Türkei: Konkurrenz am Balkan

Seit Jahren bemüht sich die Türkei um einen größeren Einfluss auf dem Balkan. Nun bietet sich das Land als Vermittler im Bosnienkonflikt an – und als Gegenpol zur EU.

Musliminnen in einer Moschee in Sarajewo
Frauen in einer Moschee in Sarajewo. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas sind Muslime. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Geschichte. Knapp 500 Jahre lang stand der Balkan unter osmanischer Herrschaft. Heute versteht sich Ankara noch immer als Ordnungsmacht in der Region.
  • Allianzen. Die sich verschärfenden ethnischen Spannungen in Bosnien-Herzegowina rücken diese alten Verbindungen wieder in den Vordergrund.
  • Solidarität. Die bosniakischen Muslime sehen in der Türkei einen möglichen Bündnispartner – auch, weil die Haltung der EU seit Jahren für Enttäuschung sorgt.
  • Geopolitik. Sollte die Türkei eine erfolgreiche Vermittlerrolle einnehmen, würde das die Stellung des Landes als aufstrebende Regionalmacht weiter stärken.

Der Krieg in Bosnien hat tiefe Spuren des Leids in Europa und insbesondere am Balkan hinterlassen. Auch wenn der Ausbruch der Kampfhandlungen schon drei Jahrzehnte zurückliegt – die grauenhaften Bilder sind unvergessen: Elend, Vertreibung, zerstörte Häuser und zehntausende, wenn nicht hunderttausende Tote. Neben den unmittelbaren Konfliktparteien nahmen auch Mächte von außen zumindest politisch und ideologisch an den Konflikt teil. Neben Russland versuchte auch die Türkei das gewaltsame Ende Jugoslawiens für seine Zwecke zu nützen.

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Bis zum heutigen Tag ist Bosnien nicht vollends zur Ruhe gekommen. Und stets wollten und wollen Interessengruppen aus weiterer und näherer geografischer Entfernung ihren Einfluss am Balkan geltend machen.

Islamische Schutzmacht

Dazu zählt eben auch die Türkei – insbesondere seit Präsident Recep Erdogan die nationale Karte immer offener ausspielt. Was die genauen Ziele der Türkei sind, ob sie sich als Schutzmacht der islamischen Bevölkerung engagiert und/oder gar zu einem nachhaltigen Frieden beitragen kann, muss genau analysiert werden. Denn die Situation in Bosnien ist so aufgeheizt, wie schon lange nicht.

Mitten in Europa versuchen gerade serbische und kroatische Nationalisten die Auflösung des bosnischen Staates zu forcieren und einen alten Konflikt neu zu entfachen. Die bosnischen Serben unter dem Separatistenführer Milorad Dodik erklärten im Dezember letzten Jahres, sie werden sich aus den staatlichen Institutionen Sarajewos zurückziehen und die autonome „Republika Srpska“ aus dem bosnischen Staatskörper herauslösen. Die Regierung von Bosnien-Herzegowina war so paralysiert, dass sie die Türkei um Vermittlung gebeten hat.

Osmanische Tradition

Die Türkei gewinnt immer mehr an Bedeutung in der Region. Da Südosteuropa und der Balkan fast 500 Jahre Teil des Osmanischen Reiches waren, zählt Ankara sie zu ihrem Einflussgebiet. Aus der gemeinsamen Geschichte leitet die Türkei den Anspruch ab, weiterhin als Ordnungsmacht auf dem Balkan präsent zu sein und ihre Außenpolitik darauf abzustimmen. Albanien, Kosovo, Montenegro, Bosnien und Herzegowina sowie Serbien bilden wichtige Brückenköpfe im Herzen Europas, um den türkischen Einfluss in den alten osmanischen Territorien zu restaurieren.

Das Rezept scheint auf den ersten Blick nicht unattraktiv und historisch interessant. Die Türkei legt den Balkanstaaten ein alternatives Konzept zur europäischen Identität vor, in dem sie die gemeinsame Zugehörigkeit zur osmanischen Zivilisation in den Mittelpunkt stellt. Seit die Osmanen 1352 von Westanatolien auf den europäischen Kontinent übersetzten, um mit den Byzantinern gegen die Serben in den Kampf zu ziehen, blieb die türkische Faszination für den Balkan ungebrochen.

Die Türkei legt den Balkanstaaten ein alternatives Konzept zur europäischen Identität vor.

Die christlichen Königreiche der Serben, Bulgaren und Ungarn fielen nacheinander an die Osmanen. Adrianopel, das heutige Edirne, wurde 1368 zur neuen Hauptstadt des Reiches erklärt. Der Balkan bot an Rohstoffen und Märkten mehr als Anatolien zu seiner Zeit, das noch von kleinen türkischen Fürstentümern beherrscht wurde. Bevor die Osmanen 1453 Konstantinopel eroberten und die Staatselite sich als legitime Nachfolger des untergegangen oströmischen Reiches sahen, verstanden sie sich als ein Balkanstaat in Südosteuropa. Ihr Territorium war ein Kaleidoskop an Völkern und Religionsgemeinschaften. Die neuen Machthaber ließen die Gesetze und die kirchliche Gerichtsbarkeit unangetastet, garantierten ein hohes Maß an Religionsfreiheit und beließen den Adel in Amt und Würden.

Historisches Rollenverständnis

Eine aktive Türkisierung beschränkte sich lediglich auf die Knabenlese, die Zwangsrekrutierung und -islamisierung christlicher Jungen für die Elitetruppe der Janitscharen. Das politische System des Osmanischen Reiches ermöglichte diesen Kindern den Aufstieg bis in die höchsten Staatsämter. Die osmanischen Politiker des 16. bis 18. Jahrhunderts entstammten zum überwiegenden Teil den Balkanprovinzen, welche sie wiederum förderten und kultivierten. Erst mit der Griechischen Revolution und dem aufkeimenden Nationalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der osmanische Vielvölkerstaat durch die neuen Nationalstaaten vom Balkan zurückgedrängt, bis er schließlich nach dem Ersten Weltkrieg endgültig unterging.

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Zahlen & Fakten

Türkische Soldaten während des Balkankriegs, circa 1912
Türkische Soldaten im Balkankrieg 1912. Der Fes war die traditionelle Kopfbedeckung im Osmanischen Reich. © Getty Images

Türkei und Balkan: Jahrhunderte gemeinsamer Geschichte

  • Die türkische Herrschaft auf dem Balkan begann Mitte des 14. Jahrhunderts, als das Osmanische Reich seine Einflusssphäre gen Westen ausweitete.
  • 1389 kam es zur Schlacht auf dem Amselfeld im heutigen Kosovo, bei dem osmanische Truppen gegen ein serbisch-bosnisch-albanisches Koalitionsheer antraten – und einen Sieg errungen. Sowohl der serbische Heerführer Lazar Hrebeljanović als auch Sultan Murad I. fielen in der Schlacht. In Serbien ist sie heute Nationalmythos.
  • Vom 14. bis 18. Jahrhundert erfolgte auf dem Balkan die Knabenlese: die Zwangsrekrutierung christlicher Jungen im Alter von circa 14 bis 20 Jahren, die aus ihren Herkunftsgebieten – überwiegend Bosnien-Herzegowina und Albanien – ins Osmanische Reich gebracht, dort islamisiert und (häufig an Palastschulen) zur Übernahme hoher Ämter in Militär und Verwaltung ausgebildet wurden.
  • Im 19. Jahrhundert regte sich durch das Aufkeimen des Nationalismus politischer Widerstand und kulminierte in der Balkankrise von 1875–1878, gefolgt von der neuen „Friedens“ordnung des Berliner Kongresses und den Balkankriegen 1912 und 1913.
  • 1920 zerfiel das Osmanische Reich. Ein Großteil der Balkantürken emigrierte in die neugegründete Türkei, aber größere Minderheiten verblieben in Bulgarien, Rumänien und Griechenland. Sie wurden vielerorts mit Misstrauen betrachtet oder entrechtet. Ein Extrembeispiel: die Zwangsbulgarisierung ethnischer Türken von 1984-1989, bei der diese nicht nur ihre Namen ablegen und in slawische abändern mussten, sondern in der Öffentlichkeit auch kein Türkisch mehr sprechen durften.

Der türkische Staatspräsident Recep Erdogan sieht sich wie seine osmanischen Vorgänger in der Rolle des Ordnungshüters und versucht die gegenwärtige Krise in Bosnien-Herzegowina mit den Führern der anderen Balkanstaaten und der ethnischen Minderheiten zu schlichten. Hierzu hat er die Unterstützung des serbischen Staatspräsidenten Aleksandar Vučić, zu dem das türkische Oberhaupt eine persönliche Freundschaft pflegt.

Gemeinsamer Gram gegen die EU

Damit die Krise sich nicht auf die bevorstehende Wiederwahl Vučićs niederschlägt – dieser hat die serbischen Parlamentswahlen auf April 2022 vorgezogen –, kündigte der türkische Staatspräsident gemeinsam mit seinem serbischen Kollegen bei einer Krisensitzung in Ankara im Januar an, das Thema zu vertagen. „Nach diesen (serbischen) Wahlen wollen wir die Führer dieser drei Gruppen zusammenbringen und ein Treffen mit ihnen abhalten. Lassen Sie uns mit diesem Treffen Schritte unternehmen, um die territoriale Integrität Bosniens zu gewährleisten“, sagte Staatspräsident Erdogan. „Wir wollen die drei Führer – der Bosniaken, Kroaten und Serben – zusammenrufen und dies erreichen. Darauf haben wir uns geeinigt.“ Eine Konferenz in Istanbul oder Belgrad sei geplant.

Frau in Bosnien zeigt Fotos ihrer verstorbenen Söhne
Bis heute werden Opfer des Massakers von Srebrenica, bei dem 1995 rund 8000 Muslime von bosnisch-serbischen Soldaten ermordet wurden, identifiziert. © Getty Images

Die Türkei hat kein Interesse an der Destabilisierung des Westbalkans, da sie seit zwei Jahrzehnten eine außenpolitische Doktrin erfolgreich umsetzt, die eine Rückkehr in diese Region zum Ziel hat. Notwendig wurde dies durch die Balkanpolitik der Europäischen Union, die eine wirkliche Einbindung in das Haus Europa nicht zuließ.

Geopolitisches Tauziehen

Brüssel drängt seit Jahren in Bosnien-Herzegowina und Serbien nach mehr Reformen, um die in Aussicht gestellte EU-Mitgliedschaft zu erreichen. Diese Forderungen werden bei den Völkern negativ aufgenommen, der Glaube an Fortschritt und Wohlstand ist schon längst erloschen. Die Serben haben auch nicht vergessen, dass Brüssel sie in der aktuellen Pandemie im Stich ließ und dass sie nur mit Hilfe aus China, Russland und der Türkei die medizinische Versorgung aufrechterhalten konnten.

EU-Versprechungen einer Visa-Liberalisierung für den Kosovo oder des Beginns der offiziellen Beitrittsgespräche mit Albanien und Nordmazedonien blieben bis jetzt ebenso unerfüllt. Die Sprache der EU-Politiker in Brüssel hat der pro-europäischen Bewegung in diesen Ländern mehr geschadet als geholfen. Die Frustration der Balkanstaaten hat sich deshalb die Türkei für ihre Außenpolitik zu eigen gemacht. Die Türkei zählt sich auch zu den von der EU-Betrogenen und zeigt sich solidarisch mit den Enttäuschten.

Die Sprache der EU-Politiker hat der pro-europäischen Bewegung in den Balkanländern mehr geschadet als geholfen.

Nicht nur in Bosnien-Herzegowina, sondern auch in Albanien, Kosovo, Serbien, Kroatien und Montenegro erreicht es Ankara durch infrastrukturelle Projekte, der Förderung von Bildungsanstalten und medizinischer Versorgung, das Bild einer verhassten Türkenherrschaft aus der Zeit des Kalten Krieges zu revidieren. Insbesondere unter den Balkan-Muslimen erfreut sich der türkische Staatspräsident großer Beliebtheit. Der Islam hat in den letzten 30 Jahren an großer Bedeutung im gesellschaftlichen Leben gewonnen und viele Muslime in Bosnien-Herzegowina, Albanien oder Kosovo identifizieren sich mit ihrem osmanischen Erbe.

Das letzte islamische Großreich wird in den nationalen Medien durch türkische Serienproduktion glorifiziert und verklärt. Islamische Geistliche, die in Ankara ihre Ausbildung erhielten, rufen zu Bittgebeten für die aufstrebende Türkei auf und preisen sie als neue Schutzmacht des Islams. Der einflussreiche bosnische Großmufti Mustafa Cerić bezeichnete den türkischen Staat sogar als das „Mutterland der Bosnier“.

Gute Vermittlerrolle

Ankara erhält nicht nur Unterstützung von den islamisch-konservativen Schichten, sondern auch aus dem nationalistischen Lager. 2012 veröffentlichte Staatspräsident Recep Erdogan den Inhalt eines Gespräches mit dem ehemaligen Präsidenten Bosniens, Alija Izetbegović, der ihm im Krankenhaus „Bosnien und die Herzegowina als Testament hinterlassen habe, da sie ein Erbe der Osmanen seien“. Der anti-europäische Kurs des türkischen Präsidenten und die Rückbesinnung auf das gemeinsame imperiale Erbe findet unter den bosnischen Nationalisten großen Zuspruch.

Welche Lösungen kann es nun geben? Die Türkei könnte eigene Truppen zur Beruhigung der aktuellen Lage entsenden, um auch ihre militärische Präsenz in Europa zu erhöhen, wird jedoch seitens der Europäischen Union großem Widerstand ausgesetzt sein. Ähnlich wie einst in Afghanistan wird die Anwesenheit türkisch-muslimischer Soldaten eine breitere Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung finden als wie die UN-Friedensmission, die insbesondere im Kosovo schwerer Kritik ausgesetzt war, da sie von Menschenrechtsorganisationen in Verbindung mit Frauenhandel und Zwangsprostitution gebracht wurde.

Offene Flanke

Eine Beilegung der Krise unter Federführung der Türkei wäre für Staatspräsident Erdogan ein großer außen- wie innenpolitischer Erfolg, um die Europäische Union vorführen zu können und die neue Rolle der Türkei als aufstrebende Macht zu untermauern. Brüssel zeigt in der aktuellen Krise kaum Bereitschaft sich in die Vermittlerrolle zu begeben und an einer Lösung mitzuwirken. Sie bietet anderen Mächten somit eine offene Flanke, die ihre Einflusssphäre bis an die europäische Außengrenze ausdehnen.

Russland wird diese Option auf dem Balkan ebenfalls in Betracht ziehen, um auch nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine mit Serbien im Herzen Europas eine militärische Bastion zu besitzen. Moskau sieht sich als Schutzmacht der orthodoxen, slawischen Völker auf dem Balkan, akzeptiert jedoch die türkische Präsenz, solange sie sich auf die muslimischen Gebiete beschränkt und sich nicht bedrohlich gegen die christlichen Minderheiten richtet. Ob die Europäische Union angesichts des Ukraine-Krieges auch eine russische Truppenkonzentration in Serbien zulässt, wird auch vom NATO-Bündnispartner Türkei abhängen.

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Conclusio

Beim Versuch, die angespannte Lage in Bosnien zu entschärfen, tritt neuerdings auch die Türkei als Vermittler auf. Ankara versucht bereits seit längerer Zeit, seinen Einfluss auf dem Balkan auszubauen, indem es auf seine historische Vormachtstellung in der Region verweist. Tatsächlich hat sich die Erinnerung an die Osmanische Herrschaft auf dem Balkan im Laufe der letzten Jahrzehnte zum Positiveren gewandelt – zumindest unter der muslimischen Bevölkerung der Region, etwa den Bosniaken. Für das Ansehen des türkischen Präsidenten Recep Erdogan wäre eine erfolgreiche Vermittlung des Bosnienkonflikts in mehrerlei Hinsicht ein Erfolg. Er könnte nicht nur seine Stellung im eigenen Land stärken, sondern auch das bröckelnde Ansehen der EU in der Region weiter untergraben – ein Risiko, das Brüssel nicht unterschätzen sollte.