Der surreal existierende Sozialismus der DDR

Die Planwirtschaft in der DDR funktionierte nicht, aber das konnte natürlich keiner zugeben. Im Alltag führte das zu absurden Situationen. Erinnerungen an lebensgefährliche Bananen, Aufrufe zum Alkoholkonsum und Gartengießen als Protestaktion.

Im Osten hinter der Berliner Mauer erlangten für den Westen alltägliche Produkte wie Bananen einen fast mystischen Status. © Ivan Canu

Im DDR Sozialismus gab es zu viel Geld und zu wenige Dinge, die man dafür kaufen konnte. Ich liebte zum Beispiel als kleiner Bub eine Zahnpasta für Kinder, sie hieß „Putzi“, es gab sie in drei Geschmacksrichtungen, ich mochte „Putzi“ mit Bananengeschmack. Bananen gab es in der DDR selten zu kaufen, genau wie andere Südfrüchte aus nichtsozialistischen wärmeren Ländern. Wie die Bananen hätten sie mit einer in diesen Staaten gültigen Währung bezahlt werden müssen. 

Das Problem? Die Mark aus der DDR mit ihren Scheinen und Münzen (Pfennigen) war auf dem internationalen Währungsmarkt nicht konvertierbar, sondern eine Art Gutschein für Bürger, der nur im eigenen Land galt. Und bedingt in den sozialistischen Nachbarländern. 

Die simulierte Marktwirtschaft

In meine Thüringer Stadt waren Bananen im Original noch nicht vorgedrungen, als ich mit „Putzi“ täglich zu putzen begann. Sie schmeckte süßlich, bananig (dachte ich), ich naschte gern davon. Gefährlich war der Tubenbrei nicht, mehr Nahrungs- als Zahnreinigungsmittel – halt eine Placebo-Zahnpasta. Später erklärte uns eine Lehrerin, dass zu viele Bananen ungesund seien, sogar gefährlich. Einer habe in West-Berlin – wir sind in 1960er-Jahren – in einem Kino eine Banane oder zwei verspeist und dann die Schalen den ganzen Film über in seiner Hand behalten. Er sei schwer erkrankt, die Schalen seien durch Schadstoffe vergiftet gewesen. „Klar, dass man im Kapitalismus hemmungslos Insektenvernichtungsmittel versprüht, um Ernteerträge zu erhöhen und den Profit der Besitzer zu steigern“, erklärte die Lehrerin.

„Planwirtschaft funktioniert, wenn jemand von außen die Pläne mitfinanziert.“

Diese frei erfundene Geschichte wurde wochenlang von den Schülern besprochen. Typisch beim Verbreiten von Gerüchten ist ihre fortschreitende Zuspitzung, jede Mutmaßung will als Drama enden. Von verfaulten Händen am Ende des Films bei dem Mann im West-Berliner Kino hinter der Mauer war plötzlich die Rede; ob damit Lepra verbreitet würde, fragte einer. Wir glaubten das nicht wirklich, redeten aber gern darüber.

Der Westen in Ostdeutschland

Irgendwann kam es zu meinem Erstkontakt mit einer richtigen Banane, ich solle sie genießen, sagte Vater. Ich erinnere mich an ein komisches Gefühl als Nebenwirkung: Die ersten von den Eltern gereichten Bananen enttäuschten mich, sie schmeckten nicht wie meine „Putzi“-Sorte.

Der Westen war aus Sicht der DDR ein Dauerproblem. Es reichte in der Regel, die Bezeichnung „Westen“ an ein Produkt oder Gegenstand anzuhängen, schon wirkten Schokolade, Pakete, Autos wie verwandelt. Erst die Reise in den Westen, die ein DDR-Bürger nicht ohne weiteres machen durfte, galt als richtige Reise. Der Westen roch besser, ihm schienen andere Farben, Klänge und vor allem Gerüche zur Verfügung zu stehen. Und West-Berlin erst! Auf den Ost-Berliner Stadtkarten war es nur ein heller, gelblicher Fleck. Ich sah schon als Kind genau, dass West-Berlin nicht im Westen lag, sondern mitten in meinem Staat.

Mit Himmelsrichtungen hatte „der Westen“ wenig zu tun. „Hat Dornröschen auch eine Mauer?“, fragte später mein Sohn, als er vier Jahre war. „Ist in Berlin hinter der Mauer ein Schloss? Warum blühen da keine Rosen? Hat die Mauer Dornen? Warum gibt es nicht in jeder Stadt Grenzen? Welche Sprache sprechen Soldaten? Sind das Menschen oder so was wie Ritter? Hilfst du mir, eine Stadt zu bauen, die ich einreißen kann? Ich befreie Dornröschen.“

DDR Sozialismus als Placebo-Staat

Anders verhielt es sich mit der grünen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten. Nur wenige Menschen durften auf DDR-Seite dort grenznah leben, die meisten waren auf Anweisung der Behörden ausgesiedelt worden. Ich war als Wehrpflichtiger ein Jahr lang Grenzsoldat. An einer besonders schwierig zu bewachenden Stelle führte eine Straße direkt auf die Grenze zu. Es war Sperrgebiet, da kam eigentlich nie ein Auto. Wenn eines kommen sollte, musste rasch darauf geschossen werden, damit es keinen Grenzdurchbruch schaffte.

Neben den offiziellen und immer nur mündlichen Befehlen gab es inoffizielle Gerüchte, sie hatten motivierende Funktion. Eines hieß: Die Staatssicherheit (also die auch bei Soldaten nicht beliebte politische Polizei) würde ab und zu Kontrollfahrten machen, um die Wachsamkeit der Posten zu testen und diese gegebenenfalls anschwärzen. Also galt es, diesen Kerlen von der Stasi mit gezielten Schüssen zu zeigen, wer von uns gut traf. So konnte unsere Wut auf einen Teil des Machtapparats der DDR benutzt werden, uns für einen anderen Teil des Apparats zu motivieren.

Der Westen trat gelegentlich auch als Unterstützung des Ostens auf: Zu der Zeit begann die DDR in ihrer Sucht nach Westdevisen politische Gefangene zu verkaufen. Über 30.000 wurden im Laufe der Zeit freigelassen, wofür die Bundesrepublik in harter Währung bezahlte. Vor Weihnachten konnten so ein paar Kisten Bananen oder Apfelsinen mehr verteilt werden. Planwirtschaft funktioniert, wenn jemand von außen die Pläne mitfinanziert.

„Es tropfte aus lecken Leitungen, Mangelwirtschaft und Verschwendung bildeten eine Einheit.“

Die DDR sah sich stets als Heimat des real existierenden Sozialismus, das „real“ verwies auf einen Komplex. Im Winter war der Haushaltsstrom knapp, die Preise für Energie, Wohnraum, Lebensmittel durften aber nicht erhöht werden. Weil dieser Bestechungsversuch an der Bevölkerung die Leute nicht zum Sparen beim Stromverbrauch anregte, kam es zumindest in meiner Kindheit zu selektiven Stromabschaltungen für einzelne Stadtviertel. Im Hochsommer fehlte es dann am Wasser. Es gab dringliche Appelle zur Sparsamkeit, Gießen im Garten wurde verboten. Sogar Lautsprecherwagen fuhren mit dieser Botschaft durch die Siedlung.

Der Wasserpreis war noch niedriger, es tropfte aus lecken Leitungen, Mangelwirtschaft und Verschwendung bildeten eine Einheit. Dazu kam die weit verbreitete Lust, den Staat auszutricksen: Meine Mutter versprühte das Wasser aus dem Gartenschlauch im Dunkeln besonders gern, wenn das unerwünscht war. Das nütze den Blumen und schade dem Staat, meinte sie.

Alles nach Plan

Der Garten hatte noch eine weitere Rolle in der Umverteilungswirtschaft der DDR. Kleingärtner wurden angespornt, ihren Teil zur Versorgung beizutragen und zur Erntezeit frisches Obst und Gemüse abzuliefern. Es gab verlockende Abnahmepreise, zum Beispiel für frisch geerntete Kirschen. Ich erlebte, wie meine Eltern mit zwei vollen Eimern keinen halben Kilometer gingen, um sie bei der Annahmestelle abzuliefern. Der Inhalt wurde gewogen, sie bekamen ihr Geld. Dann liefen sie um das Haus herum in die Verkaufsstelle und kauften einige Kilogramm frischer Kirschen, möglicherweise ihre eigenen. Der Verkaufspreis pro Kilo war deutlich niedriger als der Betrag, den sie als Erzeuger bekommen hatten.

Die Planwirtschaft funktionierte an sich schon schlecht, und durch den Verbund mit osteuropäischen Partnern wurde sie noch unzuverlässiger. Die festgesetzten Preise erlaubten keine realen Kalkulationen. Hinter einer Maske aus Normalität verbarg die DDR lauter Irrealitäten.

Verbotenes Gartengießen konnte in der DDR des Nächtens als stiller Protest fungieren. © Ivan Canu

Ein gutes Beispiel sind die Steuern, die fast keine oder eine brutale Rolle spielten – je nachdem, um wen es ging. Gewerbetreibende (weil Fast-Kapitalisten) wurden zu manchen Zeiten mit Höchststeuern fertiggemacht. Andere zahlten dafür so gut wie nichts. Als ein Antiquitätensammler in den 1980er-Jahren in den Westen ausreisen wollte, leitete man ein Eilverfahren wegen unterschlagener Vermögenssteuer gegen ihn ein. Seine Strafe war zufällig genauso hoch wie der geschätzte Wert seiner Sammlung; enteignet durfte er ausreisen.

Künstler hatten es besser, solange sie nicht ausreisen wollten und auch sonst nichts Verbotenes anstellten. Der mit Steuernummer bestätigte Freischaffende musste einmal im Jahr zum Finanzamt, alle Einnahmen wurden automatisch mit 20 Prozent versteuert, Verbandsmitglieder bekamen über ihren Berufsverband die Hälfte zurück. Die Steuererklärung dauerte keine drei Stunden – zwei fürs Anstehen, fünfzehn Minuten fürs Ausfüllen und fünfzehn für die Kontrolle durch die Sachbearbeiterin.

Sozialistisches Chamäleon

 Werbung in der DDR „hatte keine Wettbewerbs-, sondern eine Steuerungsfunktion“, schreibt der Autor Andreas Koop: „Ein Beispiel dafür … ist die Kampagne für Rotwein. (…) Getrunken wurde viel, vor allem Hartes. Den übermäßigen Konsum von Schnaps wollte man wie den regelmäßigen Gang in die Kneipe eindämmen – und lieber die hohen Bestände importierten Weins aus Ungarn, Bulgarien und Rumänien forcieren. Dazu erschienen Anzeigen mit der Aussage ‚Trinke nicht wahllos – trinke Rotwein!‘“. Die DDR jonglierte mit ihren Möglichkeiten.

Irgendwann wurde die Kampagne ohne Angabe von Gründen eingestellt. Weil der Rotwein aus den befreundeten Ländern knapp geworden war? Weil die Anzeigen wirkungslos blieben? Weil die Werbung zu einem Anschwellen der Zahl rotweinabgefüllter Neu-Alkoholiker geführt hatte, die statt eines Gläschens gleich die ganze Flasche leerten? 

Seit dem Verschwinden des Staates DDR wuchern die Mutmaßungen über ihn. Die sture und doch flexible Diktatur der SED erzeugte ein System, aus dem sich Historiker wie Zeitzeugen das herauspicken können, was ihnen naheliegend oder originell zu sein scheint. Der graue Stasi-Staat wird im Rückblick zum Chamäleon. Letztlich hat wohl jeder seine eigene DDR.

Teil I der Pragmaticus-Serie über den Sozialismus finden Sie hier. Zu Teil II geht es hier. In der kommenden Ausgabe erörtert der Historiker und Soziologe Rainer Zitelmann die Vorzüge des Kapitalismus.

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