Trauma – wie Leid vererbt wird
Ein Trauma muss man nicht selbst erlebt haben: Seelische Wunden sind oft ein Familienerbe. Die Psychoanalytikerin Galit Atlas im Interview.
Es gibt Ereignisse im Leben, die so tiefgreifend erschüttern, dass danach nichts mehr wie vorher ist. Solche Traumata können sich in einer Familie verfestigen und an die Kinder und Enkel weitergegeben werden. Die Psychoanalytikerin Galit Atlas setzt sich seit Jahrzehnten mit den Themen transgenerationales Trauma und Bindungstheorie auseinander. Ihr Buch „Emotionales Erbe“ ist in den USA ein Bestseller.
Frau Atlas, Sie erzählen in Ihrem eben auf Deutsch erschienenen Buch von Menschen, die in Krisensituationen kommen und im Rahmen einer Therapie entdecken, dass ihre psychischen Probleme von traumatischen Erfahrungen herrühren, die nicht sie selbst, sondern ihre Vorfahren erlebt haben. Wie ist das zu erklären?
Galit Atlas: Traumaforschung ist ein Gebiet, das in den letzten Jahren einen großen Aufschwung erfahren hat. Maßgeblich dafür waren neue biomolekulare und neurowissenschaftliche Erkenntnisse, die genetisch sichtbar machten, wie stark Generationen miteinander verbunden sind. Empirisch sahen Psychoanalytiker diese Verbindungen bereits in den 1950er-Jahren an Patienten und Patientinnen, deren Vorfahren den Holocaust überlebt hatten. Oft waren ja auch die Familien der Psychoanalytiker vor den Nazis geflohen, und man erkannte, dass die Kinder der Überlebenden Probleme hatten, obwohl sie die Gräuel nicht direkt erleben mussten.
Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust wirkten und wirken also bis heute nach?
Verfolgung, Vertreibung oder Gewalt sind existenzielle Ereignisse, die eine ganze Generation erschüttert haben. Es dauerte eine Zeit, bis sich die Folgen für die Kinder der Überlebenden zeigten. Wobei ich an dieser Stelle auch betonen will, dass nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter in einem Krieg emotionale Traumata erleiden, die sie weitergeben. Oftmals werden solche einschneidenden, existenziell bedrohlichen Ereignisse in einem Leben ja auch verschwiegen. Und gerade deshalb sind sie für die Kinder und Kindeskinder besonders beeinträchtigend.
Prägende Erinnerungen bleiben lange über den Tod einer Person hinaus bestimmend.
Was genau ist ein Trauma?
Es ist ein existenziell bedrohliches Ereignis, mit dem eine Art Todesangst verbunden ist. Während einer traumatischen Situation schüttet der Körper eine Hochdosis von Cortisol aus, ein Stresshormon, das den Organismus in Alarmbereitschaft versetzt und den Körper in einen Fluchtmodus versetzt. So eine Situation beeinflusst den gesamten Organismus. Wie jüngste Forschungen zeigen, sind auch die Gene indirekt betroffen. Durch ein Trauma kann sich die Gen-Expression verändern, also der Bauplan, mit dem Proteine hergestellt
werden. Das ist der epigenetische Effekt eines Traumas.
Epigenetik ist eine indirekte Wirkung?
Nicht das Gen, sondern seine Funktion verändert sich, so erklären es Fachleute.
Warum verkraften manche Menschen Traumata besser als andere?
Zum einen, weil es unterschiedlich schwere Formen von Traumata gibt. Ein kollektives Schockerlebnis wie zum Beispiel 9/11 wird als Katastrophe erlebt, die gemeinsam bewältigt wird. Kriegserlebnisse haben eine andere Dimension.
Sie beschreiben auch individuelle Schicksalsschläge als folgenschwer.
Genau, für Familien, in denen ein Kind gestorben ist oder sich ein Suizid ereignet hat, verändert sich alles. Zudem gibt es einen Unterschied, ob ein Trauma ein singuläres Ereignis ist oder traumatische Erlebnisse über Jahre andauern. Eine Kollegin vergleicht diese Art der genetischen Vererbung gerne mit Kuchenbacken. Mit exakt denselben Zutaten lassen sich viele unterschiedliche Kuchen produzieren. Die Menge der Zutaten und die Temperatur des Backrohrs bestimmen, was dabei herauskommt. Denn auch Resilienz, also die Fähigkeit, mit schwierigen Situationen zurechtzukommen, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich.
Sie beschäftigen sich als Psychoanalytikerin mit familiären Traumata. Worauf legen Sie Ihren Fokus?
In jeder Familie gibt es Traumata. Krieg, Terror oder Flucht sind sicherlich die einschneidendsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann. Sie haben einen Effekt auf nachfolgende Generationen. Doch auch persönliche Schicksalsschläge wie der Tod eines Kindes können eine Familie aus dem Lot bringen. Oder denken Sie an das
Scheitern von Beziehungen, also die Tatsache, dass ein Elternteil plötzlich aus dem Haushalt verschwindet. Mich interessieren die emotionalen Aspekte solcher Ereignisse und die Frage, wie sich Traurigkeit, Wut oder Verletzungen über Generationen fortpflanzen. Sie erschienen mir so wichtig, dass ich ein Buch darüber geschrieben habe.
Worauf stützen Sie sich theoretisch?
Zum einen auf die Kleinkindforschung und die Erkenntnisse darüber, wie Babys mit ihren Bezugspersonen interagieren. Zum anderen aber auch auf die Bindungsforschung, in der die emotionalen Verbindungen zwischen Kleinkindern, ihren Müttern und Vätern untersucht werden. Bindung ist für die Entwicklung der Persönlichkeit weichenstellend. Und es ist häufig, dass die Bindungsfähigkeit durch ein Trauma beeinträchtigt ist.
Können Sie beschreiben, was Sie genau damit meinen?
Jedes Kind, das auf die Welt kommt, ist in einem Überlebenskampf. Ohne Bezugsperson würde ein Baby sterben. Deshalb ist es lebensnotwendig, dass Neugeborene sich voll auf ihre Bezugsperson einstellen. Sie tun es, indem sie die Welt über deren Gefühlswelt kennenlernen. Sie erfahren die Realität aus dem Inneren der Bezugsperson heraus. Es gibt Videoanalysen, die zeigen, wie dynamisch dieser Prozess zwischen Mutter und Kind zu jedem Moment ist. Es handelt sich um eine Beeinflussung nach beiden Seiten.
Wie meinen Sie das?
Ein Baby ist kein passives Wesen, im Gegenteil: Wir sehen in den Videos, dass Kleinkinder nicht nur auf ihre Mutter fixiert sind, sondern dabei auch das Umfeld abchecken und in Bezug setzen. Dieses Spiel aus Aktion und Reaktion ist entscheidend, denn Kleinkinder registrieren erstaunlicherweise auch alles, was nicht stattfindet, was verschwiegen oder vermieden wird. Das wird auf eine körperliche Art und Weise kommuniziert. Ererbte Emotionen werden nicht verbal weitergegeben, das macht ja die Schwierigkeit in einer Therapie aus. Es geht um das Ungesagte.
Das klingt geheimnisvoll.
Ja, weil die Kommunikation in den ersten Lebensjahren vor allem über körperliche Signale funktioniert. Babys registrieren sämtliche Emotionen ihrer Bezugsperson und bekommen damit auch mit, was Probleme macht. Ein Gefühl zu unterdrücken erfordert psychisch die meiste Energie. Am Ende ist es diese Kraft, die das, worüber in Familien nicht gesprochen wird, also die Auslassungen, prägend macht. In einer Psychotherapie kann es gelingen, solche Lücken aufzuspüren und Verborgenes ans Licht zu bringen. Sie sind oft der Schlüssel für Probleme.
Es ist also eine Detektivarbeit?
Das ist es auch manchmal. Allerdings sind familiäre Konstellationen niemals der Anlass, warum jemand in eine Therapie kommt. Bei mir in Behandlung sind Leute, die mit ihrem Leben nicht klarkommen, die psychische Probleme wie Burnouts oder Panikattacken haben oder die nicht verstehen, warum sie tun, was sie tun. Typisch für den Beginn einer Therapie sind auch oft jene Lebensphasen, in denen die Entscheidung, selbst eine Familie zu gründen, Probleme macht. Es sind Lebensabschnitte, in denen man sich mehr oder weniger bewusst mit der eigenen Geschichte auseinandersetzt.
Babys wachsen in der Gefühlswelt ihrer Bezugspersonen auf. Sie registrieren alles.
Was ist das Ziel der Therapie?
Im Rahmen einer Psychoanalyse gilt es zu verstehen, warum etwas so ist, wie es ist. Im Buch beschreibe ich Fälle, in denen ererbte Traumata Beziehungsprobleme verursachen. Zum Beispiel geht es um einen Ehebetrug, der zu totalem Kontrollverlust führt. Traumata wirken niemals direkt und geradlinig, sondern sie nehmen verworrene, oft chaotische Wege. Es dauert also oft eine Zeit, bis man die prägenden Ereignisse in einer Familiengeschichte erkennen kann.
Warum funktionieren solche psychoanalytischen Nachforschungen auch dann, wenn die Vorfahren längst gestorben sind?
Am Anfang jeder Therapie steht das, was ich einen „Me-Search“ nenne, also eine Art von Selbstbeobachtung. Erinnerungen sind ein wichtiger Teil davon. Wie sich eine Person sieht, wird naturgemäß von Vätern, Müttern, Großvätern, Großmüttern aber auch von Tanten und Onkeln geprägt; eben von allen Menschen, mit denen ein Kind aufwächst. Diese Eindrücke halten bis weit über deren Tod hinaus an. Erinnerungen sind also jene Einheiten, die in einer Person bestehen und damit auch zugänglich bleiben.
Wenn großes Unglück in einer Familie passiert, ist das aber den Nachfahren doch meistens bekannt, oder?
Das stimmt, doch es handelt sich meist um ein sehr diffuses Wissen. Die wenigsten stellen einen Bezug zu ihrem eigenen Leben her und fragen sich nicht, was die schrecklichen Ereignisse von früher mit der eigenen Person machen. Und genau das ist die Arbeit, die in der Therapie passiert.
Wie läuft das Aufdecken solcher Probleme ab?
Die entscheidenden Fragen, um die Geister aus der Vergangenheit zu ergründen, sind immer: Was ist passiert? Und wem ist es genau passiert? Das ist der Start. Die meisten Menschen haben die Geschichten ihrer Vorfahren ohnehin unbewusst mit dabei. Wenn es gelingt, ererbte Gefühle zu ergründen, ist in meiner Praxis plötzlich nicht nur der Klient selbst in Behandlung, sondern es sind auch die Eltern und Großeltern dabei. Es ist so, als würden drei Generationen auf meiner Couch sitzen.
Und was passiert dann?
In der Therapie eröffnet sich eine neue Ebene der Betrachtung, eine neue Sicht, die es den Klientinnen und Klienten ermöglicht, Dinge, die sie möglicher weise diffus schon lange gewusst haben, in einem neuen Licht zu sehen.
Trotzdem: Die Vergangenheit lässt sich ja nicht ändern, oder?
Wir gehen davon aus, dass alles, worüber eine Person nicht Bescheid weiß, eine sehr starke Kraft ausüben kann. Unbekanntes erzeugt Gefühle, die sich nicht gut steuern lassen. Genau das führt auch zu psychischen Krisen. Sie können oft aus einer ganz anderen Ecke kommen und sich zum Beispiel als Beziehungsproblem äußern. Der Seitensprung in der Ehe, den man eigentlich gar nicht will, steht als Beispiel im Buch. Tatsächlich ist das ein sehr häufiges Problem, das wir in Psychoanalysen oft sehen. Wer die Ursache für sein Verhalten begreift, hat die Möglichkeit, die Kontrolle wieder zurückzugewinnen.
Lügen und Verschweigen erfordern einen sehr hohen emotionalen Energieaufwand.
Wie äußert sich das dann?
In der Tatsache, dass man plötzlich eine Wahlmöglichkeit hat, sich also zwischen dem einen und dem anderen bewusst entscheiden kann. Damit bekommen Menschen die Hoheit über das eigene Leben und Handeln zurück. Wer versteht, ist nicht ausgeliefert. Insofern kann das Aufdecken von Familiengeheimnissen eine unmöglich geglaubte Selbstbestimmung zurückbringen. Für Menschen, die Traumata übernommen haben, bedeutet das eine neue Autonomie. Jene, die es erleben, empfinden es positiv, kann ich aus Erfahrung sagen. Es lindert das psychische Leid, das der Grund war, warum sie psychotherapeutische Hilfe gesucht haben.
Was ist anders, wenn jemand das Leben seiner Vorfahren besser kennt?
Es ist, als ob ein Bild, das bis dahin schwarz-weiß war, Farbakzente und Nuancen bekommt, sich damit auch das Gesamtbild vollkommen verändert.
Und was passiert, wenn jemand ererbte Traumata einfach hinnimmt, also nichts macht?
Dann bleiben ererbte Muster bestehen, werden weitergelebt und eventuell auch an die nachfolgende Generation weitergegeben.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Es ist eine empirische Beobachtung, dass das notorische Betrügen von Ehepartnern einen generationenübergreifenden Effekt hat. Betrug als Ereignis hat eine große Sprengkraft für ein Familiengefüge und wird zudem oft als Geheimnis behandelt, eine Sache, über die Stillschweigen bewahrt wird. Doch gerade das Lügen und Verschweigen erfordert einen hohen Energieaufwand, den Kinder deshalb auf einer unbewussten Ebene mitbekommen und der ihnen als Konstellation dann vertraut wird. Betrug und Verlustangst sind stark miteinander gekoppelte Gefühle, die auf diese Weise in der nächsten Generation wiederholt werden.
Warum wird es wiederholt?
Es gibt einen inneren Drang im Menschen, Dinge, die schiefgelaufen sind, wiedergutmachen zu wollen. Doch interessanterweise läuft es oft so, dass jemand, der eigentlich das Ziel der Versöhnung verfolgt, die Fehler unbewusst wiederholt. Es gibt ein dialektisches Verhältnis zwischen Wiederholung und Wiedergutmachung. Es ist wichtig, diese Dynamik zu verstehen.
Wie lässt sich dieser Zyklus durchbrechen?
Trauer spielt eine wichtige und entscheidende Rolle. Trauer ist ein komplexer innerer Prozess, der dazu führt, Dinge akzeptieren zu lernen, sie als unveränderlich hinzunehmen. Es ist ein Vorgang, der eine Art kampflose Hingabe, ein Akzeptieren von Schmerz, Chaos und Ungerechtigkeit erfordert.
Und damit lassen sich ererbte Gefühle blocken?
Vielleicht nicht blocken, aber sicherlich verändern, um sie für nachfolgende Generationen leichter verdaulich zu machen. Das Trauma bleibt, verliert aber seine rohe Kraft.
Macht es resilient oder stabiler?
Resilienz ist ja wiederum etwas, was Teil des emotionalen Erbes sein kann und weitergegeben wird. Insofern hoffe ich, ja. Die Fähigkeit, Hoffnung und Zuversicht zu haben, ist überlebenswichtig. Emotionales Erbe kann auch viele positive Dinge enthalten.
Welche zum Beispiel?
Humor zum Beispiel. Er ist eine Strategie, um mit unangenehmen Situationen zurechtzukommen, sich Ereignissen anzunähern oder sie fernzuhalten. Auch Kreativität wird von Generation zu Generation weitergegeben. Es gibt viele Wege, Traumata in der Familie zu verarbeiten und daraus im eigenen Leben zu etwas Positivem zu verwandeln.