Und ewig lockt die Nation

Nationalismus macht Dinge einfach. Er erzeugt ein wohliges Wir-Gefühl und reduziert die Wirklichkeit auf Schwarz-Weiß. Von dieser Weltsicht kann sich Bosnien bis heute nur schwer lösen.

Junge mit Gewehr hinter Glasscheibe im Bosnienkrieg
Kinder des Krieges: Die knapp vierjährige Belagerung von Sarajevo prägte das Leben tausender Familien. © Getty Images

In der Mitte des Sommers 1991 bemühten sich Veljko und ich in einem stundenlangen Gespräch, eine für uns neue Erscheinung zu verstehen, die uns verwirrte. Diese neue Erscheinung waren nationale Missionare, die uns erklärten, wer zu wem gehört und wo wessen Platz ist.

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„Er will mich davon überzeugen, dass irgendjemand aus dem serbischen Ort Kragujevac mir näher steht als du“, sagte Veljko erstaunt. „Von dem aus Kragujevac habe ich nichts gehört und gesehen, aber mit dir habe ich Tage in Gesprächen verbracht, wir haben zusammen einen ganzen Brunnen Kaffee und Schnaps getrunken, mindestens einen halben Sack Salz gegessen, in dem Essen, das wir geteilt haben. Trotzdem ist er mein Bruder, weil wir beide Serben sind, und du bist ein Fremder für mich oder sogar ein Feind, weil du kein Serbe bist. Ich verstehe das nicht“, gestand Veljko. Auch ich verstand es nicht, und so redeten wir stundenlang und bemühten uns, etwas von der Logik zu verstehen, die uns die neue Zeit, die gerade begann, aufdrängte.

Vergebens. Sosehr wir uns auch bemühten, wir entdeckten nicht einen Grund, warum sich ein normaler Mensch von seinen Nachbarn lossagen und ferne Menschen, die er bis jetzt nicht gesehen hat und wahrscheinlich auch nie sehen wird, ans Herz drücken sollte. Natürlich konnten wir diese Logik nicht verstehen: Die Grundlage der bosnischen Gesellschaft ist die Nachbarschaft – eine Gemeinschaft von Menschen, die auf relativ engem Raum leben und einander deshalb nahe sind. „Der Nachbar ist näher als der Bruder, der weit weg wohnt“, sagt ein bosnisches Sprichwort, und seit jeher wusste man, und deshalb wurde es nicht ausgesprochen, dass der Nachbar wichtiger ist als jede Regierung. Deshalb kamen Veljko und ich am Ende zum Schluss, dass die Bemühungen der nationalen Missionare keine Früchte tragen würden, weil sie keine Entsprechung im wirklichen Leben hätten, nicht einmal eine minimale Berührung mit ihm.

Flucht aus der realen Welt

Es zeigte sich jedoch, dass die nationalen Missionare zumindest ebenso recht hatten wie wir beide. Dem Ruf der Nation folgten jedenfalls weit mehr Menschen, als wir uns hatten vorstellen können. Auf jeden Fall genug, um Jugoslawien zu zerstören. Die Menschenmassen, die dem Ruf der Nation folgen, bedrohen ernsthaft auch schon die Europäische Union. Daher kehre ich schon seit Jahren obsessiv zu meinem Gespräch mit Veljko zurück und bemühe mich zu begreifen, an welchem Punkt wir beide uns damals geirrt haben. Was haben wir übersehen? Ist der Ruf der Nation wirklich so stark, dass er Millionen Menschen dazu veranlasst, dem realen Leben und der realen Welt zu entsagen, um ihm zu folgen? Worum geht es hier überhaupt?

Der Nachbar ist näher als der Bruder, der weit weg wohnt.

Bosnisches Sprichwort

Eine Antwort ahnte ich anlässlich einer Rezension meines Buches „Tagebuch der Übersiedlung“. Der Autor einer wohlwollenden Besprechung fragt sich am Ende seines Textes, warum ich denn etwas Besonderes darin sehe, dass in meiner Stadt Katholiken und Orthodoxe, Szientisten und Muslime, Agnostiker und Juden leben. In dem Gebäude, in dem er wohne, vermerkte mein Kritiker, lebten Angehörige von mindestens zwanzig Religionen. In der Wohnung gegenüber seiner lebe ein Mann aus Indien, über ihm eine Familie aus Subsahara-Afrika, unter ihm Menschen aus dem Nahen Osten.

Als ich ihn kennenlernte, fragte ich den Kollegen, ob der Mann aus Indien Muslim, Hindu oder Buddhist sei. Er wusste es nicht. „Was feiert er im Laufe des Jahres, wenn er Hindu ist?“, fragte ich weiter. „Wie feiert er? Wie gratulieren Sie ihm zu welchem Feiertag?“ Der Kollege war schließlich genervt von meinen Nachfragen nach Dingen, die ihn nichts angingen und die er gar nicht wissen wollte. Aber ich verstand, dass er nicht die Nachbarn selbst aufregend fand, sondern die Statistik. Er kennt die Anzahl der Religionen in seinem Haus, aber über die Menschen hinter dieser Zahl möchte er nichts erfahren. „Wir in Sarajevo wissen gut, was wer im Laufe eines Jahres feiert. Wir wissen, wie er es tut, und wir wissen, was wir tun müssen, um die Freude an seinem Feiertag mit ihm zu teilen“, erklärte ich dem Kritiker. „Denken Sie, das ist hier möglich?“, fragte er – mit „hier“ meinte er seine Millionenstadt.

Simpel statt kompliziert

Ich wusste, dass das nicht möglich ist. Ich wusste, dass Orte, in denen man noch wie in Sarajevo lebt, seltene Ausnahmen sind. Wir sind postmoderne Menschen, unsere Welt ist alt, und wir sind müde. Wir haben weder die Kraft noch die Zeit, andere Menschen kennenzulernen. Wir müssen sie auf eine Funktion reduzieren, um zusammen mit ihnen zu funktionieren.

Ein Paar liest Zeitung in einer von Granaten beschädigten Wohnung in Sarajevo
Die Bürger Sarajevos bemühten sich, während der Belagerung so viel Alltag wie möglich zu wahren. © Getty Images

Den Verpflichtungen nachzukommen, die das Alltagsleben dem modernen Menschen auferlegt, verlangt viel mehr Kraft, als wir haben. Deshalb müssen wir auf ein Leben in einer vielschichtigen Wirklichkeit verzichten und ziehen uns in zwei­dimensionale Weltmodelle zurück. Das haben Veljko und ich in jenem Gespräch im Sommer 1991 übersehen – ein wirklicher, lebendiger Mensch erlaubt keine Vereinfachungen, lässt sich nicht auf eine Funktion reduzieren. Die Idee der Nation hingegen reduziert alles auf klare, eindeutige Funktionen. In einer solchen Umgebung muss ich von den Leuten um mich herum nur eins wissen – welche Funktion jeder von ihnen in meinem Leben hat; so viel muss ich wissen. Alles Wissen darüber hinaus könnte die Dinge verkomplizieren.

Mit der Leidenschaft von Fußballfans

Die Zugehörigkeit zu einer Nation ersetzt den Verlust der unmittelbaren Wirklichkeit. Das bedeutet nicht, dass sich „sein“ und „zugehören“ ausschließen, aber es bedeutet, dass wir Zugehörigkeit umso mehr brauchen, je weniger wir sind. Erinnern wir uns an die Leidenschaft, mit der wir uns unserem Lieblingsfußballverein zugehörig fühlen, und uns wird klar, wie die Zugehörigkeit zur Nation wirkt. Die Zugehörigkeit zu einem großen Kollektiv ohne klare Grenzen macht die Dinge einfach und äußerst bequem: Die Menschen lassen sich in „wir“ und „die anderen“ einteilen, und ich muss über sie alle nur wissen, dass „unsere“ meine sind und dass ich gegen die anderen bin.

Diese Zugehörigkeit befreit mich von den anderen Menschen und ihrem Leben, befreit mich auch von mir selbst, soweit ich es brauche. Ich kann nämlich vor meinem „Volksbruder“ ruhig meine Vergangenheit verleugnen, in der es sicher mehr von dem gibt, was sich zu vergessen lohnt, als von dem, was man erinnern und bewahren soll. Ich kann mir meine Vergangenheit im Einklang mit meinen Wünschen selbst aussuchen, wie vor zufälligen Mitreisenden im Zug, weil mich die „Volksbrüder“ ja nicht kennen, wie auch ich sie nicht. Aufgegangen im Kollektiv der Nation, habe ich mich nicht nur von meinem ehemaligen und unerwünschten Ich befreit, sondern ich habe mich auch von der Verantwortung für mein eigenes Leben und Wesen befreit.

Die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv macht die Dinge einfach: Die Menschen lassen sich in „wir“ und „die anderen“ einteilen.

Als Teil des Kollektivs kann ich alles tun, was ich schon früher tun wollte, aber nicht getan habe, weil mich die Scham, die Angst und der Gedanke, dass sich Zeugen für meine (Un-)Tat finden lassen, abgehalten haben. Denn was ich jetzt tue, reduziert auf die Zugehörigkeit, das tun „wir“ und nicht ich. Wir schlagen die Witwe, wie wir in Ljubuški Štefica Galić geschlagen haben, weil sie nicht aufgeben wollte und starrköpfig darauf bestand, als Mensch zu handeln. Wir verbrennen Kinder und Greise bei lebendigem Leib, wie es Milan und ­Sredoje Lukić in Višegrad getan haben.

Die Mechanismen des Aufgehens von Menschen im Kollektiv und das Gefühl, dass uns dieses Aufgehen befreit, zeigt uns der russische Schriftsteller Dostojewski im Roman „Böse Geister“: Eine Gruppe von „Revolutionären“ ermordet den Abtrünnigen Schatow, weil die Gruppenzugehörigkeit sie von der Angst und dem Widerstreben gegen Mord befreit. Das Verbrechen schmiedet sie zu einer Gemeinschaft zusammen, aus der sie nicht mehr ausbrechen können, weil sie jetzt gegeneinander Zeugnis ablegen können, aber das wird ihnen erst am Ende klar; und dabei durchleben sie eine Euphorie, die in ihnen das Gefühl weckt, dass sie das Recht auf Niedertracht haben, also das Gefühl absoluter Freiheit, das Gefühl, dass nichts sie hemmt und einschränkt.

Helden, die ihre Heldentaten leugnen

An dieser Stelle ist wichtig, zu erwähnen, dass der Zugehörige keineswegs nur Objekt, also Opfer ist. Sein Verhältnis zum Kollektiv ist das wechselseitige Verhältnis zweier Subjekte, die sich gegenseitig hervorbringen und bestimmen. In Serbien werden schon seit Jahrzehnten Menschen, die für Kriegsverbrechen verurteilt worden sind, als Helden gefeiert. Fast jeder dieser Menschen hat sich jahrelang versteckt, hat verdeckt und unter falschem Namen gelebt. Und geschworen, das Verbrechen, dessen man ihn angeklagt hat, nicht begangen zu haben. Das heißt: Er leugnet eigentlich das, was heute Anlass ist, ihn als Helden zu feiern.

Jungen im Bosnienkrieg, die ein Poster mit der Aufschrift Bring the boys back home an einer Hauswand anbringen
Etwa 100.000 Menschen starben im Bosnienkrieg, darunter circa 40.000 Zivilisten. © Getty Images

Ein Held ist eine Person, die bereit ist, sich für die Wahrheit, an die sie glaubt, zu opfern. Die Basis ihres Heldentums sind die Fähigkeit zu glauben und die Unfähigkeit, diesen Glauben zu ­widerrufen. Kann sich jemand Homers Hektor vorstellen, wie er schwört, nicht der Bruder des unglücklichen ­Paris zu sein und deshalb keinen Grund zu haben, gegen Achill zu kämpfen? Es ist ja nicht so, dass die Flüchtigen beschlossen haben, Helden zu sein; das haben die Zugehörigen beschlossen. Sie feiern sie für Taten, die die Flüchtigen geleugnet haben.

All das haben Veljko und ich übersehen, als wir 1991 zu verstehen versuchten, warum jemand auf sein wirkliches Leben verzichtet, um zu einem Kollektiv zu gehören. Er verzichtet, weil er weder die Kraft noch einen Grund hat, sein Leben zu ertragen, das wenig Freude bringt und das so schwer ist („Leicht ist nur, was leer ist“, sagten mir die Träger vom Bahnhof in Sarajevo, mit denen ich mich in meiner Jugend manchmal traf). Er verzichtet wegen der Euphorie, die ihm die Hingabe an das Kollektiv bringt, er verzichtet wegen des bequemen zwei­dimensionalen Weltmodells, in dem es keine Selbstverantwortung und keine Scham gibt.

Das Gefühl, etwas Besseres zu sein

Die Übersiedlung in die Nation bringt eine weitere schöne Gabe mit sich, und zwar das Gefühl, dass du schon aufgrund der Zugehörigkeit zu deiner Gemeinschaft besser bist als dein Bruder. Nation und Nationalismus sind nämlich moderne Phänomene, die auf dem arithmetischen Prinzip „Entweder-oder“ (im Gegensatz zu „Sowohl-als-auch“) gründen. Sie sind entstanden in einer Welt der Konkurrenz, des Sports, in der klar sein muss, wer besser ist als der andere. Das Prinzip Nationalismus hat, wie wir wissen, Napoleon Bonaparte hervorgebracht, indem er in Europa mit Hilfe seiner Armee Aufklärung und Rationalismus verkündete. Die im Widerstand gegen seine Eroberungen bezwungenen Völker verwandelten sich in Nationen und fanden im nationalistischen Zorn Trost.

Heinrich von Kleist, einer der Schriftsteller, derentwegen ich die deutsche Sprache gelernt habe, notierte ein Dutzend Anekdoten voller Zorn auf die Franzosen. Hier offenbart sich eins der mir wichtigsten Argumente gegen den Nationalismus, weil in diesen Anekdoten weit mehr Wut auf die Franzosen steckt als Liebe für die bezwungenen Preußen. Jämmerlich ist ein Leben, in dem wir mehr Zeit und Kraft dem widmen, was wir nicht mögen, als dem, was uns lieb ist.

Aber dieses Argument stellt nicht die Tatsache in Frage, dass der Nationalismus für eine immer größere Zahl von Menschen anziehend ist. In einer Episode von Homers „Odyssee“ geht es um den Gesang der Sirenen, dem niemand widerstehen kann. Der Rationalist Odysseus hat eine Lösung gefunden, indem er seinen Gefährten die Ohren mit Wachs verstopft und sich von ihnen an einen Mast fesseln lässt. Uns, fürchte ich, wird weder das Fesseln an einen Mast noch Wachs helfen. Wir müssen andere Mittel finden, die uns helfen, dem Gesang der modernen Sirenen zu widerstehen.