Einzigartigkeit als Kriterium

Das Programm „Edge of Existence“ setzt sich für die Arten ein, die genetisch einzigartig und damit unersetzlich sind. Ist das der richtige Weg, um die Artenvielfalt zu schützen?

Ein Tier mit einem weiß-roten Fell hat das Maul geöffnet und scheint zu rufen. Der Rote Panda gehört zu den einzigartigen Tieren, deren Schutz wichtig ist.
Dieser Rote Panda im Zoo von Dublin ruft nicht, sondern wird gerade gefüttert. Der Katzenbär aus der Himalaya-Region ist in der Liste des Programms Edge auf Platz 12. Weniger als 10.000 Individuen leben noch außerhalb von Zoos. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Begrenzte Ressourcen. Wir haben leider weder das Geld noch die Zeit oder den politischen Willen, alle Arten zu retten.
  • Notwendige Priorisierung. Es ist deshalb notwendig, den Fokus auf bestimmte Arten zu richten – bislang passiert das zwar, aber willkürlich.
  • Baum des Lebens. Der an der genetischen Verwandtschaft orientierte Ansatz „Baum des Lebens“ kann zeigen, welche Arten einzigartig sind.
  • Einzigartig. Wenn eine Spezies kaum weitere genetische Verwandte hat, kann ihr Verlust als besonders schwerwiegend gelten.

In einer perfekten Welt könnten (und würden) wir jede Art retten. In der realen Welt sind die Möglichkeiten der Menschheit, Arten zu retten, jedoch stark eingeschränkt: durch Zeit, Geld und politischen Willen. Deshalb können wir uns in der realen Welt nicht mehr den Luxus leisten, alle Arten gleich zu bewerten. Wir müssen beginnen, Arten einen bestimmten Wert zuzuschreiben – um zu entscheiden, wo wir unsere begrenzten Ressourcen am besten investieren.

Mehr über Artenvielfalt

Entscheidungen darüber, welche Arten für die Menschheit am bedeutendsten und daher zu retten sind, werden seit langem von einer Vielzahl von Faktoren bestimmt. Viele dieser Faktoren sind allerdings subjektiv oder aus der Not heraus entstanden sind. Die Schutzbemühungen haben sich in der Regel auf große oder charismatische Arten wie Elefanten, Nashörner, große Raubtiere und Raubvögel konzentriert. Diese überproportionalen Investitionen in charismatische Arten sind verständlich: Sie sind bekannt und beliebt, und im Vergleich zu kleinen, „uninteressanten“ Arten ist es einfacher, für sie Spenden zu lukrieren.

Verlust der Vielfalt

Diese Konzentration auf eine kleine Gruppe von Arten auf Kosten zahlreicher anderer führt aber dazu, dass wir biologische Vielfalt verlieren. Vielfalt ist für die Ökosysteme aber von zentraler Bedeutung: Vielfältige Ökosysteme sind produktiver und widerstandsfähiger als ihre Gegenstücke. Diese Vielfalt kann auf verschiedene Weise gemessen werden, aber auf der grundlegendsten Ebene ist die Vielfalt innerhalb und zwischen den Arten ein Produkt der Vielfalt der Merkmale, die durch die Evolution entstanden sind.

In einer perfekten Welt würden wir die Vielfalt aller Merkmale für jede einzelne Art messen, aber in der Realität ist dies nicht möglich. Wir verlassen uns deshalb auf das Prinzip der Homologie: Je ähnlicher die Evolutionsgeschichte einer Artengruppe, desto mehr gemeinsame Eigenschaften wird sie haben. Wir können auch den umgekehrten Fall betrachten: Wir erwarten, dass Artengruppen mit einer abweichenden Evolutionsgeschichte eine größere Anzahl einzigartiger Merkmale aufweisen und somit eine größere grundlegende Vielfalt besitzen.

Ein Tier mit ausgeprägten schwarzen Streifen von nase bis Augen blickt in die Kamera. Das Tier ist auf der Liste einzigartiger Tiere, deren Art im Sinne der Artenvielfalt erhalten werden soll.
Ein Numbat, Myrmecobius fasciatus, im westlichen Australien. Das Numbat ist in der aktuellen Liste des Edge-Programms auf Nummer 5 der einzigartigen Arten. © Getty Images

Weniger theoretisch gesprochen: Es ist für uns offensichtlich, dass wir mit unseren engsten evolutionären Verwandten, den Menschenaffen (Schimpansen, Bonobos, Gorillas, Orang-Utans), eine größere Anzahl von Merkmalen gemeinsam haben als mit weit entfernten evolutionären Verwandten wie Krokodilen, Kakerlaken, Orchideen und Pilzen.

Dieser Grundsatz, dass unterschiedliche Evolutionsgeschichten zwischen den Arten zu unterschiedlichen Merkmalsausprägungen führen, führte 1992 zur Einführung eines grundlegenden Maßes für die biologische Vielfalt.

Dieses Maß, die so genannte „phylogenetische Vielfalt“, misst die Evolutionsgeschichte und damit die erwartete Vielfalt von Merkmalen, die eine Gruppe von Arten aufweist. Ein so genannter „Baum des Lebens“ wird dazu genutzt, die evolutionären Beziehungen zwischen den Arten darzustellen. Die Äste des Baums repräsentieren die evolutionären Wege, die die lebenden und ausgestorbenen Arten eingeschlagen haben. Der Baum entwickelt sich von der Wurzel, dem Ursprung des Lebens, bis zu den Blättern – den heute auf der Erde lebenden Arten.

Die Brückenechse am längeren Ast

Die phylogenetische Vielfalt folgt diesen Evolutionspfaden, um zu messen, wie viel Evolutionsgeschichte sich in einer Gruppe von Arten wiederfindet. Denn einige Arten befinden sich in Regionen des Lebensbaums, die dicht besiedelt sind und überwiegend kurze Äste aufweisen – Nagetiere und Drosseln beispielsweise –, während andere Arten allein auf langen Ästen des Baums des Lebens sitzen. Etwa die Tuatara oder Brückenechse, die sich vor mehr als 240 Millionen Jahren von allen lebenden Arten abspaltete. Artengruppen, die sich über eine große Anzahl langer Äste des Lebensbaums erstrecken, tragen mehr Evolutionsgeschichte in sich als Artengruppen, die auf einer kleinen Anzahl kurzer Äste sitzen.

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Zahlen & Fakten

Seitliche Aufnahme einer Echse. Das Bild illustriert einen Beitrag über Einzigartigkeit als Kriterium für den Schutz einer Art.
Eine Brückenechse auf Stephens Island in Neuseeland. © Getty Images

Einzigartig I: Die Brückenechse

  • Die Brückenechse gilt als lebendes Fossil: Sie besitzt einen namensgebenden Schläfenbogen, eine Brücke, am unteren Schläfenbogen. Die Echsen sind Überlebende einer Gruppe von Reptilien, den Sphenodontia, die es vor 150 Millionen Jahren gab.
  • Die auch als Tuatura bekannte Echse ist in Neuseeland beheimatet, wo sie in der Nähe von Seevögeln lebt.
  • Die lange vorherrschende Annahme, dass es sich um eine friedliche Koexistenz von Seevögeln und Echsen handelt, gilt als zweifelhaft: Immer wieder werden Küken der Seevögel mit abgebissenen Köpfen gefunden.

Das Aufkommen von Hochleistungsrechnern und schnellen genetischen Sequenzierungstechniken bedeutet, dass die evolutionären Beziehungen einer großen Anzahl von Arten kontinuierlich geklärt und aktualisiert werden. Diese Fortschritte führten 2007 zur Erstellung und Veröffentlichung des ersten umfassenden Evolutionsbaums für mehr als 5.000 Säugetierarten der Welt. Zur gleichen Zeit stand die Rote Liste der bedrohten Arten der IUCN kurz vor dem Abschluss der ersten umfassenden Bewertung des Aussterberisikos von Säugetieren.

In dieser Aufbruchsstimmung begannen Wissenschaftler der „Zoological Society of London“ (ZSL) nach einer Möglichkeit zu forschen, den Baum des Leben zu nutzen, um Schutzmaßnahmen für bedrohte Arten zu priorisieren. Unter der Leitung von Dr. Nick Isaac kombinierten sie den neuen Evolutionsbaum mit dem Aussterberisiko für die Säugetiere der Welt und tauften diesen Ansatz für den Artenschutz Edge – „Evolutionarily Distinct and Globally Endangered“ (also: evolutionär eigenständig und weltweit gefährdet).

Eine Liste für den Artenschutz

Der Edge-Ansatz quantifiziert und kombiniert zwei Schlüsselelemente bei der Prioritätensetzung von Artenschutzmaßnahmen: Die Unersetzlichkeit ­– die unser Interesse, eine Art zu retten, widerspiegelt – und die Verwundbarkeit einer Art. Das Neuartige des Edge-Ansatzes war es eben, die Evolutionsgeschichte als Parameter für die Unersetzlichkeit einzelner Arten heranzuziehen.

Arten, die nur wenige oder gar keine nahen Verwandten im Lebensbaum haben, sind größtenteils, wenn nicht sogar vollständig, für die Erhaltung ihres Zweiges – und damit für die Erhaltung der einzigartigen Merkmale – verantwortlich. Beim Edge-Ansatz werden diese Arten unersetzlicher angesehen als jene Arten, die sich die Verantwortung mit vielen anderen verwandten Arten teilen.

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Zahlen & Fakten

Illustration einer Schildkröte, die industrielle Umweltverschmutzung auf ihrem Rücken trägt. In dem Bild geht es um das Verschwinden von Tieren durch den Verlust von Lebensraum.
Industrialisierung, Verkehr, Landwirtschaft und Fischerei lassen Wildtieren kaum noch Lebensräume. © Marzio Mariani

Einzigartig II: Die Mary-River-Schildkröte

  • Der Punk unter den Schildkröten hat sich seine Frisur, einen grünen Irokesenschnitt, gar nicht ausgesucht: Es sind Algen, die auf ihrem Kopf wachsen.
  • Die im Mary River in Queensland beheimatete Schildkröte kann bis zu drei Tage unter Wasser bleiben, weil sie eine sogenannte Kloakenatmung hat. Sie atmet durch ihren Anus. Während der Zeit unter Wasser haben Algen Gelegenheit, sich auf Kopf und Rücken anzusiedeln.
  • Die Mary-River-Schildkröte hat sich evolutionär vor etwa 40 Millionen Jahren von allen anderen Schildkröten-Arten abgespalten. Das ist ein relativ langer Zeitraum. Die Gattung Mensch ist circa 1,5 bis zwei Millionen Jahre alt, der letzte gemeinsame Vorfahre mit Schimpansen und Menschenaffen lebte vor sechs Millionen Jahren.

Als die erste Edge-Liste für Säugetiere erstellt wurde, landete dort eine Reihe von Arten, die normalerweise von der vorherrschenden Naturschutzagenda übersehen werden. Das Säugetier mit der höchsten Priorität war der Baiji, ein Flussdelfin aus dem Jangtse-Fluss in China, von dem man annimmt, dass er vermutlich ausgestorben ist.

Die Top-100-Liste umfasste zahlreiche Fledermausarten, Nagetiere, Kaninchen und andere übersehene und wenig bekannte Arten wie Schnabeligel, Schlitzrüssler und eine Elefantenspitzmaus. Die Liste enthielt jedoch auch mehrere charismatische Säugetiere wie Elefanten, Nashörner, Tapire und Wale, die alle zu evolutionär einzigartigen Linien gehören.

Am Rande des Existierens

Aus der Liste wurde ein Erhaltungsprogramm namens „Edge of Existence“. Seit 2007 wurden Edge-Priorisierungen für Amphibien, Vögel, Korallen, Reptilien, Haie und Rochen sowie Nadelbäume und Farne erstellt, und mittlerweile werden mehr als 70.000 Arten bewertet, um die Prioritäten für die Erhaltung festzulegen. Zu den Arten, die im Rahmen des Edge-Ansatzes als prioritär eingestuft wurden, gehören viele der evolutionär, morphologisch und funktionell einzigartigsten Arten der Erde, von Zwerg-Alligatoren und Schildkröten, die durch ihre Genitalien atmen, bis hin zu blinden Höhlensalamandern und flugunfähigen Nachtpapageien.

Darüber hinaus sind viele prioritäre Edge-Arten von kultureller oder materieller Bedeutung für den Menschen, wie die Himalaya-Eibe, deren Inhaltsstoffe in der Krebsbehandlung verwendet werden, und der Affenpuzzle-Baum, der weltweit in privaten und öffentlichen Gärten zu finden ist.

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Zahlen & Fakten

Foto eines Tiers mit einer sehr langen Nase, einem Fell mit stachelartigen Elementen und Füßen mit großen Krallen. Das Tier gehört zu einer Igelart, die genetisch einzigartig ist.
Dieser Langschnabeligel gehört zur Unterart Zaglossus bartoni und ist nur ein Modell. Zaglossus bartoni ist auf Papua-Neuguinea endemisch. © MUSE https://creativecommons.org/ via Wikimedia Commons

Einzigartig III: Attenborough Langschnabeligel

  • Die nach David Attenborough benannte Art wurde überhaupt nur ein Mal gesichtet, im Jahre 1961 auf Papua-Neuguinea.
  • Im Juli 2007 fanden Forscher von Edge Höhlen und Spuren, die eventuell zum Attenborough-Langschnabeligel gehören. Dies sind die einzigen Hinweise, die auf die Existenz dieses Schnabeligels hindeuten.
  • Neben Schnabeltieren sind Schnabeligel die einzigen Säugetiere, die Eier legen. Der Zaglossus attenboroughi ist auf Platz 20 der Edge-Liste.

Besorgniserregend ist, dass ein großer Teil der unersetzlichsten und am stärksten bedrohten Arten, die im Rahmen des Edge-Konzepts ermittelt wurden, immer noch nicht angemessen geschützt wird. Das „Edge of Existence“-Programm hat jedoch die Listen genutzt, um Schutzmaßnahmen für mehr als 120 prioritäre Edge-Arten in 46 Ländern zu unterstützen, von denen viele zuvor keine gezielten Schutzmaßnahmen erhielten. Das Programm bietet Schulungen und Unterstützung für künftige Artenschützer aus Entwicklungsländern, damit sie in ihren Heimatländern gezielte Erhaltungsforschung und -maßnahmen für Edge-Schwerpunktarten durchführen können. Durch die Förderung von Naturschützern zielt das Programm darauf ab, ein globales Netzwerk aufzubauen, das Veränderungen für ihre Edge-Arten, die Umwelt und die von ihr abhängigen Menschen vor Ort bewirken kann.

Das Aussterben ist endgültig

Der Edge-Ansatz hat es ermöglicht, eine grundlegende Komponente der biologischen Vielfalt, nämlich die Evolutionsgeschichte der Arten, in den Artenschutz zu integrieren. Durch die Priorisierung bedrohter Arten auf der Grundlage ihrer Evolutionsgeschichte hat Edge eine Plattform für übersehene Arten geschaffen, die neben den herkömmlichen „Giganten“ der Welt des Artenschutzes auf der Grundlage ihrer Verdienste berücksichtigt werden. Edge hat das Spielfeld zwischen den Arten geebnet, indem sie diejenigen hervorgehoben hat, die einen unersetzlichen Beitrag zu unserem evolutionären Erbe leisten, unabhängig von ihrer Größe, Form oder Fellfarbe.

In Anbetracht der jüngsten Erkenntnisse, dass die Erhaltung der Evolutionsgeschichte eine wirksame Strategie ist, um die Vielfalt des Nutzens für den Menschen zu erhalten, und dass die Priorisierung der evolutionär einzigartigsten Arten viele der vielseitigsten und nützlichsten Arten einschließt, ist es wichtiger denn je, die Evolutionsgeschichte der Arten auf der Erhaltungsagenda zu berücksichtigen. Auch wenn unsere Zukunft ungewiss ist, das Aussterben ist endgültig. Edge bietet ein Instrument, mit dem wir versuchen können, den Baum des Lebens und die Optionen, die er der Menschheit für die Zukunft bietet, zu schützen.

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Conclusio

Wir werden nicht alle Tierarten retten können. Deshalb sollten wir uns auf jene konzentrieren, die die Vielfalt der Natur widerspiegeln – also jene Arten, die kaum oder keine genetischen Verwandten haben. Diese sind unersetzbar. Einzigartige Spezies wie Schlitzrüssler und Schnabeligel haben genauso viel unserer Aufmerksamkeit verdient wie große Raubtiere oder Nashörner.

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