Weg mit der Geschichte!
Weil sich Menschen unwohl fühlen, sollen Denkmäler und Romanfiguren weichen. Sensible Seelen und Tugendwächter schreiben Literatur und Geschichte um. Wer vereinnahmt da wen?
Gespenster gehen um. Die Gespenster der kulturellen Aneignung und des Inkorrekten. Alle Besserwisser und Besserfühler – die vor allem – haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen diese Gespenster verbündet. Die Forderung, „korrekt“ zu sein, ist so mächtig geworden, dass bereits der Gedanke, den Begriff definieren zu wollen, verdächtig ist. Wo gefühlt wird, braucht nicht definiert zu werden, differenziert schon gar nicht.
Jene anonymen Besucher von Konzerten in Zürich und Berlin, die sich beim Anblick von blonden Rastazöpfen auf der Bühne „unwohl“ fühlten – wo Rastazöpfe doch schwarz zu sein oder, wenn sie schon blond gefärbt sind, dann auf schwarzer Haut zu wachsen haben –, diese Feiglinge, die nicht einmal ihrem eigenen Namen so viel Korrektheit zusprechen, dass sie sich trauen, ihn in der Öffentlichkeit zu nennen, die haben sich gewiss nicht hingesetzt und über Haartrachten aus aller Welt, über ihre Geschichte und ihre kulturelle Bedeutung recherchiert. Nein, sie haben sich „unwohl“ gefühlt, und das hat genügt, damit die Veranstalter die Musiker von der Bühne verbannten.
Mehr im Dossier Cancel Culture
- Barbara Zehnpfennig bespricht Wissenschaft in geistiger Monokultur
- Thomas Glavinic buchstabiert Das große Abc der Empörten
- Adrian Daub spricht im Interview über Die Angst vor Veränderung
- Der Pragmaticus Podcast: „Wandel, das mögen wir nicht“
Politisch korrekte Entsorgung
In Spanien, so konnte man in den letzten Wochen lesen, wurden Forderungen laut, man solle
Picassos Gemälde „Guernica“ abhängen, weil darauf unter anderem eine Vergewaltigung dargestellt sei. Vergewaltigung sei Vergewaltigung, war das Argument, und Vergewaltigung dürfe nicht dargestellt werden. Ob sie auf einem Bild gezeigt wird, das die Gräuel des Krieges anprangert, das spiele dabei keine Rolle. Also weg damit! Als die baskische Stadt Guernica am 26. April 1937 durch die Kampfflugzeuge der deutschen Legion Condor und die Soldaten Francos dem Erdboden gleichgemacht wurde, gab es alle möglichen Grausamkeiten, nur eine nicht: Vergewaltigung. Diesbezüglich haben sich die Nazis und die Francofaschisten zurückgehalten.
Auch das Standbild des antisemitischen Bürgermeisters Karl Lueger muss weg. Denn niemals hat es in Wien einen antisemitischen Bürgermeister gegeben! Auch die Denkmäler des grauenhaften Königs Leopold II. von Belgien – weg damit, es hat nie einen Genozid im Kongo am Ende des 19. Jahrhunderts gegeben! Weg mit der Geschichte! Es könnten sich ja Menschen unwohl fühlen, wenn sie an unsere – an ihre! – Geschichte erinnert werden.
Der österreichische Künstler und Musiker Klemens Wihlidal machte bereits vor zehn Jahren einen ebenso einfachen wie genialen Vorschlag. Man solle den Lueger auf dem Sockel schief stellen. Sofort, sogar von weitem, werde erkannt: Hier stimmt etwas nicht. An den Sockel könne die Behörde dann ein Schild anbringen lassen, auf dem erklärt wird, was mit diesem schiefen Herrn nicht stimmt. Ich finde, allein für diesen Vorschlag sollte man Klemens Wihlidal mit dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich auszeichnen.
Sich nicht vor der Geschichte aus dem Staub zu machen, zugleich ihre Ungeheuerlichkeiten zu kennzeichnen, das ist eine Methode, die könnte von der ganzen Welt übernommen werden. Oder fühlen sich dann die sensiblen Seelen wieder unwohl – vielleicht, weil sie Angst haben, irgendein schrecklicher Koloss, wenn er schief steht, könnte ihnen auf den Kopf fallen?
Ich schlage vor, das Wort „unwohl“ zum Unwort des Jahres zu erklären!
Wer die Rolle von Othello spielen darf
Aber ich will nicht nur schimpfen. Ich will Überlegungen anstellen, will es wenigstens versuchen. Am Beispiel Othello:
Er ist schwarz. Warum eigentlich? Spielt seine Hautfarbe im Stück irgendeine Rolle? Aus korrektem Munde heißt es, nur ein Schwarzer dürfe auf der Bühne einen Schwarzen spielen. Warum? Weil nur ein Schwarzer ermessen könne, was es heißt, ein Schwarzer zu sein. Weil sich kein Weißer anmaßen dürfe, so zu tun, als wüsste er Bescheid, wie man sich fühlt mit der Bürde an gegenwärtiger und vergangener Diskriminierung.
Mögliche Antwort: Wäre es nicht gut, wenn ein Weißer wenigstens so täte, als ob er Bescheid wüsste? Der Konjunktiv ist ein unterschätztes Mittel der Erkenntnis. Was daran wäre anmaßend oder gar beleidigend? Es könnte ja der ehrlich gemeinte Versuch sein, sich in einen anderen hineinzuversetzen. Wäre das nicht begrüßenswert? Spielen heißt, so tun als ob. Würden wir nicht mehr tun dürfen als ob, wäre jedes Spiel zu Ende. Auch das Spiel des Autors wäre zu Ende. Shakespeare hat so getan, als wüsste er Bescheid, wie ein Schwarzer denkt und fühlt. Er hat sich übrigens auch angemaßt, so zu tun, als wüsste er Bescheid, wie ein Mörder denkt und fühlt.
Das Ende der Vernunft
Das Argument, ein Weißer könne – auch mit dem besten Willen zur Empathie – nicht ermessen, was es heißt, durch Jahrhunderte diskriminiert zu werden, zieht im Fall des Othello nicht. Othello ist der Oberbefehlshaber der venezianischen Armee. Er ist reich und angesehen und mächtig. Von Diskriminierung keine Rede. Der Vater seiner Frau Desdemona spekuliert zwar einmal, sein Schwiegersohn habe seine Tochter mit Erzählungen aus seiner fernen Heimat bezirzt und so für sich gewonnen. Aber stammte Othello anstatt aus Afrika aus Schweden oder vom Kaukasus, Shakespeare hätte nicht viel ändern müssen.
Wenn ein Weißer den Othello spielt – wie weiland Gert Voss am Wiener Burgtheater – und er sich schwarz anmalt, ist das dann Verspottung, Erniedrigung, perfide Aneignung einer fremden Hautfarbe? Interessant wäre eine Aufführung im Kongo – alle Akteure schwarz, nur der Othello weiß.
Wenn ein Weißer sich schwarz anmalt, um auf der Bühne den Othello zu spielen, und einige Weiße unten im Zuschauerraum sich dabei „unwohl“ fühlen – dann ist auch das ein Akt der emotionalen Aneignung. Denn: Der Weiße oder die Weiße, der oder die sich unwohl fühlt, tut, als ob er oder sie ein Schwarzer oder eine Schwarze wäre, der oder die zusehen muss, wie ein Weißer, der sich schwarz angemalt hat, auf der Bühne steht und den Othello spielt. Also er oder sie versetzt sich in die Rolle eines oder einer Schwarzen, der oder die das Schauspiel sähe. Und er oder sie fühlt sich, sozusagen in dessen oder deren Namen, gedemütigt, verspottet, verlacht – kulturell vereinnahmt.
Wobei Letzteres in mir ein „ungutes Gefühl“ auslöst. Denn wie würde man eine kulturelle Vereinnahmung nennen, die eine Hautfarbe zum Gegenstand hat? Das nebenbei. Die Frage lautet: Ist diese Empathie, die wie alle Empathie so tut als ob, eine gute, während die Empathie des angemalten Schauspielers auf der Bühne eine schlechte ist?
Korrigierte Realität
Manche Philosophen sind der Meinung, dass nicht unbedingt ein Übermaß an Empathie zu gegenseitigem Verstehen und gegenseitiger Achtung führe, sondern die Anerkennung der Differenz. Ich denke nicht wie du, ich fühle nicht wie du, ich bin nicht wie du. Ich kann nur eines: so tun als ob. Im Theater nennt man diese Art der Anerkennung schlicht „Rolle“. Ich spiele eine Rolle. Ich bin nicht der, den ich darstelle. Ich spiele ihn lediglich. Je genauer ich ihn spiele, desto größer ist die Anerkennung des anderen. Dabei braucht sich der Schauspieler nicht ans Publikum zu wenden und zu sagen: Hört her, ich tue nur so als ob. Der Verfremdungseffekt des Bertolt Brecht ist nicht und war nie nötig. Das Theater als solches ist Als-ob! Ein Besucher müsste schon sehr blöd sein, wenn er das nicht weiß.
Ich glaube – habe dafür allerdings keinen Beleg –, als Shakespeare den Othello schrieb, befand sich ein Schwarzer in seinem Ensemble, und ein Schwarzer war eine Sensation, und auf eine Sensation konnte der Theaterdirektor nicht verzichten, denn eine Sensation bringt Zuschauer, und auf Zuschauer war das Globe Theatre angewiesen, denn Subventionen gab’s keine.
Die Angst vor Veränderung
Man könnte es übertreiben und sagen: Jede künstlerische Tätigkeit ist ein Als-ob. Aber vielleicht ist das gar keine Übertreibung. Der Dichter tut, als ob er über das Leben und die Gesellschaft seiner Figuren Bescheid wüsste – man sagt: Er versetzt sich hinein. Aber es ist mehr: Er erfindet. Ob er dabei die „Realität“ abbildet und, wenn ja, wie genau er sie abbildet, das spielt eine viel geringere Rolle, als man annehmen möchte. Wir halten für wirklich und wahr, was wir lesen, wenn einem Dichter das Als-ob gelingt. Und wenn es ihm nicht gelingt, dann glauben wir ihm nicht einmal, wenn er schreibt, die Ampel wird rot.
Die „Realität“ eines Romans ist nie deckungsgleich mit der tatsächlichen Realität, der sogenannten „wirklichen Welt“ – was immer darunter zu verstehen ist. Wenn also Karl May – über den das Feuilleton in letzter Zeit zu meiner großen Freude wieder spricht – von Amerika, vom Häuptling Winnetou, von den Apachen, den Comanchen, den Sioux erzählt, dann ist das die Realität seiner Romane.
Es ist keine Verächtlichmachung der amerikanischen Ureinwohner. Kein Autor deutscher Sprache hat mit seinem Werk mehr Interesse, mehr Mitgefühl für diese Menschen geweckt als der gigantisch schrullige Mann aus Sachsen, der die Welt der Indianer ein zweites Mal erschaffen hat; der eine Realität neben der Realität erfunden hat, die nicht einschmeichelt und verzerrt, sondern vielleicht einfach nur zum Vergleich und zur Erforschung animiert.
„Wandel, das mögen wir nicht“
Gern zitiere ich den belgischen Dichter Henri Michaux: „Niemals ist man der Realität gewisser, als wenn sie eine Illusion ist, denn dann ist sie Realität kraft innerer Zustimmung.“
Es ist doch – verzeihen Sie! – zum Speiben, wenn man immer wieder erklären muss, dass ein fundamentaler Unterschied besteht zwischen einer Sozialreportage und einem Roman. Ein Roman, der sich wie eine Sozialreportage liest, ist ein schlechter Roman; eine Sozialreportage, die sich wie ein Roman liest, ist eine schlechte Reportage.
Untugend im Dienste der Tugend
Die Tugend greift ein. Die Tugend sagt, sie darf eingreifen, sie muss eingreifen. Und sie muss unerbittlich sein. Wer sonst nichts hat, hat wenigstens recht. Die Tugend zeigt uns die komische Seite des Jakobiners. Der Rechthaber ist immer komisch, sogar wenn er recht hat. Auf der tragischen Seite steht die Guillotine. Warum aber ist die Tugend -komisch? Schlicht deshalb, weil sie letztlich nur mit Mitteln der Untugend ihre Ziele erreichen kann.
Vielleicht hat Robespierre, als er endlich auf dem Schafott stand, wohin er so viele geschickt hatte, und -Monsieur Sanson, dem Scharfrichter von Paris, in die Augen sah, erkannt, dass jeder Mensch Tugend und Untugend in sich trägt, ergo er die Untugend nur ausrotten kann, indem er die Menschheit ausrottet. Aber dann fiel auch schon das Messer über ihm.