Alles auf Schiene?
Die Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene soll die Umwelt entlasten. Doch trotz Milliardeninvestitionen wird immer mehr Fracht per Lkw transportiert.

Auf den Punkt gebracht
- Entwicklung. Die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene scheitert trotz politischer Ziele und Investitionen. Der Marktanteil der Bahn im Güterverkehr sinkt weiterhin.
- Problematik. Optimistische Prognosen und politische Zielsetzungen wurden nicht erreicht. Großprojekte wie der Brenner-Basistunnel hängen von unrealistischen Güterverkehrsprognosen ab, während Zulaufstrecken fehlen.
- Hindernisse. Es gibt kaum echten Wettbewerb im Bahnsektor, und nationale Interessen verhindern Innovationen und Standardisierungen.
- Auf Schiene. Eine Dekarbonisierung des Güterverkehrs ist notwendig. Dies erfordert längere Güterzüge, harmonisierte Geschwindigkeiten und technologische Offenheit bei Lkw-Antrieben.
Es ist nicht nur ein subjektiver Eindruck: Tatsächlich werden die Lkw-Kolonnen auf den Autobahnen von Jahr zu Jahr länger. Die Staus sind ein Sinnbild dafür, dass die von Politik und Bahnmanagern seit Jahrzehnten propagierte Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene eine Geschichte des Scheiterns ist. Und leider sind die Chancen, das zu ändern, ausgesprochen gering.
In kaum einem anderen Bereich driften politisches Wunschdenken und Realität so weit auseinander wie beim Schienen-Güterverkehr. Ungeachtet der offiziellen Prognosen und Milliardeninvestitionen gingen zwischen 2019 und 2023 Marktanteile verloren. Allein 2023 musste die ÖBB-Gütersparte Rail Cargo Austria (RCA) einen Rückgang des Transportvolumens von über zehn Prozent hinnehmen und geriet operativ ins Minus. Schnell war von den Verantwortlichen die schwache Konjunktur als Ursache festgemacht; aber der Lkw-Verkehr verlor im gleichen Zeitraum deutlich weniger. Also wieder ein Jahr, in dem die Bahn nicht aufgeholt, sondern massiv an Boden verloren hat.
Hoffnung statt Rechnung
In den vergangenen 30 Jahren gab es immer wieder optimistische Prognosen und politische Zielsetzungen zur Steigerung des Schienenanteils am Güterverkehr. Nichts davon ist bisher eingetroffen. Trotzdem lässt sich kein Politiker bei künftigen Investitionen von meilenweit verfehlten Zielen abschrecken. Für Milliarden-Entscheidungen bei der Bahn gilt stets das Prinzip Hoffnung, obwohl immer öfter klare Fakten dagegensprechen: Megaprojekte wie der Koralmtunnel oder der Brenner-Basistunnel werden nur mit entsprechender Güterauslastung eine sinnvolle CO2-Bilanz erzielen. Doch die Kapazitäten auf den Zulaufstrecken fehlen.
Denn abseits der klassischen Transitländer gibt es innerhalb Europas kaum Interesse an der Steigerung des Schienen-Güterverkehrs. Wie unrealistisch die aktuellen Prognosen des Klimaschutzministeriums sind, zeigt folgendes Beispiel: Wenn Europa nicht in eine tiefe Rezession fällt, wird der Güterverkehr in den nächsten Jahren weiter stark wachsen, im Mittel unserer Szenarien um 38 Prozent.
Um das von der Umweltministerin ausgegebene Ziel eines Bahnanteils im sogenannten Modal-Split von 40 Prozent zu erreichen, müsste die Transportmenge der Bahn um 100 Prozent wachsen. Aber doppelt so viele Fahrten auf den heute schon überlasteten Strecken scheinen völlig illusorisch, selbst bei deutlich verbesserter Technik.
Die Bahn gilt als grünes, umweltfreundliches Transportmittel, selbst wenn sie mit 200 km/h Landschaften zerschneidet.
Wobei fairerweise gesagt werden muss, dass die ÖBB über eine verhältnismäßig solide Basis verfügen und im internationalen Verkehr unter der maroden Infrastruktur der Nachbarn leiden. Trotzdem: Die Straße wird der dominierende Verkehrsträger bleiben – und das hat viele Gründe.
Mission impossible
Der Hauptgrund liegt darin, dass es im Bahnsektor europaweit kaum echten Wettbewerb gibt. Trotz der weit vorangeschrittenen Privatisierung kommen am Ende doch die jeweiligen Nationalstaaten für etwaige Fehlleistungen des Managements auf. Man wiegt sich – wohl nicht ganz unberechtigt – in der Sicherheit, dass ein wirtschaftlicher Totalschaden der beherrschenden Bahnunternehmen, also eine Insolvenz samt Einstellung des Transportbetriebs, völlig denkunmöglich ist, und dementsprechend scheint das Management manchmal zu handeln. Die Bahn ist einfach too big to fail.
Dazu kommt eine weitgehend wohlwollende Berichterstattung in den Medien, was wiederum dazu führt, dass auch von der politischen Opposition kaum Negatives zum Thema Schiene kommt. Die Bahn gilt als grünes, umweltfreundliches Transportmittel, selbst wenn sie mit 200 km/h Landschaften zerschneidet.
Und dieser Sonderstatus in der Gesellschaft fördert nicht unbedingt den Geist der freien Marktwirtschaft. Entsprechend erfolgreich stemmen sich europaweit Bahnlobbys und Gewerkschaften gegen Innovationen und Vereinfachungen. Es gibt viel zu viele Einzelinteressen, die auch gehört werden. Am Beispiel Verbrenner-Verbot: Ein so tiefgreifender Einschnitt in ein funktionierendes Geschäftsmodell wäre bei der Bahn völlig undenkbar – obgleich notwendig.
Standardisierung? Kein Interesse
Die EU hat bewiesen, dass sie fast alles vereinheitlichen kann, bestes Beispiel ist die Telekommunikation: Datenverkehr und Telefonie funktionieren europaweit mit kompatibler Technik zu günstigen Preisen. Bei den Richtlinien für Schienenwege, Stromversorgung, Sicherheitssysteme und Rollmaterial ist dagegen in den letzten 50 bis 60 Jahren kaum eine Harmonisierung gelungen. Die Hersteller haben verständlicherweise kein Interesse an einer europaweiten Standardisierung. In dieser Branche geht es nach wie vor um nationale Interessen, wie etwa komplizierte und teure Zulassungsverfahren zeigen.
Zahlen & Fakten
Die Probleme im Schienenverkehr lassen sich lösen: Zehn Expertentipps für eine bessere, billigere und in allen Bereichen effizientere Bahn.
1. Klüger investieren
Statt Milliarden in Fernverkehrsprojekte mit zweifelhaftem Nutzen zu stecken, sollte ein deutlich stärkerer Fokus auf den Nah- und Regionalverkehr gelegt werden.
2. Ehrlichere CO2-Bilanzen
Der EU-Rechnungshof kritisiert, dass die prognostizierte Klimaschutzwirkung von Bahnprojekten oft viel zu hoch eingestuft werde. Derzeit werden die Emissionen beim Bau der Infrastruktur nicht berücksichtigt. Einige Großprojekte könnten sogar eine dauerhaft negative CO2-Bilanz haben, womit der Umwelt am Ende nicht gedient ist.
3. Mehr Wettbewerb
Die EU schafft es auf vielen Gebieten – etwa bei der Telekommunikation –, durch strikte Regeln für mehr Wettbewerb zu sorgen. Im Bahnverkehr gelingt das jedoch seit Jahrzehnten nicht. Aufgrund einer Vielzahl von Sonderregeln sowie unterschiedlicher Techniksysteme bleibt die Bahn eine weit gehend nationale Domäne.
4. Schnellere Modernisierung
Die Innovationszyklen des Rollmaterials der Bahn sind extrem lange, was zum Teil an den aufwendigen und von Land zu Land unterschiedlichen Zulassungsverfahren liegt. Eine schnellere Einführung von modernen Sicherheitssystemen könnte die Taktrate erhöhen, digitale Kupplungssysteme würden den Güterverkehr beschleunigen.
5. Realistischere Prognosen
Der Güterverkehr auf der Schiene hat gegenüber dem Lkw einen sehr schweren Stand. Wegen der „Amazonisierung“ der Logistik werden die Bedingungen eher schlechter als besser. Zielsetzungen für die in Planung befindlichen Projekte müssten diese Probleme berücksichtigen.
6. Unkonventionell denken
Weniger Ideologie und Populismus in der Politik und in den Vorstandsetagen, dafür ehrlichere Kosten- Nutzen-Analysen könnten für mehr Effizienz auf der Ausgabenseite sorgen. Ein Beispiel: Wäre der Brenner-Basistunnel ausschließlich für automatisierte Güterzüge ausgelegt worden, hätte man Milliardenbeträge einsparen und zur Verbesserung der Nahverkehrsinfrastruktur einsetzen können.
7. Schuldenstopp
Dem Investitionseifer der ÖBB scheinen derzeit keine Grenzen gesetzt. Schon heute sind die Schulden etwa gleich hoch wie jene der beinahe zehnmal so großen Deutschen Bahn. Mit dem Zielnetz 2040 wird sich diese Summe nochmals verdoppeln. Es wäre an der Zeit, die volkswirtschaftlichen Auswirkungen dieser Pläne ernsthaft zu hinterfragen.
8. Mehr Transparenz
Die Deutsche Bahn gibt in ihrer Bilanz die Auslastung der Züge im Fernverkehr mit 49,1 Prozent an, die ÖBB will aus „Wettbewerbsgründen“ keine Zahlen bekanntgeben. Damit wird die Klimabilanz in einigen Punkten zur Blackbox, weil sich vieles nicht nachrechnen lässt. Der ökologische Nutzen der Koralmbahn etwa wird sich wohl nie ermitteln lassen.
9. Blick in die Schweiz
Das Beispiel Schweiz zeigt, dass höhere Zugfrequenzen und damit besser funktionierende Verbindungen den Passagieren mehr bringen als Highspeed- Züge für eine vergleichsweise kleine Zielgruppe.
10. Tempolimit 130
Weniger Geschwindigkeit auf den Hauptstrecken würde eine harmonische Einbindung von langsameren Zügen (Regional- und Güterzügen) und damit eine höhere Frequenz ermöglichen.
Beim Rollmaterial sind die Innovationszyklen um ein Vielfaches länger als bei Lkw-Herstellern, ein automatisches, digitales Kupplungssystem für Güterwaggons hat sich bis heute nicht durchgesetzt. Das Sicherheitssystem ETCS (European Train Control System) wurde in den frühen 2000er-Jahren eingeführt, soll aber erst in zwanzig Jahren flächendeckend verfügbar sein.
Ähnlich rückständig ist der Personalsektor: Lokführer müssen die jeweilige Landessprache sprechen. So verhindert man unangenehme Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und macht die Unternehmen erpressbar. Man stelle sich einmal die gleiche Regel bei Lkw-Fahrern oder Piloten vor.
„Amazonisierung“ der Logistik
Zu den hausgemachten Problemen kommen strukturelle Veränderungen im Transportwesen. Durch die Energiewende und den allgemeinen Rückgang in der industriellen Produktion wird der Transport von schweren, schienenaffinen Massengütern (Mineralöl, Chemie, Kohle) weiter an Bedeutung verlieren. Diese Entwicklung begann bereits vor über dreißig Jahren, als sich auch in Europa die in Japan entwickelte Just-in-time-Produktion durchsetzte. Die Lagerhaltung wurde von der Fabrik auf das Transportmittel verlegt. Wenn sich eine Lieferung nur um Stunden verzögert, droht bereits ein Produktionsstillstand. Hier konnte die Güterbahn nicht mithalten, wo Verspätungen um mehrere Tage keine Seltenheit sind.
Mit der „Amazonisierung“ der Wirtschaft, also dem Trend zum Transport von kleinen, individualisierten Sendungen, wurden die Anforderungen an die Logistik nochmals deutlich verschärft. Aus heutiger Sicht werden die starren Bahnstrukturen beim Warenverkehr der Zukunft weder im Tempo noch bei der Flexibilität mit den modernen Zeiten mithalten können.
Technologieoffenheit
Viele Logistikunternehmen würden gerne aus ökologischen Gründen einen Teil ihrer Transporte auf die Schiene verlagern, haben aber keine Chance, die erforderlichen Trassen zu bekommen – weil es im Schienennetz heute schon sehr eng zugeht und der Personenverkehr absoluten Vorrang hat. Letzteres liegt womöglich daran, dass Passagiere auch Wähler sind, während beim Warenverkehr vage politische Versprechungen reichen.
Aus ökologischer Sicht wäre jedoch eine Trendwende beim Modal-Split des Transportwesens enorm wichtig. Denn die Klimaziele für den Verkehrsbereich lassen sich nur erreichen, wenn ein deutlicher Schwerpunkt auf die Dekarbonisierung des Güterverkehrs gesetzt wird. Und dies kann wiederum nur gelingen, wenn alle technologischen Möglichkeiten genutzt werden: Dazu gehören längere Güterzugverbände und eine Harmonisierung der Geschwindigkeiten, um die Anzahl der Transportslots zu erhöhen. Außerdem Technologieoffenheit bei Lkws, die von E-Fuels bis Wasserstoffantrieb reicht.
Vor allem ist aber ein offenerer, ideologiebefreiter Zugang zum Thema Bahn erforderlich. Derzeit sind die lautesten Fans der Schiene oft zugleich auch jene, die echten Fortschritt behindern, indem sie eingefahrene Strukturen und populistische Standpunkte über Effizienzsteigerung stellen.
Conclusio
Standardisierung. Die Hersteller haben logischerweise kein Interesse an der europaweiten Vereinheitlichung der Bahntechnologie. Die EU macht da viel zu wenig Druck. Deshalb passieren auch die Innovationsschritte viel zu langsam.
Amazonisierung. In Europa werden immer weniger schienenaffine Massengüter produziert. Dafür steigen Just-in-Time-Aufträge und kleine individualisierte Sendungen. Beides wird die Zukunft der Güterbahn nicht einfacher machen.
Pragmatismus. Eine Trendwende im Transportwesen wäre wichtig für die Ökobilanzen. Extrem teure Tunnelbauwerke tragen dazu wenig bei. Es braucht ein gesamtheitliches Konzept, um die Güterbahn attraktiver zu machen.