Buchtipps I: Natur und Kultur
Aus der Geschichte lernen? Ja, das geht. Die Empfehlungen des Pragmaticus der besten Neuerscheinungen des Jahres aus Kultur- und Naturgeschichte.
Wir Menschen sind aus biologischer Sicht gesehen Säugetiere. Im Laufe der vergangenen 150.000 Jahre hat sich die menschliche Spezies jedoch eine Sonderstellung erobert. Biologisch, zivilisatorisch und weltanschaulich. Eine Reihe von Neuerscheinungen zeigt, was diese Sonderstellung für die Erde, Pflanzen und Tiere und schließlich für den Menschen selbst bedeutet hat.
- Frans de Waal: „Der Unterschied“ Kann man von der Ordnung der Geschlechter bei Menschenaffen auf die Ordnung der Geschlechter beim Menschen schließen? Der Primatologe Frans de Waal würde diese Frage wohl tendenziell mit einem „Ja“ beantworten. Er widmet ein ganzes Buch den Unterschieden im sozialen Geschlechtergefüge aufgrund von biologischen Geschlechtsunterschieden. Auch bei Orang-Utans zum Beispiel gibt es soziale Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die – so de Waal – dem biologischen Geschlecht folgen. Allerdings, das macht der Vergleich deutlich, sind die Unterschiede weder in Stein gemeißelt noch zwangsläufig Verhältnisse der Über- oder Unterordnung. Vielmehr scheint die Geschlechterdichotomie eine ganze Reihe unterschiedlicher Auslegungen und sozialer Ordnungen zuzulassen. Diese Unterschiede sind kulturell und jede Gruppe von Menschenaffen, nicht nur jede Art, hat eine andere Geschlechterordnung. Am Beispiel der Geschlechterverhältnisse zeigt sich, dass auch die soziale Ordnung von Primaten nicht einfach der Natur folgt, sondern kulturell hergestellt wird, tradierbar ist, sich aber ebenso leicht (oder schwer) verändern lässt. Klett-Cotta, € 29,50
- Michael Sommer: „Alle Wege führen nach Rom“
Es ist eine schwelende Frage, ob es heute noch Sinn macht, in den Schulen Latein und Altgriechisch zu unterrichten. Warum die Antwort klar ja lauten sollte, argumentiert der Altphilologe Michael Sommer in „Alle Wege führen nach Rom. Die kürzeste Geschichte der Antike“. Seiner Überzeugung nach sind die Probleme, wie Gesellschaften bestmöglich strukturiert sein sollten, heute genauso aktuell wie damals. Sämtliche Spielarten wurden in der Antike bereits ausprobiert. Autokratien, Oligarchien, Demokratien: Die Vorteile und Nachteile bzw. die Dynamik dieser Regierungsformen sind gut dokumentiert. In diesem Sinne ist das Erbe der Griechen und Römer eine Art Fundament, auf das in den letzten beiden Jahrtausenden auch immer wieder zurückgegriffen wurde. Sommer dekliniert in kurzen übersichtlichen Kapiteln, was Demokratie bedeuten kann, wie und wodurch Wohlstand entsteht und was die Vorteile und Nachteile regen Handels sein kann. Er beschäftigt sich aber auch mit den Stärken und Schwächen des römischen Imperiums und der Frage, welche Dynamik Krieg auf Gesellschaftsgefüge haben kann. Alles sehr spannende Themenbereiche, die im Blick auf den Ukraine-Krieg aktueller denn jemals zuvor sind. Apropos Ukraine: Sie war wegen ihrer fruchtbaren Erde auch in der Antike ein heiß umkämpftes Territorium, auch auf die geografischen Gegebenheiten Europas wird in diesem Buch Bezug genommen. Sicherlich ist das eine oder andere Themengebiet etwas zu knapp geraten. Ist das der Fall, dann gibt es gut fundierte Empfehlungen für Bücher zum Weiterlesen. Wer sie in Erwägung zieht, hat verstanden, dass die Antike eine Art Role-Model der neueren Geschichte ist. Klett-Cotta, € 23,50
- Philipp Blom: „Die Unterwerfung“
Die Klimakatastrophe wird immer offensichtlicher. Kein Tag vergeht, ohne dass die Folgen des sich aufheizenden Planeten deutlicher werden. Trotzdem: Viele Menschen scheinen sich des Ausmaßes der Zerstörung nicht bewusst zu sein und verschließen die Augen, ignorieren die Erkenntnissen der vielen Naturwissenschaftler, die seit Jahrzehnten warnen und mit ihren Prognosen Recht behalten. Fakten, Daten, Zahlen: Sie scheinen wenig überzeugend zu sein. Warum das so ist, versucht Philip Blom zu erklären. Er betrachtet die Klimakatastrophe aus dem Blickwinkel eines Geisteswissenschaftlers und versucht deshalb das Verhältnis von Mensch und Natur zu durchleuchten. Es ist ein wilder Ritt durch die Menschheitsgeschichte, der bei den animistischen Naturreligionen beginnt und sich auf die großen Weltreligionen erweitert. Dabei steht Europa im Fokus. Bloms Diagnose: Der Mensch hat sich in seiner Selbstwahrnehmung über die Natur und alle anderen Lebewesen erhoben und aus dieser Position sein Weltverständnis und damit sein Handeln geprägt. „Mach dir die Erde untertan“, dieser Satz aus der Bibel ist, laut Blom, das Zentrum einer gewaltigen Zerstörungskraft, die nun ihren Höhepunkt erreicht hat. Dabei scheut Blom auch vor drastischen Bildern nicht zurück: Es ist der Nährboden für den Weltuntergang. Blom argumentiert akribisch, welche Philosophen maßgeblich zur Überheblichkeit des Menschen beitrugen und bringt den Beweis, dass die Geisteshaltung der Ausbeutung die Menschen bis heute bestimmt – und sich ausbreitet. In den letzten Kapiteln beschreibt Blom die Welt von heute, in der Menschen vom globalisierten Kapitalismus zu konsumierenden Hirnlosen gemacht werden. Und das, ohne es zu bemerken. Das Prinzip der „Unterwerfung“ in allen möglichen Facetten ist dabei das Leitmotiv und eine Geisteshaltung, die es zu modifizieren gälte. Sein Vorschlag für Veränderung? Die Aufklärung weiterdenken, sich weniger als Individuum und mehr als Gemeinschaftswesen begreifen und endlich anfangen, in Netzwerken zu denken. Selbst dann, wenn es die menschliche Geisteskraft auf einem individuellen Level übersteigt. Bloms Buch ist sicherlich Stoff für viele Kontroversen: Was für die einen ein genialer Blick auf die Welt ist, werden andere als Provokation betrachten – horizonterweiternd ist es allerdings sicherlich für alle, die den Planet Erde für nachfolgende Generationen erhalten wollen. Hanser € 29,50
Bücher, Bücher, Bücher
Buchtipps II: Erzählte Welt
nimmt sich der großen Fragen unserer Zeit an
Buchtipps III: Veränderung
nimmt sich der großen Fragen unserer Zeit an