Was Big Pharma von Netflix lernen kann

Während etablierte Antibiotika wirkungslos werden, lohnt sich Entwicklung neuer Antibiotika nicht mehr. Sie ist unwirtschaftlich geworden. Die Pharmaindustrie braucht neue Businessmodelle.

Illustration einer Papiertüte voller Pillen
Pillen statt Blockbuster: Das sogenannte Netflix-Modell ist ein neues Finanzierungsmodell für die Pharma-Industrie, bei dem die Entwicklungskosten neuer Medikamente von verschiedenen Pharmaherstellern geteilt werden – und das anschließend wie ein Abonnement funktioniert. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Revolution. Durch die Entdeckung von antibiotischen Wirkstoffen wurden einst tödliche Erkrankungen heilbar. Sie läuteten eine neue Ära der Medizin ein.
  • Therapeutikum. Zwischen 1940 und 2011 wurden insgesamt 13 unterschiedliche Antibiotika-Klassen gegen verschiedene krankmachende Keime entwickelt.
  • Überdosis. Antibiotika wurden viel zu oft und viel zu unbedacht eingesetzt. Bereits in den 1980er-Jahren zeigten sich Resistenzen – ein Problem für die Medizin.
  • Innovation. Die Entwicklung neuer Antibiotika stellt die Pharma-Industrie vor ernste Herausforderungen. Neue Erlösmodelle sollen Innovation ankurbeln.

Die Erfolgsgeschichte der Antibiotika begann vor fast hundert Jahren. 1928 entdeckte der britische Bakteriologe Alexander Fleming das Penicillin, das erste Antibiotikum, das während des Zweiten Weltkriegs in großem Umfang eingesetzt wurde. Es rettete vielen Menschen das Leben und galt als „Wundermittel“, denn zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit war es durch das Antibiotikum möglich, lebensbedrohliche Infektionen zu stoppen.

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Penicillin war eine Revolution in der Medizin und der Auftakt für ein goldenes Zeitalter. Denn durch Antibiotika wurden nicht nur Infektionen behandelbar, sondern es wurden auch viele andere Eingriffe überhaupt erst möglich: Knie- oder Hüftoperationen beispielsweise oder auch Krebsbehandlungen können nur unter dem Einsatz von Antibiotika erfolgreich sein. Leider haben der übermäßige Konsum und der Missbrauch dieser kostbaren Ressource zu einer weltweiten Krise geführt. Heute sind wir mit einer wachsenden Resistenz gegen Antibiotika konfrontiert.

Warum Waffen stumpf werden

Viele Pharmaunternehmen haben sich an der Entwicklung von Antibiotika beteiligt, so auch MSD. Unser Unternehmen engagiert sich seit über 80 Jahren in der Erforschung, Entwicklung und der Herstellung antimikrobieller Mittel. Während einige andere Pharmaunternehmen ihre Aktivitäten in diesem Bereich mittlerweile eingestellt haben, setzt MSD sein Engagement weiter fort.

Es gibt viele verschiedene Bakterien oder Keime, die im menschlichen Körper Infektionen verursachen, zum Beispiel in der Lunge, in den Harnwegen, im Bauchraum oder im Blut. Heute steht Ärztinnen und Ärzten eine große Anzahl von Antibiotika mit unterschiedlichen Wirkmechanismen zur Verfügung, aus denen sie wählen können, um einen bestimmten Erreger an einem bestimmten Infektionsort zu behandeln.

Ein interessantes Detail: Eine Lungenentzündung im ambulanten Bereich wird von anderen Erregern verursacht als eine Lungenentzündung auf der Intensivstation. Es handelt sich damit auch um vollkommen unterschiedliche Erkrankungen, die folglich auch mit unterschiedlichen Antibiotika behandelt werden müssen.

Wie Bakterien tricksen

Doch Bakterien sind „schlau“ und schützen sich gegen die Wirkung von Antibiotika. Wie sie das machen? Sie pumpen das Antibiotikum, das sie eigentlich eliminieren soll, aus der Bakterienzelle heraus, oder die Bakterien produzieren Moleküle, die das Antibiotikum zerstören können. In der Folge entgehen die Keime der Wirkung eines Antibiotikums, und das wiederum ermöglicht die Weitervermehrung des Krankheitserregers. In der Medizin spricht man in solchen Fällen davon, dass Keime gegen Antibiotika resistent werden. Mit anderen Worten: Die Therapie wirkt einfach nicht mehr.

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Zahlen & Fakten

Illustration zu den Gründen von Antibiotika-Resistenzen
Der Mensch ist mit Tier und Umwelt auf vielfache Weise verbunden. Dass wir diese einfache Tatsache ignoriert haben, könnte uns nun zum Verhängnis werden. © Francesco Ciccolella

Wie Antibiotika-Resistenzen entstehen

  • Pestizide und Gülle: Nicht nur Antibiotikarückstände, sondern auch die Pestizide und Gülle selbst fördern Resistenzen, sobald sie in Böden und Gewässer gelangen.
  • Zu viel des Guten: Häufig Antibiotika zu nehmen fördert Mutationen. Über das Abwasser gelangen die resistenten Gene in den Wasserkreislauf und werden an die Nahrungskette weitergegeben.
  • Hospitalisierung: Wenn Patienten mit resistenten Keimen ins Krankenhaus kommen, gefährden sie dort vor allem immungeschwächte Mitpatienten.
  • Dauerstress: Antibiotika und Pestizide im Futter lassen in den Tieren resistente Bakterien entstehen. Über die Gülle kommen sie auf Äcker und in den Wasserkreislauf.
  • Nahrungskette: Die Antibiotika- und Pestizidrückstände gelangen über die Nahrung in den Darm des Menschen und verändern sein Mikrobiom. Die Auswirkungen werden gerade erforscht.
  • Hygiene: Die meisten Keime gelangen über die Hände in den Mund und den Organismus. Seife wäre im Sinne der Hygiene besser, denn selbst Desinfektionsmittel können Resistenzen fördern.
  • Mensch zu Mensch: Haben sich resistente Bakterien im Körper gebildet, können sie an andere Menschen weitergegeben werden. An sich ist eine Besiedelung mit resistenten Keimen kein Problem, nur im Krankenhaus kann sie zur tödlichen Gefahr werden.

Antibiotikaresistenzen entwickeln sich in verschiedenen Bereichen, vor allem aber in Krankenhäusern. Dort ist der Antibiotikaverbrauch aufgrund der zahlreichen Kranken sehr hoch, oft haben Patienten ein geschwächtes Immunsystem und können Bakterien deshalb schlechter bekämpfen. Dies gilt insbesondere für Menschen mit Krebserkrankungen, die mit Chemotherapeutika behandelt werden. Resistente Bakterien können im Spital von Patient zu Patient weitergegeben werden, besonders auf Intensivstationen ist diese Gefahr groß. Es besteht also dringender Bedarf an neuen Medikamenten.

Neue Business-Modelle

Leider ist die Entwicklung von Antibiotika unwirtschaftlich geworden. Bis ein neues Mittel auf dem Markt ist, hat der Prozess von der Grundlagenforschung bis zur Zulassung rund 1,5 Milliarden Euro gekostet. Die Herausforderung besteht auch darin, dass ein neues Antibiotikum nur als Notfallmedikament eingesetzt werden sollte, also gezielt und in Einzelfällen. Nur so behält es seine Wirkung gegen Bakterien. Ein neues Antibiotikum kann deshalb die Entwicklungskosten niemals wieder hereinspielen.

Der Plan ist, bis 2030 mithilfe des AMR Action Funds zwei bis vier neue Antibiotika auf den Markt zu bringen.

Deshalb haben sich auch einige Pharmaunternehmen aus dem Bereich zurückgezogen. Wir bei MSD entwickeln neue Strategien zur Finanzierung der Antibiotikaentwicklung und zur Verfügbarkeit dieser Medikamente in Gesundheitssystemen.

Eine konkrete Maßnahme ist die gemeinsame Anstrengung zur Schaffung des AMR Action Fund. Dabei handelt es sich um einen Forschungsfonds von über 20 Unternehmen, darunter auch MSD, der mit einer Anfangsfinanzierung von einer Milliarde Euro neue Wirkstoffe auf den Weg bringen soll. Der Plan ist, bis 2030 auf diese Weise zwei bis vier neue Antibiotika auf den Markt zu bringen.

Forschung à la Netflix

Darüber hinaus konzentrieren wir uns als Industrie intensiv auf die Aufklärung im Bereich der antimikrobiellen Resistenz. Das Schlüsselwort ist „Stewardship“, also das Konzept einer gemeinsamen Verantwortung. Diese besteht aus einer Reihe von Maßnahmen. So sollten sich Ärzte und Patienten der Gefahr stets bewusst sein, dass der ungerechtfertigte Einsatz von Antibiotika zu einem Wirkungsverlust führen kann. Die Leidtragenden sind schlussendlich immer Patientinnen und Patienten. Antibiotika sollten nur dann zum Einsatz kommen, wenn es wirklich notwendig ist.

Forscherin Sandra Charvatova bei der Arbeit im Labor der Blood Cancer Research Group, Ostrava, Tschechien, 2023
Das Netflix-Modell birgt nicht nur Innovationspotenzial bei der Entwicklung neuer Antibiotika. Es könnte auch in anderen Forschungsbereichen zum Einsatz kommen – etwa bei der Krebsforschung wie hier in Ostrava, Tschechien, 2023. © Getty Images

Es hilft auch sehr, den Erreger erst einmal durch Laboranalysen zu ermitteln. Nur dann ist es möglich, das richtige Antibiotikum für den richtigen Patienten in der richtigen Dosis im richtigen Intervall und für die richtige Dauer einzusetzen. Das klingt zunächst nicht besonders schwierig, wird in der Praxis aber oft nicht eingehalten. In jedem Fall muss die Entwicklung neuer Medikamente in diesem Bereich auf andere Grundlagen gestellt werden.

Dazu gehören innovative Finanzierungs- und Erlösmodelle. Vielversprechend scheint das sogenannte Netflix-Modell zu sein. Die Idee: Pharmahersteller und Gesundheitsdienstleister schließen einen gemeinsamen Pakt und teilen sich die Entwicklungskosten im Voraus. Dies wäre auch ein Anreizsystem, um die Entwicklung neuer Antibiotika voranzutreiben.

Die stille Pandemie

Wenn dann ein neues Antibiotikum auf den Markt kommt, haben alle an der Entwicklung beteiligten Leistungserbringer Zugang dazu und können es bei Bedarf einsetzen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Bei einem solchen Erlösmodell wird nicht mehr nach verkauften Pillen abgerechnet. Es ist eine Art Abonnementsystem.

Ohne Antibiotika ist die Gesundheit der gesamten Gesellschaft in Gefahr – übrigens von Mensch und Tier gleichermaßen.

Ich glaube, die Öffentlichkeit ist sich der drohenden Gefahr durch die Antibiotikaresistenz zu wenig bewusst. Wenn diese Medikamente nicht mehr wirken, sind nicht nur Infektionen betroffen, sondern das gesamte medizinische System. Ohne Antibiotika sind viele Behandlungen gar nicht möglich. Wenn wir solche Probleme vermeiden wollen, müssen wir handeln.

Ohne Antibiotika ist die Gesundheit der gesamten Gesellschaft in Gefahr – übrigens von Mensch und Tier gleichermaßen. Die Antibiotikaresistenz ist eine Art stille Pandemie. Wird dagegen nichts unternommen, könnten die Todesfälle durch Infektionen bis zum Jahr 2050 auf zehn Millionen weltweit anwachsen. Es liegt an uns, dieses Desaster zu verhindern.

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Conclusio

Durch die Dynamik der Evolution sind die einst potenten Waffen gegen lebensgefährliche Keime stumpf geworden. Bakterien haben gelernt, die Wirkung von Antibiotika zu neutralisieren. Das Problem kann nur mit einer gemein­samen An­strengung und mit unterschiedlichen ­Strategien bekämpft werden. Am wichtigsten ist es, Patienten und Ärzte ­davon zu überzeugen, dass antibio­tische Medi­ka­mente sparsam eingesetzt werden ­müssen. Außerdem gilt es, kreative Ge­schäftsmodelle zu finden, um die ­Finanzierung neuer Antibiotikaklassen zu ermöglichen. Derzeit ist die Entwicklung kein Geschäft, weil neue Antibiotika nur äußerst selten eingesetzt werden sollten, um ihre Wirkung zu behalten. Das ­verträgt sich nicht mit den Business­modellen der Pharmaindustrie. Neue Partnerschaften könnten eine Lösung sein.

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