Der Preis der Untätigkeit
Jahrzehntelang haben Deutschland, die Schweiz und Österreich Investitionen in erneuerbare Energie vermieden. Es gab ja billige Importe. Jetzt rächt sich das lange Nichtstun. Und wir bezahlen mit unserer Moral.
Zeitenwende – das Ende der Illusionen – die neue Realität. Wie auch immer man die Ereignisse der letzten Monate in Worte fasst: Spätestens mit der Energiekrise kommen die Folgen in den einzelnen Haushalten an. Und welche Umschreibung man auch wählt, am Ende geht es um eine Erkenntnis: Es gibt kein Leben ohne Opfer, keine Wahl ohne Preis. Jeder Entscheid kostet – wenn nicht heute, dann in Zukunft.
Oft wäre ein frühzeitiges Kalkül klüger und eine rechtzeitige Übernahme der Kosten günstiger. Der Mensch aber zieht es vor, in der kurzen Frist zu profitieren und die Rechnung auf die lange Bank zu schieben. Diese Gesetzmäßigkeit zeigt sich derzeit gerade in mehrfacher Weise.
Am falschen Ende der Pipeline
Zunächst einmal wirtschaftlich. Was viele nicht wahrhaben wollen, ist ein simples Gesetz: Es gibt keinen Wohlstand ohne Wachstum. Selbst wer der Illusion erliegt, man könne als wohlhabende Gesellschaft auf Wachstum verzichten, wird rasch bekehrt, wenn eine mögliche Krise ins Haus steht. So auch jetzt, wo langsam klar wird, dass die Wirtschaft ohne Energie nicht am Laufen bleibt – und somit auch nicht wachsen kann.
Gerade die deutschsprachigen Länder haben zu lange auf Energieimporte gesetzt und gemeint, sie kämen ohne eigene Investitionen davon. Nun, wo diese dringend sind, gilt es plötzlich, die Auswirkungen auf die Natur und das Klima zu überdenken und sich zu fragen: Was ist schlimmer? Gewaltige Windturbinen, dreckige Kohle oder die verpönte Nuklearenergie? Der Zielkonflikt ist eindeutig, und er harrt einer Entscheidung.
Weil jedoch Investitionen so rasch nicht zu tätigen sind, da die Infrastrukturen nicht über Nacht erneuert werden können, wird nun auch klar: Es gibt keine Energiewende ohne Übergangsregimes – und keine Übergangsregimes ohne Kompromisse. Da Energie weiterhin importiert werden muss, wenden sich Demokratien nun an bisher nicht so genehme Regimes – ein Unbehagen, für das es auch in den vergangenen Jahren Gründe gegeben hätte, die aber lieber ausgeblendet wurden.
Zuerst die Energie, dann die Moral
Es gilt nämlich nach wie vor: Es gibt keine gesicherten Importe ohne moralische Abstriche bei der Außenpolitik; die Interessen gehen vor. Die Geopolitik bleibt eine Realität, ob sie einem genehm ist oder nicht.
Politisch wird damit ebenfalls klar: Innenpolitische Geschenke sind nie umsonst. Mögen die Kosten noch so verdeckt sein: Irgendwann präsentieren sie sich als Rechnung, je später, desto dicker. Und je höher die Rechnung, desto schmerzhafter die Anpassungsprozesse. Und weil Anpassungsprozesse Gewinner und Verlierer produzieren, müssen Letztere zumindest partiell aufgefangen werden. Jede politische Intervention aber, und sei sie noch so klug aufgesetzt, zeitigt unerwünschte, aber unvermeidbare Nebenwirkungen.
So muss jede Subvention der Energiepreise finanziert werden. Das Geld bei den Steuerzahlern zu holen macht Politikerinnen und Politiker bei der Wählerschaft nicht gerade beliebt – schon gar nicht in Zeiten der Inflation. Die großen Gewinner zur Kasse zu bitten ist zwar opportun, schadet aber dem wirtschaftspolitischen Vertrauen. Die Maßnahme müsste zumindest mit gewissen Garantien für die Zukunft kompensiert werden.
Die Finanzierung wiederum durch neue Schulden hätte zur Folge, dass auch diese bedient werden müssten. Und bei all diesen finanzpolitischen Überlegungen wurde noch nicht einmal bedacht, dass eine Abfederung der Energiepreise die dringend notwendigen Sparbemühungen zu unterlaufen droht.
Damit dämmert es allmählich auch der Gesellschaft: Ein Wohlstand, der sich darin ausdrückt, dass sich jede und jeder praktisch alles leisten kann, hat seinen Preis. Er beruhte zum einen auf allzeit verfügbaren Waren und Dienstleistungen, deren Preise auch dank günstiger Energie tief gehalten werden konnten – günstig, weil man die eigenen Investitionen scheute. Bezahlt wurde in Form von politischer Abhängigkeit. Ein anderer Teil des Wohlstands beruhte auf großzügigen Sozialleistungen und Renten – wenn nicht in hohen Summen, so immerhin in der Anzahl an Jahren. Es war Geld, das nur ausgegeben werden konnte, weil wir Wirtschaftswachstum hatten. Und weil es andernorts eingespart wurde – etwa bei der äußeren Sicherheit.
Die Demokratie geht, wenn der Wohlstand geht
In etwa so präsentiert sich die gegenwärtige Lage in Europa. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Es ist eine Situation, die uns wohlhabenden Demokratien an unsere Grenzen bringt: wirtschaftlich, politisch, finanziell.
Das wirtschaftliche Credo der Effizienz war richtig, wurde jedoch zu oft ohne seinen Zwilling, die Effektivität, gedacht. Die Rechnung muss auch auf lange Sicht aufgehen. Weil dies nicht der Fall war, meldet sich die Effektivität als Resilienz zurück: die Forderung nach Sicherheiten in Form von Vorräten und Redundanz, womit die Kosten steigen.
Was gestern noch politisch attraktiv klang, muss heute um den Preis politischer Popularität realisiert werden. Was wenig bis nichts kostete und im Überfluss vorhanden war, wird nun rar und teuer.
Für die Politik bedeutet dies, dass die lange Bank, die so bereitwillig dastand, verschwunden oder zumindest deutlich kürzer geworden ist. Der Zeithorizont, in dem wir die angestauten Herausforderungen packen und vor allem bezahlen müssen, ist massiv geschrumpft.
Warum sich die Energiewende lohnt
Die politische Ökonomie – jene Disziplin, die gesellschaftliche Präferenzen und Entscheide und die damit einhergehenden Konsequenzen untersucht – nennt diese Haltung Trittbrettfahrertum. Wer kann, schiebt Kosten auf oder ab. Das Motto lautet: Wenn jemand anders bezahlt, kann ich profitieren. Und mehr noch: Solange ich damit durchkomme, gibt es keinen Grund, mein Verhalten zu ändern, denn die Rechnung bezahlen andere – später.
Dieser spätere Zeitpunkt scheint nun eingetroffen – und die anderen sind wir selbst. Auch wir haben uns ein Stück weit durchs Leben geschummelt – oder, wie es im Volksmund heißt: die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Immerhin haben wir jetzt die Chance, für eine bessere Zukunft zu bauen. Packen wir sie.