Schutz vor Disney und Marvel

Welche afrikanischen Erzählungen, Legenden und Mythen wird die Welt in zwanzig Jahren noch kennen? Um das kulturelle Erbe Afrikas zu wahren, muss es digitalisiert werden. Schnell.

Eine Kunstobjekt der afrikanischen Akan-Stämme aus Gold: die Spinne namens Anansi sitzt in Mitten eines filigranen Netzes aus Goldketten. Das Bild illustriert einen Beitrag über Afrikas kulturelles Erbe.
Die mythologische Spinne Anansi ist Teil der Sammlung Liaunig, die rund 600 Goldobjekte der Akan-Stämme umfasst. © Museum Liaunig/Titus Leber
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Auf den Punkt gebracht

  • Verlust. Mündlich überliefert, drohen afrikanische Erzählungen, Mythologien und Legenden aus dem kulturellen Erbe zu verschwinden.
  • Verzerrung. Wird nicht gegengesteuert, bleiben nur fragmentierte Zerrbilder dieses Erbes erhalten, Stichwort Disneyfizierung.
  • Vorsorge. Eine umfassende Digitalisierung des Erbes der Kulturen Afrikas könnte helfen, dieses Erbe zu bewahren und zugänglich zu machen.
  • Verständnis. Ein möglichst breiter Zugang ermöglicht neue Sichtweisen auf das kulturelle Erbe Afrikas und ein vertieftes Verständnis.

Einer alten ghanaischen Überlieferung zufolge machte sich das Spinnenmännchen Anansi, ein großer Schelm, einstmals auf den Weg zum Sonnengott, um sich von ihm alle Geschichten dieser Welt, insbesondere jene, die Afrika betreffen, zu erbitten. Nachdem er diesen Schatz durch seine List in seinen Besitz gebracht hatte, bewirkte eine Ungeschicklichkeit Anansis, dass dieses kostbare Gut über die ganze Welt verstreut wurde …

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Doch wo befinden sich diese Geschichten, dieses immens reiche kulturelle Erbe nunmehr? Da Afrika sein Kulturerbe primär mündlich und in Form von lebendigem Brauchtum tradierte, finden wir es vornehmlich in Erinnerungen, in den Köpfen jener Stammes-Ältesten, deren Hinscheiden jedes Mal dem Verlust einer ganzen Bibliothek gleichkommt; wir finden sie in den Ausdrucksformen traditionellen Brauchtums, zunehmend verwässert für die Bedürfnisse des Folklore-Tourismus; oder aber wir finden sie in Sammlungen, verstreut über die ganze Welt, sachkundig kommentiert von Ethnologen, aber oft nur schwer zugänglich.

Identitätsverlust

Für die jungen Afrikaner von heute bedeutet dies, dass sie mehr denn je davon bedroht sind, vom Zugang zu ihren jeweiligen kulturellen Wurzeln abgeschnitten zu werden. Das bedeutet den potentiellen Verlust der kulturellen Identität: eine rasch und gezielt fortschreitende „Disneyfizierung“ und action-animations-orientierte, auf Globalisierung ausgerichtete „Marvellisierung“ des Kontinents via sozialer Medien könnte schon innerhalb der kommenden Generation zu einem unwiederbringlichen kollektiven Erinnerungs- und Bewusstseinsverlust führen.

Menschen vor einem Poster des Science-Fiction-Films Black Panther 2 von Marvel in einem Kino in Shanghai, China, am 7. Februar 2023.
Afrika-Mythologie á la Hollywood ist weltweit populär: Kinobesucher vor einem Poster des Science-Fiction-Films Black Panther 2 von Marvel in Shanghai. © Getty Images

Aber braucht Afrika wirklich diese subtile Form des medialen Kolonialismus, der sich nicht physisch, sondern ausschließlich in den Köpfen abspielt und deshalb noch bedrohlicher ist, um seine neue Identität zu manifestieren?

Reale und virtuelle Restitution

Wäre es nicht vielleicht sinnvoller, sich auf das zu konzentrieren, was der Kontinent bereits bisher in so umfänglichem Ausmaße zum Weltkulturerbe beigesteuert hat und dies global zugänglich zu machen?

Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Konzept der „Restitution“. Rückerstattung von geraubtem Kulturgut ist wichtig, virtuelle Restitution ist wesentlich. Die virtuelle Erfassung afrikanischen Kulturguts und seine allgemein verständliche Zugänglichkeit spielen hierbei eine zentrale Rolle. Über sie kann Wissen und Bewusstsein ungleich weiträumiger transportiert werden als es alle Museen und Sammlungen zusammengenommen vermögen, denn sie erreicht potenziell hunderte von Millionen Menschen.

Der König der Ashanti in Ghana Osei Tutu II sitzt bunt gewandet umgeben von Mitgliedern seines Hofs, die goldene Szepter halten.
Am Hof des Königs der Ashanti Osei Tutu II in Ghana, der einer Dynastie aus dem 17. Jahrhundert entstammt, werden alte Traditionen am Leben gehalten; hier zu sehen anlässlich der Feierlichkeiten zu seinem Geburtstag im Königspalast Kumasi. © Titus Leber

Der Weg hierzu könnte in der umfassenden Digitalisierung genau dieses brach liegenden Schatzes liegen und ihn global frei zugänglich zu machen. Man stelle sich einmal vor: Afrikas kulturelles Vermächtnis universell und leicht navigierbar verfügbar gemacht: eine Art von „Afropedia“, die es jedermann erlaubt, die Geschichte des Kontinents, seine Geografie, Mythen, Epen, Feste und Brauchtümer in ihrer komplexen Verflechtung erkunden zu können, einfach auf dem eigenen Handy oder Tablet.

Rat der Weisen

Um ein solches Giga-Projekt in Angriff zu nehmen, bedarf es des Zusammenwirkens zahlloser emsiger Mitwirkender, die das assoziative Spinngewebe, das Anansi ihnen einst vorzeichnete in eine wahrhaft pan-afrikanische digitale Realität umwandeln: Wissenschaftler und Techniker, internationaler Kulturbehörden, aber auch einheimischer „Eingeweihter“ – Priestern und Priesterinnen, Medizinmännern und -frauen, Griots (den lokalen Balladen- und Minnesängern), Marabouts (islamische Mystiker) usw.

Wesentlich erscheint bei der Auswahl dieser Mitwirkenden ferner, dass das Projekt unabhängig von jeglicher politischer, religiöser oder kommerzieller Einflussnahme vornehmlich „von Afrikanern für Afrikaner“ gestaltet wird, und dass Ausländer dabei bestenfalls eine beratende Rolle spielen. Ein „Rat der Weisen“, zusammengesetzt aus den besten Köpfen des Kontinents, sollte dem ganzen Unterfangen vorstehen.

Eine Plattform für das Kulturerbe

Der Beitrag, den die vom Autor ins Leben gerufenen Initiative „Africa Interactive“ hierzu zu leisten vermag, besteht in der Kooperation beim digitalen Erfassen, Strukturieren, Vernetzen und Gestalten einer universellen Navigationsplattform, die es ermöglicht, die zahllosen Einzelbausteine dieses Kulturgutes so miteinander zu verbinden, dass sie ein sinnerfülltes Ganzes ergeben.

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Zahlen & Fakten

Ob Artefakt, Tanz, Ritual, mündlich weitergegebenes Sprichwort, Märchen oder Heldenepos – jede Facette dieses digitalisierten Erbes kann, richtig aufbereitet, dazu beitragen, ein sinnvolles Puzzle jenes so unergründlich erscheinenden Kontinents zu vervollständigen.

Die nach Themenkreisen gegliederte Plattform soll das kollektive Wissen eines Stammes, ein Mythos, ein Heldenepos oder die Biographie einer der großen historischen Frauengestalten sein, die den Kontinent auf so signifikante Weise mitgestaltet haben.

Besonders dabei ist, dass Sammlungen in Afrika und in der Fremde integriert werden können, ebenso wie das Kulturgut einzelner Länder, es können bestimmte Kunst-und Handwerkstypen sein, ebenso wie die Sammlungen großer Fotografen oder Berichte und Dokumentationen bedeutender Forschungsreisender.

Zwei Maskierte Tänzer, einer mit einer Büffel-Maske und einer mit Vogelmaske, verkörpern Tiergeister bei einem Fest der Asama in Dédougou, Burkina Faso.
Zwei maskierte Tänzer verkörpern Tiergeister bei einem Fest der Asama in Dédougou, Burkina Faso. © Titus Leber

Selbst Österreich mit seiner weitgehend nichtkolonialen Vergangenheit, vermag es, einen wesentlichen Beitrag zu diesen Ensembles beizusteuern: In dutzenden von Privatsammlungen – der Öffentlichkeit weitgehend unzugänglich – verbergen sich neben den öffentlichen Sammlungen, wie etwa jenen des Weltmuseums – weit über zehntausend Artefakte.

Big Data im Sinne der Kultur

Das schiere Volumen an Daten, das beim Zusammentragen dieser Informationen entsteht, lässt sich leicht mit jenen Datenströmen vergleichen, die beim Sammeln von „Big Data“ aus der Wissenschaft, der Wirtschaft oder dem Konsumentenverhalten im Internet entstehen. Um diese, jedes Vorstellungsvermögen übersteigenden, Datenmengen sinnvoll zu verwalten, bedarf es des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz.

Dies wiederum könnte, potenziert um die Zahl seiner beiläufigen Anwender zum Entstehen genau jenes Neubewusstseins führen, das zur Bildung jener kulturellen Identität beiträgt, die ein Afrika des 21. Jahrhundert zu einem selbstbewussten Gesprächspartner auf Augenhöhe machen würde. Das fördert nicht nur afrikanisches Selbstbewusstsein, sondern dient dem Abbau von Vorurteilen und Wissensdefiziten.

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Conclusio

Während das materielle kulturelle Erbe Afrikas zu einem großen Teil in Privatsammlungen und in staatlichen Museen in Europa und Nordamerika zu finden ist, ist Afrika ebenso von einem Verlust seines immateriellen Kulturerbes bedroht: Mündliche Überlieferungen wie Mythen, Legenden, Sprichworte, Lieder, Rituale oder Tänze können nicht mehr weitergegeben werden, weil sich Gemeinschaften auflösen und junge Generationen ihr Kulturerbe nie erleben. Hinzu kommt das Problem der so genannten Disneyfizierung, wenn etwa Heldensagen zur Grundlage kommerzieller Verwertung werden. Viele junge Afrikaner kennen das vielfältige kulturelle Erbe Afrikas nicht. Eine umfassende Digitalisierung könnte das kulturelle Erbe Afrikas erfassen und zugänglich machen. Dies könnte auch positiv auf die Identifikation mit afrikanischen Kulturen und Traditionen wirken.

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