Erdoğans vier größte Baustellen

Nach seiner Wiederwahl hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan große politische Baustellen. An erster Stelle muss jedoch das Krisenmanagement einer schwer angeschlagenen Wirtschaft und brodelnder außenpolitischer Konflikte stehen.

Taksimplatz in Istanbul: Im Vordergrund ist die Silhouette einer Statue des türkischen Staatsgründers Atatürk zu erkennen, im Hintergrund montieren Bauarbeiter eine türkische Flagge auf die im Bau befindliche Moschee.
Istanbul 2018: Die Silhouette des säkularen Staatsgründers Atatürk auf dem Taksim-Platz steht im Kontrast zur Moschee, die Erdoğan dort errichten ließ. Der Präsident hat große offene Baustellen, echte wie metaphorische. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Wirtschaft. Hyperinflation und die stark abgewertete Landeswährung Lira schmelzen den Wohlstand der Türken.
  • Militär. Die Türkei rüstet stark auf, und mischt militärisch zu Land und See in mehreren Konflikten mit.
  • Infrastruktur. Erdoğan treibt mehrere Prestigeprojekte voran, darunter Europas größter Flughafen und ein zweiter Bosporus-Durchgang.
  • Außenpolitik. Ankara versucht das ramponierte Verhältnis zum Westen wieder zu kitten, ohne Russland komplett zu vergraulen.

Die Türken haben am 28. Mai 2023 Präsident Recep Tayyip Erdoğan wiedergewählt. Noch am Wahlabend verkündete der türkische Präsident vor den Massen, dass mit diesem Sieg das „türkische 21. Jahrhundert“ eingeläutet wurde. Die Rückkehr der Türkei als Großmacht sei unaufhaltsam. Doch um diese Vision zu erfüllen, muss das Land gleich mehrere Herausforderungen stemmen. Das sind Erdoğans vier größten Baustellen:

I. Baustelle: Neustart für die Wirtschaft

Hyperinflation und eine schwächelnde Wirtschaft trüben seit Jahren die Stimmung in der Türkei. Zwar gehörte das Land im letzten Jahr neben Saudi-Arabien und Indien zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt, doch dürfte sie die Wachstumsrate von 5,6 Prozent im Jahr 2022 nicht halten. Das starke Wachstum wurde vor allem durch privaten Konsum angetrieben, der wiederum mit Krediten finanziert wurde. Diese Dynamik dürfte nicht nachhaltig sein: heuer sank das Wachstum zwischen Januar und April auf 0,3 Prozent im Vergleich zum vorangehenden Quartal.

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Die Rückkehr des erfahrenen Ökonomen Mehmet Şimşek als Finanzminister hat zugleich eine Kehrtwende in der Finanzpolitik eingeleitet, die vorher für Präsident Erdogan nicht in Betracht kam. Wie aus politischen Kreisen bekannt wurde, hatte der türkische Präsident den ehemaligen Finanzminister Şimşek vor den Präsidentschaftswahlen um einen umfänglichen Vortrag über die Finanz- und Wirtschaftslage der Türkei gebeten. Şimşek lieferte alle Daten und Fakten, die das Bild einer überhitzten und gefährdeten Wirtschaft aufzeigten.

Der türkische Finanzminister stand vor großen Herausforderungen: Die Lira ist seit der Wiederwahl von Präsident Erdoğan weiter auf Talfahrt und konnte nur durch Devisenverkäufe, Leitzins- und Steuererhöhungen stabilisiert werden. Dank der neuen Zentralbankchefin Hafize Gaye Erkan konnte der Leitzins von 8,5 auf 15,0 Prozent heraufgesetzt werden, obwohl Präsident Erdoğan als vehementer Gegner von höheren Zinsen gilt.

Sinneswandel bei Zinsen

Die Regierung hob auch den Mindestlohn und die Renten an, dafür stieg die Mehrwertsteuer von 18 auf 20 Prozent. Außerdem erhöhten Staatsbetriebe die Preise von Produkten drastisch an, wovon sich Ökonomen zusätzliche Steuereinnahmen in Höhe von 30 Milliarden Lira sowie eine Wachstumssteigerung um zwei Prozent erwarten.

Şimşek kündigte bereits an, dass eine stufenweise Anhebung des Leitzins über 18 Monate geplant sei, um die Inflation wieder auf fünf Prozent zu drücken. Gemäß offiziellen Angaben des Statistikamtes hat sich die Inflation auf 38,2 Prozent abgeschwächt, während sie im Oktober noch bei 85 Prozent lag.

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Zahlen & Fakten

Präsident Erdoğan hatte bereits im Wahlkampf ein Programm mit der „Vision 2023“ vorgestellt, das ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 5,5 Prozent für die Jahre 2024 bis 2028 vorsieht. Er will in den nächsten fünf Jahren bis zu sechs Millionen Arbeitsplätze in den Bereichen der Elektroautomobil- und Rüstungsindustrie schaffen, um die Arbeitslosigkeit auf sieben Prozent zu senken. Das Bruttoinlandsprodukt, das 2022 905 Mrd. Dollar umfasste, soll bis 2028 auf 1,5 Billionen Dollar gesteigert werden. Als Exportziel bis 2028 peilt die Regierung 400 Mrd. Dollar an, im Vorjahr betrug ihr Wert derAusfuhren rund 250 Mrd. Dollar.

Insbesondere im Bereich der Elektromobilität erhofft sich die Türkei große Erfolge: Die „Türkiye'nin Otomobili Girişim Grubu“ (TOGG) hat bereits 2,2 Milliarden in die Batteriezellen-Fertigung des neu gegründeten Joint-Ventures „Siro“ mit dem chinesischen Akku-Hersteller Farasis Energy investiert. Das Elektroauto Togg T10X erzielt eine Reichweite von bis zu 523 Kilometer, kostet rund 47.000 Euro und hat einen 160 kW/218 PS starken Elektroantrieb. Ab 2030 will die türkische Marke jährlich eine Million Autos produzieren.

II. Baustelle: Autarke Militärmacht

Die Türkei unterhält nicht nur die zweitgrößte Streitmacht der NATO, sie ist zudem führende Drohnen-Weltmacht geworden. Türkische Rüstungsfirmen wie Baykar Teknoloji mit der Bayraktar TB-2-Drohne oder Turkish Aerospace Industries mit der Anka-S-Drohne haben die militärische Drohnentechnologie revolutioniert und trugen in Konflikten wie in Bergkarabach, Libyen oder in der Ukraine wesentlichen zu militärischen Erfolgen bei. Das erste Jahr des Ukraine-Krieges wurde fast ausschließlich mit türkischen Drohnen geführt, als westliche Staaten mit derartigen Waffenlieferungen an Kiew aus Angst vor einer Eskalation zögerten.

Wir haben die Auslandsabhängigkeit in der Verteidigungsindustrie in so kurzer Zeit wie 20 Jahren von etwa 80 Prozent auf etwa 20 Prozent reduziert

Recep Tayyip Erdoğan

Erdoğan geht es nicht nur um Aufrüstung, sondern auch um strategische Autarkie: „Wir haben die Auslandsabhängigkeit in der Verteidigungsindustrie in so kurzer Zeit wie 20 Jahren von etwa 80 Prozent auf etwa 20 Prozent reduziert“, erklärte der Präsident vor Rüstungsvertretern. Die Türkei strebt an, eine autarke Militärmacht im 21. Jahrhundert zu werden. Weitere Projekte, die in die Serienproduktion gehen sollen, sind der Kampfhubschrauber T 129 Atak, der Altay-Kampfpanzer sowie das Luftabwehrsystem HİSAR A+.

Fliegerstreit mit Amerika

2030 will die Türkei den eigens produzierten Tarnkappen-Kampfjet vom Typ „Kaan“ einsatzbereit haben, der die F16 ablösen soll. Die Frage nach Kampfjetlieferungen hatte vor wenigen Jahren die diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und den USA in eine schwere Krise gestürzt. Die Türkei war an der Entwicklung des neuen Lockheed-Martin-Kampfjets vom Typ F35 maßgeblich beteiligt und investierte zwei Mrd. Dollar in das Projekt, wurde jedoch nach dem Kauf des russischen S-400-Luftabwehrsystems ausgeschlossen.

Die Türkei verwies auf bestehende Verträge und bestand auf die Rückerstattung der zwei Mrd. Dollar. Washington winkte ab und bot lediglich eine Modernisierung der bestehenden F16 an. Für die Türkei war dies ein schwerer Schlag, hatte sie doch 116 Kampfjets bestellt. Die Türkei hätte damit die modernste Luftflotte in der NATO-Allianz befehligt. Nun werden die F-35 an Griechenland und Israel verkauft, was großes Konfliktpotenzial birgt.

Maritime Ambitionen

Die Türkei rüstet nicht nur bei den Luft- und Landstreitkräften auf, sondern verfolgt auch mit der Doktrin „Mavi Vatan“ oder „Blaue Heimat“ eine Eindämmung des griechischen Einflusses im östlichen Mittelmeer mit einer modernisierten Flotte. Griechenland hatte mehrfach angekündigt, seine Wirtschaftszone im Mittelmeer von ursprünglich 6 Meilen auf 12 Meilen gemäß der internationalen Seerechts-Konvention von 1982 zu vergrößern, womit diese theoretisch bis an die Küste der Türkei reichen würde. Die Türkei verwehrt sich natürlich gegen diese Ausweitung.

Eine Militärdrohne steht auf der Startbahn des türkischen Flugzeugträgers TCG Anadolu.
Eine der berüchtigten Bayraktar-Drohnen an Deck des weltweit ersten Flugzeugträgers für unbemannte Luftfahrzeuge TCG Anadolu. © Getty Images

Ankara hat nun mit der TCG-Anadolu den weltweit ersten Flugzeugträger für unbemannte Luftfahrzeuge in Dienst gestellt, der zugleich der Türkei offiziell den Status als Seemacht bei den Vereinten Nationen verschaffte. Russland verlor diesen Titel zuvor, da der einzige Flugzeugträger Kusnezow außer Betrieb genommen werden musste. Die türkische Marine hat mit der TCG-Anadolu ein Flaggschiff erhalten, das nicht nur zum Aushängeschild der neuen Doktrin der „Blauen Heimat“ avancierte, sondern auch als Vorbote einer erhöhten türkischen Präsenz im Mittelmeer, Schwarzen Meer bis hin zum Roten Meer und am Horn von Afrika zu sehen ist.

III. Baustelle: Mega-Projekte geplant

Präsident Erdoğan ist für große Infrastrukturprojekte bekannt. Der nach fünf Jahren Bauzeit im Jahr 2019 eröffnete Flughafen Istanbul war mit 64 Millionen Passagieren im Vorjahr Spitzenreiter in ganz Europa. Der Flughafen Istanbul ist nicht nur der größte Flughafen Europas, sondern belegt aktuell Platz sieben in der Weltrangliste. Angestrebtes Ziel von Präsident Erdoğan in seiner Jahrhundertvision ist, dass die Zahl der Passagiere binnen fünf Jahren bis zu 200 Millionen wächst. Istanbul soll damit zum weltweit größten Drehkreuz der Luftfahrt werden.

Die staatliche Fluggesellschaft Turkish Airlines fliegt derzeit 122 Länder mit 304 Destinationen an und nahm im März 2023 ihr 400. Flugzeug in die Luftflotte auf. Das weltumspannende Netz von Turkish Airlines ermöglicht es der Türkei nicht nur im Tourismusbereich oder der Luftfracht neue Wege zu beschreiten, sondern ist ein wichtiges Instrument für den politisch forcierten kulturellen Einfluss Ankaras: Die Türkei konnte so ihre Verbindungen zu den ehemaligen Territorien des Osmanischen Reiches auf dem Balkan und Afrika sowie zur islamischen Welt auf dem asiatischen Kontinent intensivieren und somit ihre Präsenz erhöhen. Vor allem in diesen Regionen der Erde konnte die Türkei unter Präsident Erdoğan ihre historische Rolle als osmanische Ordnungshüterin und die Erinnerungen an das letzte osmanische Kalifat wiederbeleben.

Sündteurer Kanal

Die Jahrhundertvision von Präsident Erdoğan schließt auch den umstrittenen „Kanal Istanbul“ ein, der als neue Wasserstraße den Bosporus entlasten und den Schiffsverkehr zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer neu ordnen soll. Es gilt als Prestigeprojekt des türkischen Präsidenten, dessen Kosten sich bereits jetzt auf 20 Mrd. Dollar belaufen sollen. Die künstliche Wasserstraße soll 45 Kilometer lang, 275 Meter breit und 20 Meter tief werden und von Karaburun am Schwarzen Meer nach Küçükçekmece am Marmarameer führen. 160 Schiffspassagen sollen eine Entlastung für den Bosporus erbringen.

Kritiker warnen bereits jetzt vor den Folgen für die Umwelt und weisen auf die Erdbebengefahr hin, die dieses Gebiet aufweist. Die geplante Wasserstraße könnte auch eine neue diplomatische Krise entfachen, da diese nicht dem Vertrag von Montreux aus dem Jahr 1936 unterliegen würde. Der Vertrag garantiert der Türkei die Souveränität über den Bosporus, das Marmarameer und die Dardanellen, die das Osmanische Reich mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg verloren hatte. Handelsschiffen ist in Friedenszeiten die freie Durchfahrt vertraglich garantiert, jedoch gelten für Kriegsschiffe gesonderte Bestimmungen. Während die AKP-Regierung keine Gefahr für den Montreux-Vertrag sieht, befürchten Kritiker den Ausbruch einer internationalen Krise. Die Fertigstellung des Kanals ist für 2027 geplant und soll auch Trabantenstädte für über 500.000 Menschen vorsehen.

IV. Baustelle: Versöhnung mit dem Westen

Das neue Kabinett von Präsident Erdoğan weist mit der Wahl des Geheimdienstchefs Hakan Fidan als neuen Außenminister und Mehmet Şimşek als Finanzminister mehrere Transatlantiker auf, die mehr auf Entspannung statt Eskalation setzen. Mittlerweile hat die Türkei auch dem Beitritt Schwedens zur NATO zugestimmt, den sie zuvor als einziger Bündnispartner blockiert hatte.

Die Türkei lässt sich die Zustimmung zu den Nato-Mitgliedschaften teuer bezahlen.

Die Forderungen der Türkei, die sich von der Auslieferung von Terroristen über ein Ende des Waffenembargos bis hin zur erneuten Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen erstrecken, verschleierten die wahre Natur des Problems: Präsident Erdoğan führte im Hintergrund einen Machtkampf mit den USA um die F35-Kampfjets und nutzte dafür das Veto-Instrument der Nato-Charta.

Die Maximalforderungen wurden nicht erreicht, jedoch hat die Türkei wichtige sicherheitspolitische Forderungen durchsetzen können. Nach Finnland und Schweden, erklärte Präsident Erdoğan einen NATO-Beitritt der Ukraine nach Beendigung des Krieges zu unterstützen. Die Türkei lässt sich die Zustimmung zu den Nato-Mitgliedschaften teuer bezahlen, um ihre nationalen Interessen und Ziele durchzusetzen.

Zusammenarbeit mit Russland

Die Türkei ist auf Revanche bedacht. Revanche für eine westliche Diplomatie der letzten 150 Jahre, die im 19. Jahrhundert einen wesentlichen Anteil an der Destabilisierung und am Untergang des Osmanischen Reiches hatte und im 20. Jahrhundert die Militärputsche der Republik entweder zur Kenntnis nahm oder sie politisch billigte.

Der Putschversuch der Wagner-Gruppe in Russland hat zugleich die Schwäche des Systems Putin aufgezeigt. Dadurch verspricht sich die Türkei größeren Gestaltungsspielraum auch hin zum Westen. Dies und die Heimkehr ukrainischer Offiziere über die Türkei in die Ukraine zeugen von neuen Grenzverschiebungen in den russisch-türkischen Beziehungen. Diese werden nicht zu einem Abbruch führen, da beide auf konstruktive Zusammenarbeit setzen, trotz politischer Dissonanzen.

Angespannte Flüchtlingspolitik

Trotz der hohen Anspannungen in der türkischen Bevölkerung setzt Präsident Erdoğan seinen offenen Flüchtlingskurs weiter fort. Während die Opposition im Wahlkampf noch die Rückführung von 3,6 Mio. Syrern anstrebte, lehnte der türkische Präsident dies ab. Er verwies aber auf die Wiederaufnahme von Gesprächen mit dem Assad-Regime und einer sicheren Zone für über 500.000 Flüchtlinge im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien.

Die schwierige Wirtschaftslage der Türkei wird jedoch neue Spannungen mit der Europäischen Union hervorrufen. Ankara wird höhere Zahlungen für die Flüchtlingsunterbringung einfordern. Die Türkei strebt eine neue geopolitische Rolle an. Die nächsten Monate werden darüber entscheiden, ob sie mit einer Korrektur ihres Wirtschaftskurses ihre Ziele weiterverfolgen kann oder scheitern wird. Aber ein Scheitern würde die Ambitionen der neuen Türkei nicht schmälern, sondern nur zu neuen Wegen verleiten, ihre Ziele zu realisieren.

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Conclusio

Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat nach seiner Wiederwahl das „türkische 21. Jahrhundert“ eingeläutet. Er hat große Ambitionen für Wirtschaft, Militärmacht, Infrastruktur und in den außenpolitischen Beziehungen. Die größte offene Baustelle ist die marode Wirtschaft, die im Widerspruch zu der erträumten geopolitischen Machtrolle Ankaras steht.

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