Antisemitismus als Krise der Demokratie
Gesellschaften zerbrechen, wenn Gewalterfahrungen tabuisiert werden. Die Historikerin Mirjam Zadoff im Podcast über Gewalt und die Chance der Erinnerung.
Empathielosigkeit, so die Historikerin Mirjam Zadoff, ist oft der Beginn einer weitergehenden Polarisierung einer Gesellschaft. Nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober und seitdem Israel begann, den Gazastreifen zu bombardieren, scheint es nur noch zwei Seiten zu geben: „Alle lösen den Nahostkonflikt jetzt am Handy, alle positionieren sich, es gibt kein Zuhören mehr, das ist erschreckend“, so Zadoff über die Reaktionen in Deutschland und Österreich. Wie können Gesellschaften da wieder herausfinden?
Der Podcast
Der Kampf gegen Antisemitismus muss ein Versuch sein, uns als Gesellschaft wieder in eine Gemeinschaft zu verwandeln.
Nach Gewalterfahrungen, die eine ganze Gesellschaft betreffen, wie etwa die Shoah, braucht es einen neuen gesellschaftlichen Vertrag für die Zukunft: „Es gibt kein Vertrauen mehr, dass eine Gesellschaft eine Minderheit schützt, dass man sich sicher fühlen kann in einem Land. Wenn wir das nicht reflektieren, dann funktioniert das Zusammenleben eigentlich nicht.“
Shoah und Demokratie
Ein Weg dieses Vertrauen und die Gemeinschaft wieder herzustellen ist Erinnerung und die Gewalt zum Thema zu machen. Diese Erinnerungsarbeit wurde nach 1945 von den Jüdinnen und Juden selbst geleistet: „Zum ersten Mal wurde die Geschichte von den Opfern geschrieben. Daraus ist das entstanden, was wir unsere deutsch-österreichische Erinnerungskultur nennen.“ Erinnern wollten sich die Tätergesellschaften in Österreich und Deutschland nach 1945 nicht. Österreich etwa fand – bis zur Waldheim-Krise – für sich den Ausweg sich als erstes Opfer des nationalsozialistischen Deutschland zu definieren.
Doch die Shoah und die Überlebenden setzten moralische Grenzen für die Nachkriegsgesellschaften, so Zadoff: „Das ist die Entscheidung zu sagen, es gibt bestimmte Dinge, die dürfen wir nie wieder machen. Zum Beispiel politisch Schutzsuchenden Asyl zu verweigern; Menschen aufgrund ihrer Religion, aufgrund ihrer politischen Entscheidungen oder aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung zu verfolgen. Das ist gut, doch wenn wir darüber nicht sprechen, dann machen wir ja die gleichen Fehler wieder. Das ist das Problem.“
Während es die Shoa-Überlebenden mit großem Mut schafften, ihr eigenes Trauma gegen alle Widerstände zu thematisieren und damit einen entscheidenden Beitrag zur Demokratisierung nach dem Vernichtungskrieg und der Shoah zu leisteten, gelang es vielen Täterfamilien nicht, über die Gewalt zu sprechen; über persönliche Beteiligung an den Verbrechen wurde geschwiegen – bis jetzt. Zadoff: „Interessant ist, dass es im Bundesarchiv in Deutschland noch nie so viele Nachfragen gab nach Parteimitgliedschaften wie heute, das heißt, es ist die dritte und vierte Generation die nach der Rolle der Familie fragt.“
Ein neuer Antisemitismus?
Der Antisemitismus der Gegenwart ist nicht neu, meint Zadoff. „Deutschland und Österreich haben aufgrund ihrer Geschichte einen Bodensatz, der allerdings immer bagatellisiert wird.“ Diese Bagatellisierung verleihe diesem Antisemitismus erst die polarisisierende Wucht: „Der Antisemitismus ist eine Krise unserer Demokratie und unseres Zusammenlebens. Und wir müssen uns fragen, wie wir das lösen, ohne den Krieg in Nahost zu nutzen, um noch mehr Hass und Hetze zu sähen. Der Kampf gegen Antisemitismus muss ein Versuch sein, uns als Gesellschaft wieder in eine Gemeinschaft zu verwandeln, und das ist momentan sehr in Frage gestellt.“
Über Miriam Zadoff
Mirjam Zadoff ist Historikerin und leitet als Direktorin das NS-Dokumentationszentrum München. Sie lehrt Geschichte und Judaistik an der LMU München und ist Herausgeberin und Autorin zahlreicher Bücher: Zuletzt erschien von ihr das Buch Gewalt und Gedächtnis über die gesellschaftliche und demokratische Notwendigkeit, von Gewalt und Diskriminierung zu erzählen, um sie erinnern zu können.