Wissenschaft in geistiger Monokultur

Die Freiheit der Wissenschaft ist in Gefahr, denn die Stätten der Wissenschaft sind Zentren der Cancel Culture geworden. Viele Professoren sind zu feige, um sich gegen diesen Trend zu wehren.

Foto eines großen Saales mitquadratischer Holzverkleidung an den Wänden. Menschen sitzen lesend an Tischen. Das Bild erzeugt den Eindruck von sehr großer Tiefe (Sogwirkung). Das Bild soll einen Beitrag, in dem es um Freiheit in der Wissenschaft geht, illustrieren.
Der große Lesesaal an der Humboldt-Universität in Berlin. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Identität. Die Identitätspolitik legt Menschen auf eine bestimmte Identität fest und vereinnahmt diese Menschen dann für politische Ziele.
  • Kampf der Kollektive. Weil es die Identitätspolitik gibt, gibt es an den Universitäten und in der Gesellschaft keine Individualität mehr.
  • Eindeutigkeit. Lehrende, die sagen, dass es nur zwei Geschlechter und zwei Geschlechtsidentitäten gibt, werden von Vorträgen ausgeladen.
  • Wissenschaft. Die Professoren machen mit, weil sie sich nicht trauen, zu widersprechen. So wird die Freiheit der Wissenschaft beschnitten.

Als die großen Ideologien Marxismus und Nationalsozialismus historisch in Misskredit geraten waren, weil sie verbrecherischen Regimen das geistige Unterfutter geliefert hatten, konnte man das Thema „Ideologie“ für erledigt halten. Und tatsächlich schien nach dem Zusammenbruch der totalitären Systeme erst einmal ein Zeitalter des Pragmatismus anzubrechen – keine großen Entwürfe mehr, stattdessen Alltagsbewältigung als politisches Modell. Doch der Eindruck trog.

Dossier Cancel Culture

Bereits vor dreißig Jahren gab es an amerikanischen Universitäten Vor­boten einer neuen Ideologisierungswelle. Wie Arthur Schlesinger, seinerzeit Berater der US-Präsidenten Kennedy und Johnson, schon in den Neunziger­jahren feststellen musste, gewann im akademischen Raum jenes Denken an Wirkungsmacht, das wir heute unter dem Begriff der „Identitätspolitik“ fassen. Gruppen, die als gesellschaftlich unterdrückt galten – Afroamerikaner, Frauen, Schwule etc. –, fanden nun ihre Fürsprecher an den Universitäten.

Oft wurden sie gar nicht gefragt, ob sie solche Fürsprache wollten. Aber es gab an den Universitäten genug Kultur- und Geisteswissenschaftler, die in der Identitätspolitik ein neues Betätigungsfeld fanden, das nicht nur den an­geb­lich oder tatsächlich Unterdrückten, sondern vor allem ihnen selbst eine ganz neue gesellschaftliche Bedeutung verschaffte.

Identitätspolitik und ihre Macht

Was ist mit Identitätspolitik gemeint? Man versteht darunter die Zusammenfassung von Menschen mit gleichen Merkmalen (Frau-Sein, Schwul-Sein, Muslim-Sein) in Kollektiven, aus denen sie ihre Identität beziehen, sowie die Verfolgung einer Politik, die solchen Kollektiven mehr Rechte, mehr Einfluss, mehr Ressourcen erkämpfen soll. An dieser Kurzcharakterisierung wird schon deutlich, dass die Sache einige Probleme in sich birgt. Das erste ist, dass unser ganzes westliches Denken, dem wir auch die Demokratie verdanken, auf das Individuum setzt und nicht auf Kollektive. Kollektive bringen individuelle Unterschiede zum Verschwinden. Sie erzwingen eine innere Homogenität, und sie reduzieren die Menschen, die Teil des Kollektivs sind, auf jene Eigenschaft, die ihre Zugehörigkeit begründet.

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Zahlen & Fakten

Eine Frau mit kurzen grauen Haaren und einem weißen Oberteil mit Kragen lächelt in die Kamaera und hält ein rotes Ordensband mit einem goldenen Kreuz mit der Krone des britischen Empire hoch.
Die Philosophin und Autorin Kathleen Stock nach der Verleihungs-Zeremonie des Merit Order of the British Empire (OBE) im Buckingham Palace im Juli 2022. Stock wurde der Orden für Verdienste um die Hochschulbildung 2020 verliehen. Bis 2021 war sie Professorin an Universität Sussex. © Getty Images

Freiheit der Wissenschaft oder Cancel Culture

  • Die Frage der Geschlechter. Die Juristin Alessandra ­Asteriti schreibt 2019 auf Twitter einen Thread darüber, warum die Unterscheidung in Frauen und Männer im internationalen Recht wichtig ist, weil nur durch sie die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen dargestellt werden kann. Sie wird in der Folge als „Nazi“ bezeichnet, die Universität Lüneburg, an der sie lehrt, wird in E-Mails aufgefordert, sie wegen Transphobie zu entlassen. Ende 2020 wird ihr der Auftrag zur Onlinelehre gekündigt. Im Juli 2022 wird ein Vortrag der Biologie-Doktorandin ­Marie-Luise Vollbrecht zum Thema „Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei ­Geschlechter gibt“ an Berlins Humboldt-Universität wegen des Vorwurfs der Transfeindlichkeit abgesagt. Und die britische Philosophin Kathleen Stock, die sich selbst als „gender­kritisch“ bezeichnet, kündigt nach ­einer jahrelangen Kampagne gegen sie ihren Job an der Universität Sussex.
  • Sensible Ferkeleien. Der Sozialwissenschaftler Dirk Helbing, der an der ETH Zürich lehrt, präsentiert in einer seiner Vorlesungen eine Folie, auf der Ferkel zu sehen sind. Er will ­damit das chinesische Sozial­punkte­system kritisieren, mit dem der Staat seine Bürger überwacht und bewertet, erhält aber, nachdem die Unterlage ins Netz gestellt wird, Morddrohungen, weil er Chinesen mit Schweinen gleichsetze. Studenten verlangen in einem offenen Brief „weiterführende Maß­nahmen“ von der Universitätsleitung. Am Ende entschuldigt sich Helbing und modifiziert die Folie. Seit dem Vorfall, erzählt er der „NZZ“, zensiert er sich selbst: „Ich habe begonnen, kontro­verse Inhalte, auf die Studierende vielleicht sensibel reagieren können, aus den Foliensätzen zu entfernen.“
  • Über die Schönheit der Sprache. Der Kommunikationswissenschaftler Rudolf Stöber schreibt in der Fachzeitschrift „Publizistik“ einen Beitrag, in dem er das Gendern als „linguistisch unbegründet“ und „Verunstaltung der Sprache“ bezeichnet. Es sollten als Gegenpol auch Befür­worter des Genderns zu Wort kommen, diese ­ziehen aber ihre Zusagen für ­einen Beitrag zurück. Statt­dessen fordern 82 Fachkollegen, dass Beiträge mit dieser Meinung nicht mehr in der Zeitschrift ver­öffent­licht werden sollten.
  • Verbotene Schriften. Im US-Bundesstaat Tennessee ­votiert Anfang 2022 eine Schulbehörde, die Graphic Novel „Maus“ von Art Spiegelman vom Lehrplan zu nehmen. Das mit dem ­Pulitzerpreis ausgezeichnete Buch – in dem Spiegelman die Geschichte seiner Eltern erzählt, die während der Nazizeit im KZ Auschwitz landeten – habe an­stößige ­Inhalte und normalisiere Profanität und Nacktheit. An schottischen Universitäten werden heute unzählige Klassiker mit so­genannten Triggerwarnungen gekennzeichnet: Shakespeares „Sommernachtstraum“ bekommt ­diese Warnung wegen Klassismus und Frauenfeindlichkeit; und an der Universität York wird sogar der ­Bibel eine Warnung vorangestellt: Sie ent­halte Szenen sexueller Gewalt.

So macht die Identitätspolitik das Frau-Sein oder Schwul-Sein zur identitätsstiftenden Eigenart der entspre­chenden Menschen, als zeichnete sie jenseits dessen nicht noch vieles andere aus, das ihre Identität prägt. Doch wollen Frauen wirklich auf ihre Geschlechtszugehörigkeit reduziert werden oder schwarze Menschen auf ihre Hautfarbe? Kollektive sind etwas anderes als Interessengruppen, sie wollen den Menschen ganz vereinnahmen.

Ein zweites Problem ist das politische Agieren dieser Kollektive. Sie schaffen von vornherein ein gesellschaftliches Gegeneinander. Anders als Interessengruppen wollen sie nicht einfach nur einen Teil des Kuchens, sondern am besten gleich den ganzen. Sie sind eben nicht auf Kompromisse aus, sondern auf radikale Selbstdurchsetzung. Da aber die Mitglieder des Kollektivs ihre Identität aus dem Kollektiv beziehen sollen, können sie letztlich gar kein Interesse daran haben, ihren Status jemals so zu verändern, dass das Frau-Sein oder Schwul-Sein gar kein Thema mehr ist. Sie müssen um ihrer Identität willen also das erhalten, was sie als diskriminierend ausgeben. Das klingt nach einer ziemlich verfahrenen Lage. Und es bedeutet, dass die gesellschaftliche Spaltung, die aus dem Kampf der Kollektive erwächst, auf Dauer angelegt ist.

Ein drittes Problem ist – und da kommen wir zu den Universitäten zurück –, dass wir es hier erklärtermaßen mit einer Form von Politik zu tun haben. An den Universitäten, die wesentliche Treiber jenes Identitätsdenkens sind, hat Politik aber eigentlich nichts zu suchen. Politik verfolgt konkrete, zuvor definierte Ziele. Das Ziel steht fest, es geht nur noch um die Mittel.

Freiheit der Wissenschaft als Opfer

In der Wissenschaft, die das akademische Hauptgeschäft bezeichnet, darf das Ziel jedoch gerade nicht feststehen. Die wissenschaftliche Wahrheitssuche muss immer ergebnisoffen sein. Denn wenn man die Wahrheit schon hat, braucht man sie gar nicht erst zu suchen. Deshalb besiegelte die politische Vereinnahmung der Wissenschaft immer deren Untergang. Man sehe sich einmal an, was von der marxistischen oder der nationalsozialistischen Forschung übrig geblieben ist. Höchstens dort, wo eine Vereinnahmung schwer möglich war, etwa in der Mathematik, konnte Brauchbares geschaffen werden.

Nun erleben wir jedoch eine Selbst­kolonialisierung der Wissenschaft: Mit großer Willfährigkeit wird auch an deutschen Universitäten die im angelsächsischen Raum entwickelte Ideologie übernommen und vorangetrieben. So wird gemäß der Gender-Theorie eine biologische Bestimmung der Geschlechter als sexistisch geächtet und das traditionelle Verständnis von Geschlechtlichkeit als machtgetriebene Konstruktion entlarvt.

Weil angeblich bereits die Sprache sexistisch ist, betreibt man deren Vergewaltigung mit Sternchen, Binnen-I oder Gender Gap, manchmal sogar mittels schlechterer Benotung jener studentischen Arbeiten, die sich dieser völligen Missachtung der Grammatik widersetzen.

Die Durchsetzung von Diversität – also der Forderung, möglichst allen benachteiligten Kollektiven gleichen Raum zu gewähren – lässt fachliche Qualifikation in den Hintergrund treten. Mehr Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund und unterschiedlichen sexuellen Orientierungen müssen an der Forschung beteiligt und auf Professuren berufen werden usw. Man kann sich vorstellen, wie sich diese politische Instrumentalisierung auf die Wissenschaft auswirkt. Dass es Letzterer gut bekommt, kann man jedenfalls nicht behaupten.

Freiheit braucht Mut, und der fehlt

Warum lassen sich aber gerade Menschen, die dem wissenschaftlichen Denken, seiner Wahrheitsorientierung, dem Anspruch auf Objektivität verpflichtet sind, so widerstandslos von einem Konzept ergreifen, das all ihren Idealen widerspricht? Warum gebietet nicht gerade die Wissenschaft einem Treiben Einhalt, das nicht nur die Grundlagen unseres Zusammen­lebens zu gefährden droht, sondern auch die Wissenschaftlichkeit im Kern trifft? Erfreuliche Antworten gibt es hier wohl nicht.

Ein Grund, sich zum Anwalt der geschilderten Theorien zu machen, scheint schlicht die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit zu sein, die vielen Vertretern der Kultur- und Geistes­wissenschaft normalerweise beschieden ist. Der Arbeitsmarkt für Migrationsforscher und Literaturwissenschaftler ist überschaubar. Die gesellschaftliche Nachfrage nach Ergebnissen der Kulturanthropologie oder der Mediensemiotik hält sich in Grenzen.

Doch mit Postkolonialismus, Gender-Theorie und Antirassismus kann man auf einmal erstaunliche gesellschaftliche Wirkung erzielen. Man kann mitdrehen am Rad und erlangt eine bisher nie gekannte Machtposition. Das ist für die ansonsten freischwebende Intelligenz ein nicht zu unterschätzender Anreiz.

Ein weiterer Grund ist noch banaler. Sprechen wir über das Thema Feigheit. Wenn eine bestimmte Sichtweise einmal die gesellschaftliche Deutungs­hoheit erlangt zu haben scheint, findet sie ganz schnell weitere Anhänger. Man will auf dem Zug mitfahren – und zwar möglichst weit vorn. Diejenigen, die anders denken, ducken sich dann meist weg. So entsteht der Eindruck von geschlossenen Reihen, und der Druck wird noch größer.

Der Mut von Professoren wurde meines Wissens noch in keinem Epos besungen, was wohl seine Gründe hat. Die Göttinger Sieben, die sich tapfer gegen die illiberalen Anwandlungen ihres Landesherrn gewandt hatten, haben innerhalb ihrer Profession wenig Nachahmer gefunden. Und so machen die heutigen Professoren fleißig mit, wenn es kritischen Kollegen verwehrt wird, in der Universität einen Vortrag zu halten, in einer renommierten Zeitschrift einen Artikel zu publizieren oder Geld für ihre unangepasste Forschung einzuwerben.

Meinungsfreiheit in Gefahr

Sie, die sich zu Agenten des Zeitgeists gemacht haben, reden im gewünschten Jargon, empören sich moralisch über Andersdenkende und ersetzen das Sachargument durch persönliche Diffamierung. Damit liefern sie ein jammervolles Bild ab. Sie opfern die Wissenschaft der Macht.

Glücklicherweise hat sich aber auch eine Gegenbewegung formiert. 2020 von einer kleinen Schar von Professoren gegründet, hat das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“, das sich die Bewahrung des offenen wissenschaftlichen Diskurses auf seine Fahnen geschrieben hat, ständig an Mitgliedern und Unterstützern gewonnen. Inzwischen sind es schon mehr als 700, die den Entwicklungen an Universität und in Gesellschaft nicht länger tatenlos zu­sehen wollen. Sie haben eine große Aufgabe vor sich; die Zahl der vom Netzwerk dokumentierten Fälle, in denen man Wissenschaftler mundtot zu machen versuchte, die sich den herrschenden Trends widersetzten, spricht für sich.

Doch es ist ein Anfang. Denn es steht viel auf dem Spiel. Wenn Wissenschafts- und Meinungsfreiheit in Gefahr sind, weil bestimmte Dinge nicht mehr gesagt werden können, ohne moralisch vernichtet zu werden, bedroht das auch unsere Demokratie. Sie lebt von der Freiheit, sie lebt von der Vielfalt der Positionen, die sich aus der Freiheit ergibt. Diversität zu predigen und nur noch eine geistige Monokultur zuzulassen ist erkennbar kein schlüssiges Konzept. Verteidigen wir die Freiheit! Nur wo sie herrscht, kann sich der Geist entfalten. Dem Ungeist, der die Freiheit tötet, sollten wir hingegen keinen Raum lassen. Selbst dann nicht, wenn er der Universität entsprungen ist.

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Conclusio

Seit einigen Jahren macht sich auch im deutschsprachigen Raum eine Identitätspolitik breit, die den Anspruch erhebt, ­unterdrückten Minder­heiten zur Hilfe zu eilen. Das Problem: Menschen werden dabei auf gewisse Merk­male wie Geschlecht oder Hautfarbe reduziert und von einem Kollektiv ver­einnahmt, ohne dass sie überhaupt gefragt würden. Schwer erklärbar, aber umso fataler ist der Umstand, dass diese Identitätspolitik an den Universitäten überhandnimmt. So ist die Freiheit der Wissenschaft in Gefahr. Dabei hat Politik in der Wissenschaft nichts verloren, weil die Wahrheitsfindung ergebnisoffen sein muss. Die neue geistige Monokultur ist Folge des großen Drucks, der ausgeübt wird, wenn eine Deutungshoheit erst ­einmal erlangt wurde. Andersdenkende ducken sich da lieber weg. Dabei lebt nicht nur die Wissenschaft von der Freiheit, ­sondern die gesamte Demokratie.