Eine Wirtschaft im Sinkflug

Extreme Inflation, Lira ohne Wert: Der zunehmend autoritäre Führungsstil Erdogans und seine erratische Geldpolitik haben der türkischen Wirtschaft zugesetzt.

Wirtschaft in der Türkei: Brücke über den Bosporus in Istanbul bei Nacht
Die Wirtschaftsmetropole Istanbul schläft nie, doch die türkische Wirtschaft ist in einer Abwärtsspirale. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Schönheitsfehler. Die türkische Wirtschaft hing am globalen Geldhahn, als dieser versiegte, ging es bergab.
  • Abwärtsspirale. Die schwache Lira bedeutet hohe Inflation – irgendwann wird die Notenbank mit Zinserhöhungen reagieren und die Zinsschraube anziehen müssen.
  • Gegenlenken. Statt Druck auf die Notenbank auszuüben, müsste Ankara es zulassen, dass die Geldpolitik die Inflation stärker eindämmt.
  • Verbunden. Die Türkei war lange Teil der westlichen Allianz, Europa sollte diese Bande wieder stärken, das würde auch die Wirtschaft vor Ort wieder stabilisieren.

Die Türkei war unter den Schwellenländern einst der Darling der Investoren. Anders als China oder Indien war das Land am Bosporus als Nato-Mitglied und Aufnahmekandidat für die Europäische Union klar westlich orientiert. Die stets konservative und sparsame Finanzpolitik der Regierungspartei AKP gefiel ausländischen Banken, Portfolio Managern und Rating Agenturen. Außerdem zeugten der substanzielle Finanzsektor, der starke Tourismus und eine aufstrebende Industrie wie im Automobilsektor von einer vielfältigen Volkswirtschaft, die nicht so abhängig von Rohstoffmärkten war wie Russland, Brasilien oder Südafrika.

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Anfang des neuen Jahrtausends, nach der weltweiten Erholung von den Folgen des Dotcom-Crashs an der US-Techbörse, floss großzügig Kapital aus dem Ausland in die Türkei. Die Wirtschaft wuchs robust, zwischen 2002 und 2007 stieg das Bruttoinlandsprodukt jedes Jahr im Schnitt um gut sieben Prozent. Die Expansion in dieser Periode war nicht nur stark, sondern auch stabil, nie fiel das Wachstum unter die Fünf-Prozent-Marke.

Boom mit heißem Geld

Der Türkei-Boom hatte jedoch einen Schönheitsfehler: die Volkswirtschaft war und ist zu abhängig von sogenanntem „Hot Money“ aus dem Ausland. Damit sind Investitionen gemeint, die nicht etwa in die Errichtung einer neuen Fabrik oder zur Übernahme eines Unternehmens dienen. Vielmehr geht es um Aktien oder Kredite mit kurzer Laufzeit in ausländischer Währung. So schnell diese Gelder in eine Volkswirtschaft herein fließen, so schnell fließen sie auch ab.

Neben der Anfälligkeit für globale Schocks hat der türkischen Wirtschaft auch der politische Schwenk zugesetzt. Die Proteste im Gezipark 2013 oder das Ende des Waffenstillstands mit den Kurden sind eine Begleiterscheinung davon, dass die Regierung autoritärer wird und sich vom Westen abwendet. Allen voran hat der Putschversuch gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan die einst international hochgehaltene politische Stabilität unterwandert. Gleichzeitig steigt der Druck der Regierung auf Institutionen, unter anderem die formal unabhängige Notenbank. All das hemmt internationale Investoren.

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Zahlen & Fakten

Geplatzter EU-Traum

Einschneidend war, dass in den Jahren vor der Krise 2008 die Hoffnung auf eine EU-Mitgliedschaft der Türkei endgültig erlosch. Das hat dem Reformwillen im Inland einen Dämpfer verpasst. Noch wichtiger waren die politischen Spannungen mit dem Nato-Partner USA. Erdogan ging nach dem gescheiterten Staatsstreich 2016 unter anderem gegen amerikanische Bürger vor, die er mit den Putschisten in Verbindung brachte.

Anders als Europa hält Washington gegenüber Ankara alle Karten in der Hand. Die Abhängigkeit der türkischen Wirtschaft vom Dollar ist massiv; Druckmittel Ankaras, wie der Transit von Migranten, betreffen Amerika nicht. Dementsprechend unvorhersehbar war eine mögliche Eskalation des Streits unter dem damaligen US-Präsident Donald Trump. Die Inhaftierung eines amerikanischen Pastors in der Türkei in den Jahren 2016 bis 2018 war besonders schädlich. Nichts beunruhigte Investoren so sehr wie US-Sanktionen gegen die Türkei.

Wirtschaft in der Abwärtsspirale

Weil die türkische Wirtschaft immer schwieriger an kurzfristige Finanzierung aus dem Ausland kam, forcierte die Regierung nationale Kreditvergabe. Präsident Erdogan will, dass die Notenbank die Zinsen niedrig hält. Wer sich in Lira verschuldet, soll dies möglichst günstig tun können. Damit will die Regierung die Konjunktur ankurbeln und Arbeitsplätze für die junge Bevölkerung schaffen. Diese Politik schadet jedoch dem Wert der Währung.

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Zahlen & Fakten

Die türkische Lira ist in den vergangenen Jahren gegen den Dollar fast kontinuierlich billiger geworden. Um eine Lira erhielt man im Sommer 2008 noch 90 Cent, heute sind es rund zehn Cent. Selbst bei einem konstanten Dollarpreis für Erdöl und Gas müssen die türkischen Konsumenten und Firmen heute das Neunfache für Energie bezahlen als vor der globalen Finanzkrise.

Spätestens seit 2018 steckt die Türkei in einer Abwärtsspirale: Eine schwache Lira bedeutet hohe Inflation. Irgendwann muss die Notenbank darauf reagieren, zieht die Zinsschraube an und das Land erleidet einen Wachstumseinbruch. Beunruhigend ist, dass sich Frequenz dieser Schleife erhöht hat, die Abstände zwischen den Krisen wird immer kürzer.

Die türkische Wirtschaft braucht nicht nur US-Dollar, sondern Kapital und Importe aus Europa.

Zwischen 2009 und 2020 wuchs die Wirtschaftsleistung im Schnitt um 4,6 Prozent, Tendenz fallend: In den vergangen drei Jahren stieg das BIP durchschnittlich um weniger als zwei Prozent. Das ist für einen Industriestaat nicht berauschend, für ein Schwellenland wie die Türkei, wo allein das Bevölkerungswachstum ein Wachstum von etwa zwei Prozent fast garantiert, ist es desaströs.

Horrende Inflation

Damit die Wirtschaft aus der Abwärtsspirale kommt, müsste die türkische Politik eine Bewährungsprobe eingehen. Statt Druck auf die Notenbank auszuüben, die Zinsen niedrig zu halten, müsste Ankara es zulassen, dass die Geldpolitik die Inflation stärker eindämmt. In den vergangenen drei Jahren lag die Teuerung fast immer über zehn Prozent. Zuletzt kletterte die Inflationsrate auf knappe 20 Prozent. Das schreckt nicht nur ausländische Investoren ab, es verunsichert auch die Konsumenten und Unternehmer in der Türkei.

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Zahlen & Fakten

Stabile, relativ niedrige Inflation wäre ein würdiges Ziel für die Wirtschaftspolitik Ankaras. Die Notenbank hat derzeit als offizielle Zielvorgabe eine Inflation von fünf Prozent. Das ist nicht realistisch, aber eine Annäherung daran müsste ein erster Schritt sein. Mit der Zeit wäre das Wachstum nicht mehr so von ausländischen Geldern abhängig. Sobald die Türkei die Schleife der Instabilität verlässt, kämen all die erwähnten Stärken des Standorts zu tragen: eine diverse Volkswirtschaft deren junge Bevölkerung in den Startlöchern steht.

Die Kehrseite einer restriktiven Geldpolitik wäre, dass das aktuell kreditfinanzierte Wachstum gedrosselt wird. Was langfristig dem Land gut täte, verursacht kurzfristig Kosten. Angesichts seiner bisherigen Politik ist ein Richtungswechsel unter Präsident Erdogan sehr unrealistisch. Doch jede andere Regierung täte sich schwer, das Wachstumsmodell eines ganzen Landes auszutauschen. Der politische Zyklus von rund fünf Jahren bietet eine zu kurze Perspektive für die Machthaber. Nur wenigen Ländern, darunter Südkorea und China, ist ein derartiger Wandel gelungen.

Alte Stärken abrufen

Ein positives und zugleich realistischeres Szenario für die Türkei wäre, sich zumindest rückzubesinnen auf die eigene Vergangenheit. Die Regierungspartei AKP hatte vor zwei Jahrzehnten mehr Pragmatismus. Die Signale aus Ankara waren eindeutig, Schlüsselpositionen waren meistens mit international anerkannten Leuten besetzt.

Die türkische Wirtschaft braucht nicht nur US-Dollar, sondern Kapital und Importe aus Europa. Die EU-27 ist für mehr als die Hälfte aller Auslandsinvestitionen in der Türkei verantwortlich. Umgekehrt braucht Europa die Türkei. Nicht nur in der Flüchtlingspolitik, die innerhalb der EU-Länder oft wahlentscheidend war, sind stabile Beziehungen zur Türkei essenziell. Das Land am Bosporus ist wahrlich die Brücke zwischen Ost und West.

Westliche Allianz

Es stimmt, dass die Türkei nie ein unkomplizierter Partner sein wird, vor allem mit der derzeitigen Regierung. Weitere Herausforderungen und Schwierigkeiten sind zu erwarten. Die EU und die Türkei sind jedoch aneinandergebunden. Was auch immer man von der derzeitigen Regierung in Ankara halten mag, ein völliger Zusammenbruch der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen wäre für beide Seiten katastrophal.

Die Türkei ist seit fast 70 Jahren Teil des westlichen Bündnisses. Eine tiefe ökonomische Integration Europas mit der Türkei ist für beide Seiten wichtig, nicht nur um mehr Wohlstand zu schaffen, sondern aus strategischer Überlegung: Angesichts der Instabilität im Nahen Osten und des wachsenden Wettbewerbs mit Russland und China liegt es im Interesse der EU und der USA, die Türkei als Verbündeten zu halten. Wir schreiten in eine bipolare Welt mit den USA und China als rivalisierende Supermächte. In dieser Welt sollte die Türkei nicht die Seiten wechseln.

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Conclusio

Die türkische Wirtschaft leidet unter dem erratischen und zunehmend autoritären Führungsstil von Präsident Erdogan. Seit mindestens drei Jahren befindet sich das Land in einer Abwärtsspirale: Die Regierung heizt über niedrige Zinsen die Konjunktur an, bis die Notenbank angesichts extremer Inflation und fallender Landeswährung die Notbremse ziehen muss. Das enorme Potenzial des Landes, seiner Unternehmer und Dienstleister, bleibt konstant unter den Möglichkeiten. Eine junge Bevölkerung steht in den Startlöchern. Ohne Zukunftsaussichten verlassen Jugendliche in Scharen ihre Heimat Richtung Westen. Europa kritisiert zu Recht die Angriffe Erdogans auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Freiheit. Statt auf Konfrontation zu setzen, sollte Europa aber die langjährige Partnerschaft attraktiver machen.