Russland seit 1991: Was wäre, wenn …
Vor 30 Jahren wurden die Weichen gestellt: Hätte sich Russland – und mit ihm die gesamte Welt – nach dem Kollaps der Sowjetunion anders entwickeln können? Ein historisches Gedankenspiel in vier Szenarien.
Es hätte alles so schön sein können. Wer sich an das Jahr 1991 erinnert, erinnert sich auch an die Aufbruchstimmung: Der Kommunismus war vorbei, es tauchten neue Gesichter in der russischen Politik auf – und mit ihnen die Hoffnung, dass nun alles besser werden würde. 30 Jahre später sieht alles ganz anders aus.
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Der russische Präsident Wladimir Putin ist seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Macht. Spekulationen, dass er auf Lebenszeit bleiben will, scheinen Wirklichkeit zu werden. Und tatsächlich: Mit dem Aufkommen einer neuen Generation junger Russen, die nie eine andere politische Führung gekannt haben, könnte man leicht auf die Idee kommen, Putin und Russland seien ein- und dasselbe. Die Verlockung, den Führer der Nation mit der Nation selbst zu verwechseln, wurde von Kreml-Insider Wjatscheslaw Wolodin sehr schön auf den Punkt gebracht: „Solange es Putin gibt, gibt es Russland; und wenn es keinen Putin mehr gibt, wird es auch kein Russland mehr geben.“
Der beste Weg, sich vor dieser Denk-Falle zu schützen, besteht darin, jene Momente zu betrachten, an denen die Entwicklungen eine andere Wendung hätten nehmen können. Bei der Frage, ob grundlegend andere Aussichten für Russland möglich gewesen wären, geht es auch darum zu untersuchen, warum diese Alternativen nicht eingetreten sind.
Szenario 1: Kein Kollaps, keine Wiedervereinigung
Die erste Denkvariante: Was wäre passiert, wenn die Sowjetunion nicht zusammengebrochen wäre? Im Nachhinein behaupteten viele Beobachter, sie hätten den Untergang der Sowjetmacht schon lange kommen sehen. Doch bis zum Ereignis selbst glaubten nur wenige, dass dies in absehbarer Zeit geschehen würde. Die Sowjetunion befand sich zwar in einer Phase des rasanten Niedergangs und die Zeichen deuteten auf einen möglichen Kollaps, doch tatsächlich war die plötzliche Implosion im Jahr 1991 das Ergebnis einer Reihe von zufälligen Ereignissen.
Eines davon war der Konflikt innerhalb der Kommunistischen Partei. Hätten sich die Hardliner gegen den pro-westlichen Präsidenten Michail Gorbatschow durchgesetzt, wäre es zu einem grundlegend anderen Verlauf der Ereignisse gekommen. Warum? Moskau hatte 380.000 Frontsoldaten in der DDR stationiert und hätte dadurch sowohl den Fall der Berliner Mauer als auch die anschließende Wiedervereinigung Deutschlands verhindern können und insofern auch den „demokratischen Revolutionen“ in Mitteleuropa ein Ende setzen können. Auch das harte Vorgehen in den benachbarten baltischen Republiken wäre weitergegangen. Die kommunistischen Hardliner hätten – so wie 1991 begonnen – weiterhin Listen mit prominenten Personen erstellen, sie verhaften und deportieren können.
Was wäre dann anders gelaufen? Der Warschauer Pakt wäre intakt geblieben, die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen hätten einen neuen Tiefpunkt erreicht und die Gefahr eines Dritten Weltkrieges wäre klar und unmittelbar präsent gewesen. Was diese Entwicklung verhinderte, war die Unentschlossenheit und schiere Inkompetenz der Hardliner. Der Putschversuch gegen Präsident Gorbatschow im August 1991 endete nach nur drei Tagen in einem Scherbenhaufen. Ein Jahrzehnt später sollte Präsident Putin beweisen, dass er seine Lektion aus diesen Ereignissen gelernt hatte.
Szenario 2: Noch mehr Zerfall
Eine zweite Denkvariante geht der Frage nach, was passiert wäre, wenn die Russische Föderation dem Beispiel der Sowjetunion folgend sich in ihre Bestandteile aufgelöst hätte. Seinerzeit wurde das als realistische Möglichkeit gesehen. Als Boris Jelzin, der damalige Präsident der Russischen Föderativen Sowjetrepublik, alle fünfzehn Sowjetrepubliken dazu aufforderte, sich von der Union zu lösen, konterte Präsident Gorbatschow mit der Aussage, die einzelnen Mitglieder der Russischen Föderation sollen sich „so viel Souveränität nehmen, wie sie schlucken können“.
Am ehesten wollten die muslimischen Republiken im Nordkaukasus die Abspaltung. Unter der Führung der Republik Tschetschenien hätte ein Kalifat lange vor dem Islamischen Staat entstehen können. Wohl weniger gewaltsam wäre der Zusammenschluss einer Handvoll von Republiken im muslimischen „Halbmond“ entlang der Wolga gewesen. Angeführt vom ölreichen Tatarstan und Baschkortostan wäre Moskau dadurch jedoch einer wichtigen Einnahmequelle beraubt worden. Der krönende Abschluss eines solchen Weges wäre eine unabhängige „Fernöstliche Republik“ gewesen, die sowohl über riesige Energievorräte verfügt als auch die Pazifikflotte kontrolliert hätte. Schließlich hätten sich in dieser Gemengelage sicherlich auch die drei baltischen Republiken abgespalten.
Welche Rolle hätte dann Russland eingenommen? Wahrscheinlich lediglich die eines modernen Großherzogtums Moskowien in einer modernen Version. Sprich: arm an Ressourcen und umgeben von an sich instabilen Staaten. Auch die Kontrolle über die Atomwaffen wäre nicht mehr in einer Hand gewesen. Um diese Entwicklung zu verhindern, gab es eine Reihe von Maßnahmen. Zum einen waren es die blutigen Repressionen im Nordkaukasus, die in zwei Kriege in Tschetschenien mündeten. Zum anderen wurden nach demselben Muster lokale Eliten auch in anderen Regionen bestochen. Indem der Kreml ihnen großzügige Finanzspritzen aus der Staatskasse zuspielte, untergrub er auch die Chance auf einen geordneten Steuerföderalismus. Es bräuchte einen Ölpreisboom, damit Moskau die notwendigen Mittel hätte, um die Regionen unter Kontrolle zu halten.
Szenario 3: Ukraine auf der Überholspur
Das dritte Szenario ist wiederum anders. Was wäre mit Russland geschehen, wenn die Ukraine den Weg Polens gegangen wäre? Die Situation stellte sich seinerzeit so dar: Als die Sowjetunion zerfiel, hatten die beiden Länder in etwa den gleichen wirtschaftlichen Entwicklungsstand, gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. In Anbetracht ihrer historischen, kulturellen und geografischen Nähe wurden beiden Ländern ungefähr ähnliche Erfolgsaussichten zugetraut.
Hätte die Regierung in Kiew dieselben Reformen wie jene in Warschau durchgeführt, hätte sich die Ukraine in eine ähnliche Richtung entwickeln können. Eine dringend notwendige Reform des Energiesektors hätte das Land weniger abhängig vom Gas und damit von Russland gemacht. In der Folge hätte die Kombination aus politischer Stabilität und wirtschaftlichem Wohlstand den Weg für eine Aufnahme in die EU und die NATO geebnet.
Eine zunehmend demokratische und wohlhabende Ukraine hätte massiven Druck auf den Kreml ausgeübt, ähnliche Reformen durchzuführen. Umgekehrt hätte Russland ohne das Druckmittel Energie geringe Möglichkeit gehabt, Einfluss auf Kiew auszuüben. Das hätte zu innenpolitischem Aufruhr innerhalb Russlands führen können, möglicherweise sogar unterstützt von der Ukraine und dem Westen. Es ist anzunehmen, dass das autoritäre Putin-Regime dann zu massiver Repression gegriffen hätte, was nicht nur die Atmosphäre im Land vergiftet, sondern es auch in die Verarmung getrieben hätte.
Es waren die räuberischen Machenschaften der ukrainischen Oligarchen, die dieses Szenario vereitelten. Bis zur Ukraine-Krise 2014 war das ukrainische Bruttoinlandsprodukt pro Kopf auf ein Drittel im Vergleich zum polnischen gesunken. Eingeklemmt zwischen pro-russischen und pro-westlichen Kräften hatte sich das Land in eine tiefe wirtschaftliche Krise manövriert und sich so in eine Situation gebracht, in der es leicht war, es auszubeuten. Und genau das hat der Kreml dann auch getan.
Szenario 4: Neue Freundschaft mit dem Westen
Im vierten und letzten Szenario sollen die Aussichten für ein Russland auf dem Kurs in Richtung liberale Demokratie und regelbasierte Marktwirtschaft ausgelotet werden. Das jedenfalls war das Ziel des seinerzeit neu gewählten US-Präsidenten Barack Obama, der einen Neustart in den russisch-amerikanischen Beziehungen anstrebte. Dieser hing jedoch zu einem großen Teil auch vom ebenfalls neu gewählten Präsidenten Dmitri Medwedew ab, der den russischen Teil der Abmachung hätte einhalten müssen.
So eine neue Freundschaft zwischen Russland und dem Westen hätte einen Wirtschaftsaufschwung gebracht. Dringend notwendige ausländische Direktinvestitionen wären ins Land geflossen, zum Großteil, aber nicht ausschließlich, in den Energiesektor. Präsident Medwedews Fokus auf eine „Modernisierungspartnerschaft“ hätte die Entwicklung einer Zivilgesellschaft gefördert. Wäre das Ansehen von liberalen Parteien in der Gesellschaft gestiegen, wäre auch ein Wechsel in der politischen Führung wahrscheinlicher geworden – und damit der Weg in eine gefestigte Demokratie.
Das wiederum hätte auch Konsequenzen für die Außenpolitik gehabt. Zum einen hätte die Krise in der Ukraine hätte verhindert werden können. Zum anderen hätten Russland und der Westen eine gemeinsame Strategie in Syrien verfolgen und zusammen ein Bollwerk gegen China bilden können.
Doch dieses Szenario wurde durch einen sorgfältig kalibrierten Schwindel vereitelt. Erst kündigte Präsident Putin an, sich an das in der Verfassung verankerte Verbot von mehr als zwei Amtszeiten halten zu wollen und wurde Premierminister. All jenen, die sich um Präsident Medwedew scharten – es waren Russen gleichermaßen wie Amerikaner – wurde vorgegaukelt, der Deal wäre echt und Putin würde bald der Vergangenheit angehören. Wie die Ereignisse zeigen sollten, war das aber nicht der Fall: 2012 kam er als Präsident zurück und setzte seinen etablierten Kurs als Hardliner fort. Krieg in Georgien, Krieg in der Ukraine und die bedingungslose Unterdrückung jeder Form von Opposition waren die Folge.
Zurück in die Zukunft
Gibt es eine Quintessenz all dieser Szenarien? Zweifellos. Es ist das Schwanken zwischen Reform und Repression, die in Russland eine historische Konstante ist. Zwar gibt es dazwischen immer wieder Episoden staatlicher Zusammenbrüche, doch letztendlich lässt sich ein wiederkehrendes Muster mit jahrhundertelanger Tradition erkennen. Vielen Russen ist das letzte Kapitel bestens vertraut. Erst kam der Staatskollaps 1991, dann die „Zeit der Wirren“ – ein Begriff, der in Russland seit Ende des 16. Jahrhunderts ein Synonym für politische Instabilität ist. Daraus entstanden stets Visionen einer liberalen Zukunft, denen durch „autoritäre Restauration“ ein jähes Ende gesetzt wurden. Eines ist sicher: Es werden sich auch künftig Gelegenheiten für historische Umschwünge ergeben. Allzu bald wird das aber nicht der Fall sein.