Warum wir die Hassrede schützen müssen

Er habe noch nie so viel Antisemitismus erlebt wie nach dem 7. Oktober, sagt Erwin Chereminsky, Dekan der UC Berkeley School of Law. Trotzdem findet er: Die Meinungsfreiheit muss auch Hassreden umfassen, das sei unerlässlich für die Demokratie.

New York, 15. November 2023: Studierende bei einer Demonstration zur Unterstützung Palästinas und für freie Meinungsäußerung außerhalb des Campus der Columbia University. Sie halten ein Banner mit der Aufschrift „By any means necessary“ (mit allen erforderlichen Mitteln). Das Bild illustriert einen Artikel zum Thema Hassreden.
New York, 15. November 2023: Studierende bei einer Demonstration zur Unterstützung Palästinas und für freie Meinungsäußerung außerhalb des Campus der Columbia University. Die Universität hatte zuvor zwei Studentenorganisationen wegen Verstoßes gegen die Universitätsrichtlinien suspendiert. © Getty Images

Kontroversen über die freie Meinungsäußerung auf dem Campus von US-amerikanischen Universitäten gibt es schon lange, aber seit dem 7. Oktober sind sie neu entbrannt. Der Krieg zwischen Israel und der Hamas löst auf allen Seiten tiefe Emotionen aus. Es gibt anscheinend keine Überschneidung zwischen denjenigen, die glauben, dass Israel nicht existieren sollte, und denjenigen, die glauben, dass die Existenz Israels zwingend notwendig ist. Einige prangern Äußerungen an, die sie als antisemitisch empfinden, während andere Äußerungen verurteilen, die sie als islamfeindlich oder antimuslimisch ansehen.

Anders als in den meisten europäischen Ländern gibt es in den Vereinigten Staaten einen verfassungsrechtlichen Schutz auch für Hassreden. Ich werde häufig gefragt, wo die Grenze zwischen freier Meinungsäußerung und Hassrede gezogen wird. Aber das ist eine falsche Dichotomie: Auch Hassrede im Allgemeinen ist durch den ersten Verfassungszusatz geschützt. Dazu gehören rassistische, homophobe, sexistische, antisemitische oder islamfeindliche Äußerungen.

Die Äußerung einer Idee darf nicht verboten werden

Der erste Zusatzartikel zur Verfassung – das First Amendment – der Vereinigten Staaten bedeutet vor allem, dass alle Ideen – auch sehr anstößige – geäußert werden können. Es gibt sicherlich Ideen und Meinungen, von denen wir alle hoffen, dass sie niemals geäußert werden – aber die zentrale Prämisse des Ersten Verfassungszusatzes steht über dieser Hoffnung: Dass es nämlich schlimmer ist, der Regierung die Macht zu geben, bestimmte Ideen zu verbieten, als zuzulassen, dass sie geäußert werden. 

Wie der Oberste Richter John Roberts erklärte, „kann eine Meinung nicht eingeschränkt werden, nur weil sie beunruhigend ist oder Verachtung hervorruft. Wenn es ein Grundprinzip gibt, das dem Ersten Verfassungszusatz zugrunde liegt, dann ist es, dass die Regierung die Äußerung einer Idee nicht verbieten darf, nur weil die Gesellschaft die Idee selbst als beleidigend oder unangenehm empfindet.“

Der Supreme Court, der Schützer der Meinungsfreiheit

Private Universitäten müssen sich nicht an den Ersten Verfassungszusatz halten, der nur für staatliche Einrichtungen gilt. Die meisten Privatuniversitäten sind jedoch bestrebt, die Grundsätze der Redefreiheit und der akademischen Freiheit einzuhalten; und verfügen über eine Campus-Politik, die den verfassungsrechtlichen Verpflichtungen öffentlicher Universitäten entspricht.

Mehr als 300 Hochschulen und Universitäten erließen Gesetze gegen Hassreden, und jedes dieser Gesetze wurde für verfassungswidrig erklärt.

Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist es klar, dass der Erste Verfassungszusatz das Recht auf die Äußerung von Hass schützt. Jeder Versuch von Regierungen, Hassreden in den Vereinigten Staaten zu verbieten oder zu bestrafen, wurde für verfassungswidrig erklärt. So erklärte der Oberste Gerichtshof der USA, der Supreme Court, 1992 einstimmig eine Verordnung in St. Paul, Minnesota, für verfassungswidrig, die das Verbrennen eines Kreuzes oder das Malen eines Hakenkreuzes in einer Art und Weise, die geeignet war, Wut, Schrecken oder Unmut zu verursachen, verbot. Ebenso hob der Gerichtshof 2003 ein Gesetz in Virginia auf, das das Verbrennen von Kreuzen untersagte. Anfang der 1990er Jahre erließen mehr als 300 Hochschulen und Universitäten Gesetze gegen Hassreden, und jedes dieser Gesetze, das vor Gericht angefochten wurde, wurde für verfassungswidrig erklärt.

Was ist eigentlich Hassrede?

Der Supreme Court hat betont, dass die Regierung niemals eine Meinung mit der Begründung, sie sei anstößig, verbieten kann, selbst wenn sie sehr anstößig und widerlich ist. Im Juni 2017 erklärte der Supreme Court einstimmig: „Sprache, die aufgrund von Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Religion, Alter, Behinderung oder einem anderen ähnlichen Grund herabwürdigt, ist hasserfüllt; aber der größte Stolz unserer Rechtsprechung zur freien Meinungsäußerung ist, dass wir die Freiheit schützen, 'den Gedanken zu äußern, den wir hassen'.“  Die Regierung, öffentliche Hochschulen oder die Städte, in denen sie angesiedelt sind, genauso wie die Regierungen der Bundesstaaten dürfen Meinungen nicht verbieten oder bestrafen, nur weil sie Hass ausdrücken.

Warum? Zum Teil liegt es daran, dass es nicht möglich ist, den Begriff der Hassrede so zu definieren, dass er nicht verfassungswidrig vage oder zu weit gefasst ist. Viele europäische Gesetze verbieten Äußerungen, die aufgrund von Rasse, Geschlecht, Religion oder sexueller Orientierung „stigmatisieren“ oder „erniedrigen“. Gerichte in den Vereinigten Staaten haben diese Formulierung jedoch als zu vage befunden.

„Feuer!“ rufen ist trotzdem verboten

Noch wichtiger ist, dass der Kern des Schutzes der Redefreiheit durch den ersten Verfassungszusatz darin besteht, dass alle Ideen geäußert werden können. So sollte es auch sein. Sobald die Regierung wählen kann, welche Ideen erlaubt sind, gibt es für die Zensur kein Halten mehr. Hassreden drücken eine Idee aus, auch wenn wir uns wünschen, dass diese Idee nicht existiert. Darüber hinaus zeigen die Erfahrungen in anderen Ländern und in den Vereinigten Staaten, dass Gesetze, die Hassreden verbieten, oft gegen Minderheiten eingesetzt werden, also gegen genau die Personen, die diese Gesetze schützen sollen.

Der Gerichtshof hat anerkannt, dass es Kategorien von Äußerungen gibt, die verboten und bestraft werden können.

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Redefreiheit absolut ist. Vor langer Zeit hat der Supreme Court erklärt, dass es kein Recht gibt, in einem überfüllten Theater fälschlicherweise „Feuer!“ zu rufen. Der Gerichtshof hat anerkannt, dass es Kategorien von Äußerungen gibt, die verboten und bestraft werden können. Kinderpornographie zum Beispiel ist nicht durch den ersten Verfassungszusatz geschützt.

Wann ist eine Meinung nicht mehr geschützt?

Auch auf dem Campus gibt es einen Punkt, an dem eine Äußerung nicht mehr durch den Ersten Verfassungszusatz geschützt ist: Wenn die Meinungsäußerung in eine Aufforderung übergeht, zu einer illegalen Handlung aufzurufen oder eine echte Bedrohung oder Belästigung darstellt. Für jedes dieser Konzepte gibt es einen rechtlichen Test, der festlegt, wann die Rede durch den Ersten Verfassungszusatz geschützt ist: Bei der Anstachelung zu einer illegalen Tat muss es sich um eine Äußerung handeln, die wahrscheinlich zu einer unmittelbar bevorstehenden rechtswidrigen Handlung führt und auf eine unmittelbar bevorstehende rechtswidrige Handlung gerichtet ist. Dies ist ein schwer zu erfüllender Standard.

Um eine „echte Bedrohung“ darzustellen, die nicht durch den Ersten Verfassungszusatz geschützt ist, muss es sich um eine Äußerung handeln, die insofern grob fahrlässig ist, als dass ein erhebliches Risiko, dass die Äußerung als Gewaltaufruf wahrgenommen wird, bewusst außer Acht gelassen wurde. Diesen Standard hat der Supreme Court im Juni 2023 verkündet, so dass noch viel Ungewissheit darüber besteht, wie dieser Standard angewandt werden wird.

Eine PR-Katastrophe

Was die Belästigung anbelangt, so lautet der offizielle Standard des Bildungsministeriums, dass Universitäten reagieren müssen, wenn die Äußerungen „subjektiv und objektiv beleidigend und so schwerwiegend oder durchdringend sind, dass sie die Fähigkeit einer Person einschränken, an einem Bildungsprogramm oder einer Aktivität teilzunehmen oder davon zu profitieren“. Das Gesetz enthält also keinen klaren Grundsatz dafür, wie zu bestimmen ist, wann eine Äußerung so schwerwiegend oder durchdringend ist, dass sie die Bildungschancen wesentlich beeinträchtigt.

Bei einer Anhörung vor dem Kongress Anfang Dezember wurden drei Präsidenten angesehener Universitäten gefragt, ob die Befürwortung des Völkermords an den Juden auf ihrem Campus bestraft werden würde. Sie wurden an den Pranger gestellt, weil sie sagten, dies hänge vom Kontext ab. Rechtlich gesehen hatten sie jedoch recht, auch wenn ihre Antworten eine Katastrophe aus einem PR-Blickwinkel waren. Der Erste Verfassungszusatz legt eine absolute Schranke für das, was öffentliche Universitäten und Hochschulen gegen vereinzelte Äußerungen selbst abscheulicher Ansichten durch Studenten oder Lehrkräfte tun können.

Wer bestimmt, was ein Genozid ist?

Es ist verlockend zu sagen, dass jede Befürwortung von Genozid verboten werden sollte und nicht in den Geltungsbereich des ersten Verfassungszusatzes fällt. Das ist jedoch nicht das Gesetz und war es auch nie. Der Regierung eine solche Zensurbefugnis zuzugestehen, wäre nicht leicht zu bewerkstelligen. Einige argumentieren, dass das, was Israel in Gaza tut, Genozid ist. Könnte eine Universität dann Reden verbieten, die Israel unterstützen? Abtreibungsgegner haben die Abtreibung oft als eine Form des Völkermords bezeichnet. Könnte eine Universität, alle Meinungen verbieten, die Abtreibung unterstützen?

Die Hochschulleitung kann antisemitische oder islamfeindliche Äußerungen verurteilen.

Es muss daran erinnert werden, dass es viele Dinge gibt, die Universitäten tun können, um auf Äußerungen zu reagieren, die schreckliche Ideen zum Ausdruck bringen; sogar Belästigungen, die nicht unbedingt eine Bestrafung der Äußerungen nach sich ziehen. Die Hochschulleitung kann antisemitische oder islamfeindliche Äußerungen verurteilen. Sie kann Aufklärungsprogramme und Schulungen für Studierende und Lehrkräfte über Antisemitismus und Islamfeindlichkeit anbieten. Die Universitäten können sicherstellen, dass Redner aller Seiten zu einem Thema eingeladen werden. Die Hochschulen können den Studierenden Unterstützung anbieten, einschließlich psychosozialer Hilfen.

Universitäten können – inhaltsneutrale – Beschränkungen in Bezug auf Zeit, Ort und Art und Weise der Meinungsäußerung durchsetzen, solange sie angemessene alternative Orte vorsehen. Viele Schulen verbieten beispielsweise auch die Verwendung von Verstärkeranlagen auf dem Campus, weil sie befürchten, dass der Lärm den Unterricht und andere universitäre Aktivitäten stören könnte. Es besteht kein Zweifel, dass eine solche Regelung verfassungsgemäß ist, ebenso wie solche, die Demonstrationen in der Nähe von Unterrichtsgebäuden während der Vorlesungszeit oder in Wohnheimen während der Nacht untersagen.

Der Versuchung widerstehen

Es besteht immer die Versuchung, Äußerungen, die uns nicht gefallen, zu zensieren und zu bestrafen.  Dieser Vorwand des Verbots oder der Bestrafung wurde zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte genutzt, um Menschen daran zu hindern, sich für die Abschaffung der Sklaverei, den Darwinismus, die Arbeitnehmerrechte, den Widerstand gegen den Krieg, den Sozialismus und Kommunismus und den Schutz der Bürgerrechte einzusetzen. Wir haben auf die harte Tour gelernt, dass die Macht der Zensur unweigerlich katastrophale Auswirkungen haben wird, wenn wir nicht das Recht schützen, jede Idee zu äußern. Wie viele bemerkt haben, brauchen wir die Redefreiheit nicht, um die Botschaften zu schützen, die uns gefallen; wir würden sie ohnehin zulassen.  Es ist daher besonders wichtig, der Versuchung zu widerstehen, im Kontext von Hochschulen und Universitäten zu zensieren.

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