Tempolimit 130 für den Zug

Hochgeschwindigkeitsstrecken und überteuerte Prestigeprojekte wie der Koralmtunnel sind kein Beitrag zum Klimaschutz. Die Schweiz zeigt vor, wie man es richtig macht.

„Königreich der Eisenbahnen“, einem Erlebnismuseum im Wiener Prater. Das Bild illustriert einen Artikel über ein Tempolimit beim Bahnfahren.
Problemzonen im Maßstab 1:87. „Königreich der Eisenbahnen“, einem Erlebnismuseum im Wiener Prater, in dem eine der größten Modelleisenbahnanlagen der Welt entsteht. © Gregor Kuntscher
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Auf den Punkt gebracht

  • Konzept. Europas Verkehrspolitik setzt auf Hochgeschwindigkeitsstrecken zwischen Großstädten, was den Zugang für Reisende außerhalb dieser Metropolen erschwert.
  • Probleme. Diese Strategie verkleinert die Bahnnetze und erhöht die Kosten, was dem Ausbau des Schienenverkehrs und dem Klimaschutz entgegensteht.
  • Finanzierung. Teure Großprojekte wie Stuttgart 21 verschlingen Mittel, die dann für den Ausbau und die Modernisierung des Nah- und Regionalverkehrs fehlen.
  • Auswirkungen. Hochgeschwindigkeit erfordert mehr Energie und verursacht größere Umweltschäden. Ein dichtes Regionalnetz, wie in der Schweiz, wäre effizienter und umweltfreundlicher.

Jeder Reisende möchte so schnell wie möglich von A nach B gelangen. Ohne weite Anreise zu den Bahnhöfen. Und ohne lange Wartezeiten. Es wäre also gute Verkehrspolitik, auf ein engmaschiges Netz mit vielen Bahnhöfen und dichten Takten zu setzen. Doch in Europa passiert das Gegenteil: Mit dem Ausbau der sogenannten Transeuropäischen Netze (TEN) werden viel zu viel Planungsenergie und Investitionsvolumen auf wenige Hochgeschwindigkeitsachsen zwischen den Metropolen konzentriert. Man kommt also nur dann schnell von A nach B, wenn es sich in beiden Fällen um Großstädte handelt. Für alle anderen Menschen ist das Zugfahren mühsamer geworden.

Die politische Fehlsteuerung führt dazu, dass die Bahnnetze immer kleiner werden, dafür aber die wenigen Neu- und Ausbaustrecken immer teurer. Mit der steigenden Geschwindigkeit explodieren auch die Kosten für Fahrzeuge, Strecken sowie Leit- und Sicherheitssysteme. Diese Strategie liefert keinen Beitrag zum Klimaschutz und zur Steigerung des Schienenanteils am Gesamtverkehrsaufkommen.

Sehr viel Steuergeld ist nötig, um die Hochgeschwindigkeitsprojekte zu realisieren. Dabei sollte es eigentlich darauf ankommen, das zur Verfügung stehende Kapital möglichst sinnvoll einzusetzen. Trotzdem fließen heute die meisten Bahnmilliarden in zweifelhafte Großprojekte; als herausragende Beispiele seien hier Stuttgart 21 und der Koralmtunnel in Österreich genannt. Für den Ausbau der Netze von Nah-, Regional- und Interregioverkehr sowie die Modernisierung der Infrastruktur fehlt dann das Geld. Aber gerade in diesen Bereichen gibt es das mit Abstand größte Passagieraufkommen.

Flächenbahn statt Tempowahn

Den größten Anteil am gesamten Bahnverkehr haben Fahrten unter 100 Kilometern, gefolgt von Distanzen zwischen 100 und 300 Kilometern. Hier entscheidet sich der Erfolg der Verkehrswende, denn hier dominiert der klimaschädliche Autoverkehr. Die Anteile der Fernmobilität im Personen- wie im Güterverkehr sind klein. Aber selbst auf diesen Strecken bietet die Hochgeschwindigkeit geringe Zeitvorteile, wenn die Anzahl der Verbindungen klein und die Taktierung wenig dicht ist. Für die wirklich langen Strecken jenseits von 600 Kilometern stellen weniger tempoabhängige Nachtzug-Angebote die beste Alternative zum Flugverkehr dar – wobei es hier wegen der jahrzehntelangen Vernachlässigung dieser Sparte große Defizite gibt.

Hochgeschwindigkeitsprojekte sind extrem teuer. Im Nahverkehr wäre das Steuergeld viel besser eingesetzt.

Das Prinzip der sogenannten Flächenbahn basiert auf gut ausgebauten Regionalnetzen, die mit dichten Takten befahren werden und große Kundennähe bieten. Durch die Stilllegung von Strecken und Bahnhofsschließungen wurde die Wettbewerbsfähigkeit der Bahn gegenüber dem Straßenverkehr immer weiter eingeschränkt. Diese falsche Politik mit dem forcierten Tempowahn vermindert den Beitrag, den Bahngesellschaften zur Verkehrswende leisten können.

Die Vorzüge des Flächenbahn-Konzepts lassen sich sehr gut in der Schweiz beobachten. Basis ist dort ein intelligent ausbalancierter Regional-Taktfahrplan, an dem sich die Infrastruktur-Investitionen orientieren. Das Prinzip lautet: Takt vor Tempo. Es ist viel wichtiger, im Zu- und Abgang und beim Umsteigen möglichst wenig Zeit zu verlieren, als auf einem kurzen Stück mit Tempo 300 zu rasen. Das Schweizer Bahnnetz bietet viele Haltepunkte und gewährleistet durch das integrale Taktsystem an den Knotenpunkten in alle Richtungen sofort Anschluss. Voraussetzung dafür ist eine Pünktlichkeit, die in der Schweiz nicht nur versprochen, sondern auch geboten wird. Mit diesem System haben die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung erreicht und erzielen so einen entsprechend großen Nutzen für die Umwelt.

Viele kleine Schritte

Die Flächenbahn arbeitet nicht mit Milliardenaufträgen, die sich von populistisch agierenden Politikern stolz in den Medien verkünden lassen. Es sind vielmehr kleine Modernisierungs- und Ausbauprojekte, die über das ganze Land verteilt werden. Im Vordergrund steht die Behebung von Engpässen im Netz und an den Knotenpunkten. Mehr Weichen und Überholgleise erweitern die Kapazität wirksamer als eine Highspeed-Neubaustrecke. Zusätzlich bietet ein dezentrales System von Güterverteilzentren Betrieben und Onlinehandel viele Annahmestellen.

Harmonisierte Geschwindigkeiten der Züge machen Nah- und Regionalverkehr und sogar die Güterbahn schneller und im Betrieb günstiger. Das Rollmaterial der Flächenbahn ist in Anschaffung und Betrieb preiswerter. Auch hier ist die Schweiz vorbildhaft: Es gibt keine Unterschiede in den Tarifen und Prioritäten zwischen Nah- und Fernverkehr.

Das Temporennen wurde in den frühen 1960er-Jahren in Japan eröffnet. Bei der Eröffnung der Olympischen Spiele 1964 in Tokio war der 250 km/h schnelle Shinkansen eine technologische Sensation. Frankreich zog 1981 mit dem TGV nach. Der erste deutsche ICE wurde auf seiner ersten Neubaustrecke exakt zehn Jahre später in Betrieb genommen. Dem Zeitgeist entsprechend spielte der Klimaschutz beim Aufbau der Hochgeschwindigkeitsnetze damals keine Rolle. Es war maximale Geschwindigkeit gefragt, um mit den aufkommenden Kurzstreckenflügen konkurrieren zu können.

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Zahlen & Fakten

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Der hohe Landschaftsverbrauch, die Vielzahl der notwendigen Bauwerke, der Energiebedarf und der massive Streckenverschleiß wurden dabei in Kauf genommen.

Vorteile von Tempolimits

Heute muss im Sinne einer ehrlichen Klimabilanz der Bahn gesagt werden: Mehr Tempo kostet mehr Energie, egal ob beim Auto oder bei der Bahn; so wollen es nun einmal die physikalischen Gesetze. Luftwiderstand, Energiebedarf, Lärmemissionen, Streckenverschleiß und Aufprallkräfte wachsen allesamt dramatisch mit der Geschwindigkeit. Das Gleiche gilt für die Kosten der Infrastruktur und der Fahrzeuge.

Im Betrieb reduziert die Hochgeschwindigkeit sogar die Kapazität der Strecken. Man kennt den Zusammenhang von den Autobahnen: Je höher die Verkehrsdichte, desto langsamer muss gefahren werden. Die Kolonne „aus dem Nichts“ entsteht durch Raser, deren „Schockwellen“ beim Bremsen einen Stau verursachen können. Deshalb sind auf Autobahnen intelligente Verkehrssteuerungssysteme zur Regulierung der Höchstgeschwindigkeit je nach Fahrzeugmenge inzwischen nahezu eine Selbstverständlichkeit.

Die Kapazität der Strecke sinkt, wenn die Raser Vorrang haben.

Nach der gleichen Logik sinkt die Kapazität des Bahnnetzes, wenn die Raser Vorrang haben. Optimal läuft es, wenn die einzelnen Teile des Schienenverkehrs im mittleren Tempobereich harmonisiert werden. Dank des technologischen Fortschritts und der weitgehenden Elektrifizierung ist das heute viel leichter möglich als in der Vergangenheit. S-Bahnen, Regionalbahnen und Regionalexpresszüge wurden immer schneller, sie erreichen oft problemlos 120 km/h, teilweise auch 160. Leichte Güterzüge schaffen inzwischen 120 km/h.

Besonders negativ auf die Klimabilanz drückt der Tempowahn bei der Infrastruktur. Highspeed-Trassen brauchen große Radien und vertragen nur geringe Steigungen. Sie müssen sich wie ein dicker Strich durch die Landschaft pflügen. Was im Weg steht, muss weg, überbrückt oder durchbohrt werden. Dazu kommen aufwendige Maßnahmen beim Lärmschutz und für Kreuzungen (mehr über den extrem hohen baulichen Aufwand und die daraus resultierende Umweltbilanz hier).

Geschwindigkeit kostet

Hochgeschwindigkeitsbahnen sind extrem teuer in Errichtung und Betrieb, und sie passen auch nicht zum gewünschten Mobilitätsprofil der meisten Kunden. Dem einen Langstreckenfahrer, der sich freut, schneller und komfortabler als mit dem Auto unterwegs zu sein, steht eine Vielzahl von Pendlern gegenüber, die durch überfüllte Züge, häufige Verspätungen und mangelhafte Verbindungen abgeschreckt werden.

Wenn Verkehrspolitiker also mit großer Verve neue Highspeed-Trassen fordern, dann schaden sie letztlich dem Klima.

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Conclusio

Falsche Prioritäten. Viele Hochgeschwindigkeitsstrecken – wie etwa die Koralmbahn – sind Prestigeprojekte, die nur von einer Minderheit der Bevölkerung genützt werden, mit denen Politiker aber allzu oft punkten wollen.

Raserei. Hochgeschwindigkeit hat viele Nachteile: höherer Flächenverbrauch, Emissionen beim Bau und Energieaufwand im Betrieb. Es ist schlicht nicht logisch, Tempo 100 auf der Autobahn zu fordern – und Tempo 300 auf den Gleisen.

Überfüllte Pendlerzüge. Effizient wäre es, die stark frequentierten Nahverkehrsstrecken in Ballungsräumen auf ein kundenfreundliches Niveau zu heben, bevor prestigeträchtige und teure Strecken gebaut werden.

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