Bosnien in der Populismus-Falle

Die Staatengemeinschaft hat Bosnien-Herzegowina zu früh allein gelassen. Korruption, Brain Drain und Wirtschaftsschwäche machen das Land anfällig für Nationalismen. Noch lässt sich das Ruder herumreißen.

Durch serbische Granaten zerstörte Nationalbibliothek in Sarajevo
Februar 1994: Mit der Nationalbibliothek in Sarajevo wurde auch das Erbe des multinationalen Jugoslawien zerstört. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Bleibende Kriegsfolgen. Im April 1992 begann der Krieg in Bosnien. Seine Folgen und nationalistischen Ursachen wurden nie aufgearbeitet.
  • Enttäuschte Hoffnung. Der Vertrag von Dayton brachte 1995 eine kurze Phase des gemeinsamen Aufbruchs, konnte die Nationalismen aber nicht eindämmen.
  • Ökonomische Verzerrung. Die internationale Staatengemeinschaft unterschätzte die Rolle der Korruption für das Auseinanderdriften der Volksgruppen.
  • Fehlende Identifikation. Bosnien-Herzegowina scheitert an einer gemeinsamen Identifikation aller Volksgruppen mit dem neu geschaffenen Staat.

Was war das für eine Aufbruchsstimmung im Jahr 1995! Wer die Friedensschließung in Dayton gesehen hat, kann sich an die riesengroße Erleichterung, die damals in der Luft lag, sicher erinnern. Damals nach Kriegsende ahnte man jedoch noch nicht, welch harte Arbeit die Integration des Landes sein würde. Es gab drei Armeen, unterschiedliche Währungen und Reisepässe, um nur drei Beispiele zu nennen, die nach dem Krieg vereinheitlicht werden mussten. Das war notwendig, damit das zerstrittene Bosnien und Herzegowina zu einem gemeinsamen Staat zusammenwächst.

Um das zu erreichen, war diplomatisches Geschick, manchmal auch Druck auf allen Ebenen gefordert. Ich erinnere mich an den genialen Schachzug, mit dem man eine Lösung für die neutralen Nummerntafeln an den Autos fand. Ein Diplomat hatte die Idee, das kyrillische und lateinische Alphabet zu vergleichen und nur jene Buchstaben für die Autonummern auszuwählen, die in beiden Schriften enthalten waren: A, E, J, K, M, O, T plus eine Zahlenkombination. Sie sind bis heute gültig.

Einmal umgesetzt, wurde es wieder möglich, mit dem Auto von einer Region in die andere zu fahren. Diese wiedergewonnene Bewegungsfreiheit war für alle eine gewaltige Errungenschaft sowie auch der gemeinsame Pass und die konvertible Mark als Zahlungsmittel. Es wurde auch eine gemeinsame Grenzpolizei gebildet, Soldaten von drei Armeen, die bis dahin verfeindet waren, arbeiteten plötzlich zusammen. All dies hatte lange Zeit niemand für möglich gehalten.

Die Euphorie des Anfangs

In dieser ersten Friedensphase wurde der Staat und all das, was ihn ausmacht, auf neue Beine gestellt. Es betraf auch noch viele andere Bereiche, wie etwa die Steuern, das gemeinsame Netz der Energieversorgung, die Luftraumüberwachung und – überaus wichtig – den hohen Justizrat. Die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten ist wesentlich. Die Internationale Gemeinschaft hatte großes Interesse an diesem Frieden am Balkan, deshalb unterstützte sie den Friedensprozess großzügig. 

15 Jahre lang schien alles in die richtige Richtung zu laufen. Doch ungefähr ab 2006 veränderten sich die Dinge. Eine neue Phase begann, die ich als zweite Phase des Friedensprozesses bezeichnen würde: Die internationale Gemeinschaft beschloss, sich zurückzuziehen und ging davon aus, dass das Land bereit war, Schritt für Schritt sich selbst überlassen zu werden.

Weihnachten in einer Bar in Sarajevo 1995 mit Coca Cola Poster
Nach dem Abkommen von Dayton: Weihnachten in einer Bar in Sarajewo. Die Plakate im Hintergrund stammen aus der Zeit des Bosnien-Krieges. © Getty Images

„Local ownership“ war damals die gute und richtige Devise. Die Blaupause dafür war Deutschland, das diesen Schritt in die Eigenverwaltung nach dem Zweiten Weltkrieg ja ebenfalls geschafft hatte – Stichwort „erstes Wirtschaftswunder“. Österreich nahm eine vergleichbare Entwicklung. In Bosnien und Herzegowina verblieben als Mittel für etwaige Korrekturmaßnahmen die 1997 eingerichteten „Bonn-Powers“. Sie waren von der Internationalen Gemeinschaft als Werkzeug für den Hohen Beauftragten geschaffen worden und verliehen ihm weitreichende Vollmachten, um bei legistischen Änderungen gegensteuern oder notfalls korrigierend eingreifen zu können. In diese Zeit fällt auch der Aufstieg des serbisch-bosnischen Politikers Milorad Dodik.

Zerstörerischer als alles andere war die wieder aufkeimende Korruption.

Doch diese neue Phase lief nicht so gut wie die erste. Ursprünglich hatte man gehofft, dass die Europäische Union eine wichtigere Rolle spielen würde. Ich erinnere mich an die Justizreform oder an die vielen guten EU-Initiativen, die gemeinsame Kooperationen zwischen den Volksgemeinschaften förderten. Doch was mit viel Enthusiasmus begann, kam nicht oder nur sehr mühsam voran. Der Balkan ist eben nicht das Baltikum, dies schienen damals viele nicht sehen zu wollen.

Die Volksgruppen begannen in zentralen Bereichen zusehends wieder, ihre eigenen Strukturen aufzubauen und sie Zug um Zug zu stärken. Plötzlich kochte jede Volksgruppe wieder ihr eigenes Süppchen. Es bildeten sich neue ethnisch geprägte Feudalbereiche. Geschürt von einzelnen Politikern flammte das alte Misstrauen zwischen den Volksgruppen wieder auf und das Vertrauen zueinander begann da und dort wieder zu bröckeln. Zerstörerischer als alles andere war jedoch die aufkeimende Korruption im Bereich Politik und Justiz, die jede positive Entwicklung in der Gesellschaft im Keim erstickte.

Korruption, Enttäuschung, Populismus

Nach außen bekannten sich zwar alle bosnischen Politiker zur EU, nach innen war jedoch das Gegenteil der Fall. Nach außen wurde von einer Integration in die EU gesprochen, nach innen jedoch, also zu Hause, war Desintegration das Thema. Jede Volksgruppe pflegte ihr eigenes Gärtchen und trachtete danach, das eigene Territorium und die eigenen Zuständigkeitsbereiche zu erweitern. Dass es dabei vielen vor allem darum ging, sich selbst zu bereichern, ist eine traurige Tatsache und der Grund, warum viele Menschen Bosnien verlassen haben. Nicht etwa, weil sie das Land nicht lieben oder dort keine Arbeit gehabt hätten, sondern einzig und allein deshalb, weil es in einer korrupten Verwaltung keine Rechtsstaatlichkeit gibt und geben kann.

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Zahlen & Fakten

Wer nicht Teil der Korruption ist, hat häufig nicht die Möglichkeit, ein eigenes Business aufzuziehen. In einem korrupten System kann man sich nirgendwo beschweren, wenn Unrecht passiert. Staatsanwaltschaft und Gerichte funktionieren häufig nicht, insbesondere nicht bei größeren und komplex gelagerten Gerichtsprozessen. 

400.000 Bosnier haben ihre Heimat in den letzten zehn Jahren verlassen. Das ist schlimm, denn Bosnien hätte das Potenzial, eine kleine Schweiz oder das Silicon Valley des Balkans zu werden. Ein kleines Detail am Rande: Bosnien ist der größte Exporteur von Politikern und Politikerinnen geworden. Sie arbeiten allerdings nicht für ihre Heimat, dafür aber für verschiedene Länder Europas. Menschen bosnischer Herkunft sitzen in Großbritannien im House of Lords, in Deutschland im Bundestag. Die mit 27 Jahren jüngste Ministerin Schwedens hatte bosnische Wurzeln, und in Österreich führt Alma Zadić das Justizministerium auf brillante und souveräne Art.

Toxische Nationalismen

Viele sagen, dass der Hass in Bosnien groß sei. Das stimmt nicht. Die Menschen in Bosnien und Herzegowina hassen einander nicht – im Gegenteil: Die einfachen Leute kommen miteinander gut aus. Es gibt viele gute, friedensstiftende und versöhnliche Initiativen. Zwei Beispiele: Als die zerstörte serbisch-orthodoxe Kathedrale in Mostar wieder aufgebaut wurde, waren auch Bosniaken und Kroaten unter denen, die Geld spendeten. Oder der Muslim Hasan Ahmetlić, der in Tešanj eine katholische Kirche renovierte. In Bosnien gibt es viele kleine Nelson Mandelas, die engagiert an gemeinsamen Projekten arbeiten und so zum Frieden beitragen.

Nach dem fürchterlichen Krieg, der 100.000 Menschen das Leben kostete, gab es auch keine Rachemorde. Aber darüber schreibt kaum jemand. Unbestritten ist: Bosnien ist ein Vorbild für gegenseitige Toleranz und damit ein Musterbeispiel für europäische Werte gewesen. Hier lebten jahrhundertelang verschiedene Volksgruppen zusammen, Serben, Kroaten, Bosniaken, aber auch aus Spanien vertriebene Juden. Orthodoxie, Islam, Katholizismus und Judentum koexistierten. Ich kenne ehemalige Soldaten aus unterschiedlichen Volksgruppen, die einst aufeinander geschossen haben und heute gute Freunde sind. In Brcko, wo der Krieg begann, gab es Serben, die Muslime retteten – in anderen Orten war es umgekehrt. Bosnien ist ein fantastisches Land: die schönste Natur, das beste Essen, die nettesten Menschen – es ist an sich kein Land, das man verlassen will.

Das Problem beginnt immer erst auf der Ebene der Politik und der Institutionen, es ist ein politisches Spiel. Diejenigen, die in Bosnien an den Hebeln der Macht sitzen, tun sich schwer mit der Zusammenarbeit. Auf diesem Level fehlt das gegenseitige Vertrauen, das für das Land so wichtig wäre. Jeder Versuch von Gemeinsamkeit, und sei er noch so klein und für die Menschen im Land sinnvoll, scheitert oft, wenn der kleinste Funken von Zentralismus vermutet wird oder auch nur der leiseste Verdacht aufkommt, dass daraus ein Kompetenzverlust resultieren könnte. Deshalb gibt es in Bosnien und Herzegowina auch kein gemeinsames, staatliches Landwirtschaftsministerium – und trotz der Corona-Pandemie auch kein gemeinsames Gesundheitsministerium. Sogar gegen die gemeinsame ärztliche Notrufnummer 112 haben sich die Serben gewehrt! Doch um ein Land erfolgreich zu machen, braucht es Vertrauen in die Politik und den Willen zur guten Zusammenarbeit. Was die einfachen Menschen in Bosnien nachbarschaftlich regeln, funktioniert auf politischer Ebene leider nicht.

Kriegsverbrechen dürfen weder negiert noch verherrlicht oder trivialisiert werden.

Gegen Ende meiner Amtszeit als Hoher Beauftragter kamen vom Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag immer mehr rechtskräftige Urteile gegen die Kriegsverbrecher des Bosnienkriegs. Ihre Verfahren hatten sehr lange gedauert, wie etwa das gegen Ratko Mladic, den „Schlächter von Srebrenica“. Sein Urteil wurde erst am 8. Juni 2021 verkündet. Dann waren es die serbischen Nationalisten, die plötzlich erklärten, dass sie diese richterlichen Sprüche nicht anerkennen werden. Man nutzte sie sogar zur Provokation, erklärte die Urteile als ungültig, verteidigte die Kriegsverbrechen, negierte oder verherrlichte sie. Das Parlament der „Respublika Srpska“ rehabilitierte rechtskräftig verurteilte Kriegsverbrecher, verlieh ihnen Auszeichnungen und machte diesen Umstand öffentlichkeitswirksam publik. Als Hoher Beauftragter konnte ich bei solchen Aktionen nicht tatenlos zusehen, schließlich handelte es sich um die Glorifizierung von Kriegsverbrechern, um die Verneinung des Genozids von Srebrenica, die immer massiver wurde.

Nachdem wiederholt diplomatische und parlamentarische Versuche gescheitert waren, habe ich von meinem Recht als Hoher Beauftragter Gebrauch gemacht und die Leugnung des Genozids in Bosnien verboten. Schließlich gibt es noch viele Nachfahren der Opfer. Für sie ist es wichtig, dass die Würde derer, die im Krieg zu Tode gekommen sind, gewahrt wird. Das ist eine moralische Aufgabe, die mir persönlich sehr wichtig war. Kriegsverbrechen dürfen weder negiert noch verherrlicht oder trivialisiert werden, das ist und bleibt mein Vermächtnis für Bosnien und Herzegowina. Dies entspricht auch dem EU-Rechtsbestand und den internationalen, zivilisatorischen Normen. Zur Klarstellung: Schuld ist immer individuell zu sehen. Alle verurteilte Verbrecher haben Vor- und Familiennamen. Nicht die Völker in ihrer Gesamtheit sind schlecht, nur einzelne Menschen.

Front gegen Populismus

Nach meiner Einschätzung tritt Bosnien Herzegowina jetzt in die dritte Phase nach dem Krieg ein. Die erste Phase ab 1995 war eine robuste Periode unter dem Schutzschirm der Internationalen Gemeinschaft, die zweite sollte die EU als gemeinsames Ziel haben – „mehr EU und weniger Dayton“, sozusagen. Damit verbunden war auch das Schlagwort „local ownership“, also mehr Eigenverantwortung.

Ich würde hoffen, dass die dritte Phase eine Mischung aus den ersten beiden Perioden sein wird. Das heißt: Bosnien-Herzegowina muss ein eigenständiger, dezentralisierter Staat bleiben, man muss jedoch gleichzeitig an der Reintegration des Staates und an Gemeinsamkeiten arbeiten, vor allem an deren Funktionalität. Parallel dazu sollte sich die internationale Gemeinschaft wieder stärker einbringen, damit Populisten keine Chance bekommen. Dodik hat gerade die Gemeinderatswahlen in den zwei größten Städten der Respublika Srpska verloren, deshalb zieht er wieder und wieder die nationalistische Karte, um Wählerstimmen zurückzugewinnen. Das ist zwar durchschaubar, verdirbt und vergiftet aber das politische Klima.

Wir können derzeit von einer sehr ernsten Krise sprechen, die jederzeit eskalieren könnte.

Von einer Kriegsgefahr möchte ich nicht sprechen, es erinnern sich noch zu viele Menschen mit Schrecken, wie furchtbar die Zeit zwischen 1992 und 1995 gewesen ist. Wohl können wir aber derzeit von einer sehr ernsten Krise sprechen, die jederzeit eskalieren könnte. Sie könnte aber auch eine Chance für Bosnien Herzegowina sein. Denn niemals in den letzten zehn bis 15 Jahren war das Interesse für dieses leidgeprüfte Land so groß wie jetzt gerade, und damit meine ich auch die Unterstützung für das Amt des Hohen Repräsentanten. 

Deshalb bin ich hoffnungsfroh. Es gibt so viele junge begabte Menschen im Land und rund eine Million, die in der Diaspora rund um den Erdball leben und dort überaus erfolgreich sind. Ich bin überzeugt, dass eine Stärkung der Rechtsstaatlichkeit der Zukunft des Landes überaus guttun würde, aber einstweilen braucht das Land noch die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Profitieren würden sicherlich Menschen und Wirtschaft gleichermaßen. Es geht nicht zuletzt um den Frieden und Sicherheit, die für Österreich am Balkan beginnt.

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Conclusio

Die Europäische Union und die internationale Gemeinschaft setzten nach dem Vertrag von Dayton 1995 zu früh auf eine eigenständige Identität für den Staat Bosnien-Herzegowina. Eines der größten und bislang unterschätzen Probleme des Landes ist der Brain Drain, der dazu führt, dass zahlreiche qualifizierte Menschen Bosnien-Herzegowina verlassen und Nationalismen erstarken. Zwar hätte Bosnien-Herzegowina das Potenzial, eine zweite Schweiz zu werden, doch Korruption und Populismus verhindern den wirtschaftlichen und politischen Aufbruch. Die internationale Gemeinschaft sollte sich mehr gegen Populismus und für Rechtsstaatlichkeit in Bosnien einsetzen.