Darf Wissenschaft aktivistisch sein?
Die Wissenschaft soll frei sein. Doch was macht diese Freiheit aus? Entfernen sich Wissenschaftler von der Wissenschaft, wenn sie sich engagieren?
Ohne kritische Reflexion ihrer eigenen Grundlagen kommt Wissenschaft nicht weiter – das gilt für die Naturwissenschaften ebenso wie für die Geistes- und Geschichtswissenschaften, sagt der Philosoph Konrad Paul Liessmann. Qualität und Freiheit der Wissenschaften zeigten sich auch daran, wieviel Kritik möglich ist. Dennoch ist er gegen Aktivismus von Wissenschaftlern.
Der Podcast über Wissenschaft
Wir können das Wissenschaft nennen, was der der Rationalität verpflichtet ist.
Konrad Paul Liessmann
Was ist gute Wissenschaft? Der Philosoph Konrad Paul Liessmann nutzt die Frage, um zu diskutieren, was Wissenschaft – er plädiert auch dafür, von den Wissenschaften zu sprechen, nicht von der Wissenschaft – von anderen Zugängen zur Realität unterscheidet. Es sei ihre „Verpflichtung auf Rationalität“, die Wissenschaft von anderen Erkenntnisweisen abgrenze.
„Wenn wir von den Wissenschaften sprechen, dann sprechen wir von einer großen Familie von Forschungsmethoden, Forschungsrichtungen, Forschungsansätzen, die bei aller Unterschiedlichkeit etwas gemeinsam haben. Wir können das Wissenschaft nennen – und nicht Religion, nicht Glaube und nicht Vermutung. Was die vielfältigen Zugänge zur Wirklichkeit gemeinsam haben, ist die Verpflichtung auf Rationalität.“
Kriterien der Rationalität
Rationalität sei anhand von zwei Kriterien bewertbar, sagt Liessmann. Für die nicht experimentellen und nichtempirischen Wissenschaft gelte etwa die rationale Nachvollziehbarkeit des Arguments, das selbst wiederum bestimmten Regeln und Ordnungen folgt: Welche Hypothese wird auf Basis welcher Theorie und welcher Annahmen gebildet?
„In den empirischen Wissenschaften ist das Kriterium, wie die Hypothese oder die These an der Wirklichkeit überprüft wird. Wie überprüfe ich sie an der Erfahrung? Wie überprüfe ich sie im Experiment? Es haben natürlich nur solche Theorien einen wirklichen Wert, deren experimentelle Grundlagen reproduzierbar sind. Eine einmalige Erleuchtung ist für Wissenschaft vollkommen wertlos.“
Ist Wissenschaft immer Fortschritt?
Die Vorstellung von wissenschaftlichem Fortschritt, die Idee also, dass eine Erkenntnis frühere Erkenntnisse ersetzt, stellt Liessmann in den Kontext der Naturwissenschaften. Dort löst das das kopernikanische Weltbild das ptolemäische ab, und das Verständnis der Gegenwart vom Universum ist komplexer als Kopernikus dies überhaupt herausfinden hätte können.
Weg mit dem Bekenntniszwang!
„In den Geisteswissenschaften ist es ganz anders. Da kennen wir diese Varianten von philosophischen Fortschritt nicht. Nehmen Sie Immanuel Kant: Natürlich bringen wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Fragen der Moral, der Ethik, mit Fragen des Zusammenlebens, mit der Frage, was sind Werte, eine ständige Verfeinerung der Argumente. Aber keine der Veränderungen hat dazu geführt, dass man sagen kann, jetzt sind wir so weit, dass wir Kant über Bord werfen können. Ganz im Gegenteil, wir kehren immer wieder zu ihm und zu anderen Denkerinnen und Denkern der Vergangenheit zurück. Das heißt, es gibt auch Wissenschaften, bei denen der Fortschritt darin besteht, dass sie immer kritisch mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzen und aus dieser Auseinandersetzung dann neue Erkenntnisse oder neue Perspektiven gewinnen.“
Auch die historischen Wissenschaften entwickelten sich durch die Neubewertung und kritische Auseinandersetzung mit den historischen Methoden und den Geschichtswissenschaften zuvor weiter so Liessmann. „Selbst wenn es keine neuen Erkenntnisse gäbe, was nicht der Fall ist, so verändert doch unser Blick auf die Vergangenkeit auch unser Wissen von der Vergangenheit. Wir lesen alte Dokumente heute ganz anders und ein modifiziertes Bild vom Leben der Menschen in der griechischen Antike, in der römischen Antike, im Mittelalter. Das zeigt, dass wir einerseits aufbauen auf dem, was vor uns geleistet worden ist und gleichzeitig, dass wir das auch immer wieder kritisch in Frage stellen müssen.“
Spezialisierung und Freiheit
Hochspezialisierte Wissenschaften sind der Kritik von Außen weniger zugänglich. Mindert das ihre Qualität? Liessmann sieht in der Spezialisierung eher einen „Beitrag zur Qualitätssicherung“. „Je spezialisierter eine Wissenschaft, umso ausgewiesener muss man sein, um in dem Expertenkreis noch mitreden zu können.“
Auf der anderen Seite bedingt die Spezialisierung auch, dass Maßnahmen zur Qualitätssicherung wie etwa der Peer Review auch ausgrenzend wirken können. Bei kleinen Wissenschaftsfeldern kennen sich viele Akteure, wer ein Paper einreicht, antizipiert möglicherweise, was Gutachter urteilen werden, zumindest sei das in der Philosophie durchaus möglich, die sich in verschiedene Strömungen und „Bindestrich-Philosopohien“ aufgeteilt hat, so Liessmann.
Für ihn verweist dies auf ein Muster, das in der Wissenschaftsgeschichte immer wieder zu entdecken sei: „Nicht alle, aber doch einige bahnbrechende Entdeckungen wurden von Außenseitern gemacht, von Personen, die vom akademischen Wissenschaftsbetrieb ausgeschlossen worden sind, die verachtet worden sind, die belächelt worden sind und die trotzdem Recht gehabt haben. Das ist ein Stachel im Fleisch der organisierten Wissenschaft, dass man immer damit rechnen muss, dass die Musik ganz woanders spielt, nicht in den Zentren des etablierten Betriebs.“
Dürfen Wissenschaftler Aktivisten sein?
Wissenschaftler sind auch nur Menschen, Staatsbürger mit politischen Ansichten, Eltern oder Großeltern vielleicht, die sich um die Zukunft sorgen. Für den Philosophen Jacques Derrida stellte der Bezug der Wissenschaften und der Universitäten zum öffentlichen Raum ein Erbe der Aufklärung dar, eine Grundbedingung, damit sich auch Gesellschaften weiterentwickeln können.
Sollen sich Wissenschaftler nun politisch einmischen? Wann beginnt die Einmischung? Sollen sie zum Beispiel die Klimakrise nur erforschen oder auch vor Fehlentwicklungen warnen? Im Dossier zur Wissenschaftsfreiheit hatte sich Konrad Paul Liessmann gegen Aktivismus von Wissenschaftlern ausgesprochen. Zum einen, so Liessmann bezugnehmend auf die Feuerbach-Thesen von Karl Marx, berge die Annahme, man wisse, in welche Richtung sich die Welt weiterentwickeln solle, die Gefahr des fatalen Scheiterns wie etwa die sozialistischen Diktaturen gezeigt hätten.
„Der zweite Grund ist, dass die Logik der Wissenschaft eine andere ist wie die Logik des Aktivismus. Aktivismus, diese politische Form der Betätigung, Politik, das habe ich bei Friedrich Nietzsche gelernt, folgt ganz nüchtern einem Kalkül der Macht. Das gehört aber nicht zur Wissenschaft, sondern die Wissenschaft ist ja tatsächlich den besseren Argumenten verpflichtet. Deshalb ist jeder Wissenschaftler, der Aktivist sein will, einer, der seine wissenschaftliche Tätigkeit dadurch ideologisch zumindest einengt.“
Warnungen von Klimawissenschaflern etwa hätten ihren Platz bei der Beratung von Politik. Doch die Politik selbst müsse den Politikern überlassen werden, ebenso, wie man die Wirtschaft den Ökonomen überlassen müsse. „Der Klimaforscher ist kein Ökonom. Der Klimaforscher ist kein Soziologe. Er kann gute Vorschläge machen, aber er hat keine Ahnung davon, wie das bei Menschen ankommt, zu welchen sozialen Verwerfungen, sozialen Spannungen das führen kann, zu welchen ökonomischen Dynamiken.“
Über Konrad Paul Liessmann
Konrad Paul Liessmann ist Philosoph und lehrte von 1995 bis zu seiner Emeritierung 2023 an der Universität Wien. Er ist der Autor zahlreicher Bücher, darunter das zuletzt erschienene Werk Gedankenspiele über die Verantwortung (Verlag Droschl). Liessman ist neben Barbara Bleisch Intendant des Philosophicum Lech, das in diesem Jahr unter dem Motto „Sand im Getriebe“ steht.
Das Dossier zum Thema
Wie frei ist die Wissenschaft?
Corona rückte die Wissenschaft in den Fokus der Öffentlichkeit. „Follow the Science“, rufen Klimaschützer. Dabei gerät die Freiheit der Forschung immer mehr in Bedrängnis.