Forderung nach Gleichheit vor dem Gesetz. Ebendiese wird von sozialistischer Seite aber gerne als „formalistisch“ kritisiert. Sie begünstige immer nur die Begüterten und Reichen.
Das Verbot, zu betteln, unter Brücken zu schlafen oder Brot zu stehlen, so das klassische Beispiel aus dem Roman Le lys rouge von Anatole France von 1894, gelte zwar für alle gleich, habe aber doch für Reiche und Arme ganz verschiedene praktische Auswirkungen. Entscheidend sei deshalb, zunächst einmal ein hohes Maß an materieller Gleichheit zu schaffen. Erst dann sei auch die Gleichheit vor dem Gesetz wirkliche Gleichberechtigung im Sinne der Gleichheit der Ausgangspositionen und damit der Chancen.
Dieses immer wieder in den verschiedensten Varianten angeführte – in seinem Kern marxistische – Argument klingt verführerisch, übersieht jedoch einen entscheidenden Punkt: Die materielle Besserstellung der Ärmsten gelang stets nur in Gesellschaften, in denen das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz – und eng damit verbunden der Schutz des Eigentums – Vorrang vor sozialpolitischem Interventionismus mit dem Zweck der Schaffung materieller Gleichheit hatte. Es war nicht die Sozialpolitik, die den modernen Massenwohlstand schuf, sondern der Prozess der kapitalistischen Wertschöpfung. Erst die Bereicherung der Massen durch enorme Produktivitätsgewinne ermöglichte in der Folge auch sozialpolitische Maßnahmen.
Eine gefährliche Utopie
Effektive Chancengleichheit, wie sie immer wieder gefordert wird, ist letztlich eine gefährliche Utopie. Die Bildungsferne bestimmter sozialer Schichten, aber auch andere, nicht primär materielle, sondern eher kulturelle und psychologische Barrieren lassen sich durch sozialpolitische Maßnahmen und finanzielle Transfers nicht einfach überwinden. Eine solche Politik würde Eingriffe in die Gesellschaft, die persönliche Freiheit und marktwirtschaftliche Prozesse legitimieren, die sich gerade für die sozial am schlechtesten gestellten Schichten als schädlich erweisen könnten.
Abgesehen davon ist eine ungleiche Gesellschaft differenzierter und hat ein höheres Potenzial. Der aktuelle Fachkräftemangel ist auch eine Folge des Bestrebens, höhere akademische Bildung möglichst vielen zugänglich zu machen. Das heißt nicht, es solle keine öffentliche oder private Förderung Angehöriger materiell benachteiligter Schichten geben. Diese sollte aber strikt nach Leistungskriterien geschehen, wobei wiederum das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz einzuhalten ist. Da aber Begabungen von Natur aus ungleich verteilt ist, wird auch dies nicht zur Gleichheit der Ausgangspositionen führen – im Gegenteil.
Fazit
Soziale Ungleichheit ist nicht grundsätzlich ungerecht. Aus der Geschichte lernen wir, dass wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit in einer kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung eine Folge der Schaffung von Massenwohlstand ist. Die vom Kapitalismus bewirkte Ungleichheit nützt folglich der Allgemeinheit. Wer im Namen der Gerechtigkeit solche Ungleichheit ausrotten will, wird Wohlstand zerstören und damit vor allem die sozial Schwächsten treffen. Alle bekannten kapitalismuskritischen Skandalisierungen von Ungleichheit blenden diese Zusammenhänge aus oder verschleiern sie mit ideologischen Konstrukten. Stattdessen müsste man gerade im Interesse der sozial Schwachen den Fokus auf die wichtigste Norm einer gerechten Gesellschaft lenken: die Gleichheit vor dem Gesetz.
Teil I der Pragmaticus-Serie über den Sozialismus finden Sie hier. In der kommenden Ausgabe erzählt Schriftsteller Lutz Rathenow aus dem Leben im Absurditätenkabinett der DDR und von seiner Lieblingszahnpasta.
Das ewige Scheitern des Sozialismus
Wo immer der Sozialismus regierte, verursachte er Armut, Willkür und Unfreiheit. Dennoch ist Karl Marx’ Utopie einer klassenlosen Gesellschaft nicht totzukriegen.