Lasst uns doch streiten!
Tony Blair und Gerhard Schröder rückten den politischen Mainstream einst nach links. Doch spätestens seit Ausbruch der Flüchtlingskrise etablierte sich deutlich rechts davon eine zweite gesellschaftliche Mitte. Die beiden Lager bekämpfen einander mit harten Bandagen.

Es ist der 27. September 1998. In Deutschland finden Bundestagswahlen statt. Herausforderer des seit sechzehn Jahren regierenden Helmut Kohl (CDU) ist der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder (SPD). Schröder ist der Shootingstar der Partei, ein Liebling der Medien und der Boulevardpresse. Gekonnt inszeniert sich Schröder als Nonkonformist und Pragmatiker, dem jedes ideologische Denken fremd ist. Die beauftragte Werbeagentur KNSK setzt Schröder wie einen Popstar in Szene: cool, modern, zeitgemäß. Das Wahlkampfmotto, das Wähler unterschiedlichster Lager und Milieus ansprechen soll, lautet: „Die neue Mitte“. Schröder gewinnt die Wahl mit heute unvorstellbaren 40,9 Prozent.
Schröders Anleihe bei Tony Blair
Erfunden hat die neue Mitte weder Gerd Schröder noch die damalige Wahlkampfzentrale der SPD, die legendäre Kampa. Der Sache nach geht die Idee auf den Wahlkampf des Briten Tony Blair im Frühjahr 1997 zurück. Seit Blair im Sommer 1994 zum Vorsitzenden der britischen Labour-Partei gewählt worden war, reformierte der spätere Premierminister diese konsequent. Klassische sozialistische Forderungen nach Verstaatlichung von Schlüsselindustrien wurden aus den Parteistatuten gestrichen. Man rückte ab vom Ideal der Gleichheit und setzte stattdessen auf Fairness.
Blair prägte für dieses Programm zunächst das Label „New Labour“. Anknüpfend an Überlegungen des Soziologen Anthony Giddens, sprach er auch gern vom „dritten Weg“. Im Jahr 1999 legen Tony Blair und Gerhard Schröder ein gemeinsames Positionspapier vor. Titel: „The Third Way / Die neue Mitte“. Ziel des Papiers war eine Neuorientierung der europäischen Sozialdemokratie. Im Namen von Fairness, Freiheit und sozialer Verantwortung plädierten die Autoren für eine Reform der Sozialsysteme und eine Flexibilisierung der Arbeitsmärkte.
Nach dem vermeintlich endgültigen Triumph des Liberalismus mit dem Ende des Ost-West-Konflikts, angesichts von New Economy und Digitalisierung war das Konzept der neuen Mitte überaus attraktiv. Viele Menschen sahen in ihm den Ausdruck eines neuen Realismus, der die Gegebenheiten einer globalisierten Ökonomie mit individueller Emanzipation und dem Streben nach sozialer Gerechtigkeit verband. Nach Jahrzehnten schien die Sozialdemokratie wieder Avantgarde des Politischen zu sein.
Man muss sich die Situation der späten 1990er-Jahre vor Augen führen, um die Konflikte in den westlichen Gesellschaften der 2020er-Jahre zu verstehen: Faktisch verschob das Stichwort von der neuen Mitte das politische Spektrum nach links. Als politische Mitte galten nun nicht mehr traditionelle konservativ-kleinbürgerliche Positionen, sondern eine linksliberale Programmatik. Denn Blairs und Schröders Reformen beschränkten sich nicht auf wirtschaftspolitische Fragen, sondern umfassten zugleich eine massive gesellschaftspolitische Liberalisierung.
Linke Ideen rückten in den Mainstream
Konservative Positionen, die noch in den 1980er-Jahren selbstverständlicher Teil des Meinungsspektrums und der alltäglichen politischen Debatte gewesen waren, wurden zunehmend delegitimiert. Zugleich rückten weit links verortete Ideen aus akademischen Submilieus – die Genderideologie ist dafür ein gutes Beispiel – deutlich näher an den politischen Mainstream heran und galten fortan als salonfähig. Beide Effekte – die Delegitimierung der Rechten und die Etablierung der Linken – hatten zur Folge, dass die neue Mitte zum Sehnsuchtsort aller Parteistrategen wurde. Konservative wollten hier der zunehmenden Stigmatisierung rechter Positionen entgehen und übernahmen vermehrt linksliberale Inhalte. Und Linke waren bemüht, ihre politischen Ideen zur neuen Normalität zu erklären und so die Deutungshoheit über die Gesamtgesellschaft zu erlangen.
Die neue Mitte wurde zum Sehnsuchtsort aller Parteistrategen.
Bis zur Gründung der AfD wurde dieser vermeintliche Mittekonsens zumindest in Deutschland nicht in Frage gestellt. Dem Land ging es scheinbar gut, Konflikte gab es vermeintlich keine, es schien ein linksliberaler Konsens zu herrschen, den insbesondere Kanzlerin Angela Merkel trefflich repräsentierte. Überall war nun neue Mitte.
Doch dieses Selbstbild nicht nur der deutschen, sondern vieler westlicher Gesellschaften – man denke nur an Bill Clinton in den USA – war ein Selbstbetrug. Denn zum einen war die sogenannte neue Mitte vor allem die Mitte des akademisch gebildeten Großstadtmilieus. Unter den Handwerkern und Facharbeitern, in den Kleinstädten und Dörfern dachte man anders. Zum anderen war es eine Illusion, anzunehmen, in zunehmend heterogener werdenden Gesellschaften eine Art gesellschaftspolitischen Grundkonsens formulieren zu können. Faktisch war die Idee der neuen Mitte, obwohl vermeintlich modern, ein Anachronismus.
Flüchtlingskrise sprengte die Mitte
Die Illusion der neuen Mitte zerbrach spätestens mit der Flüchtlingskrise ab 2015. Es wurde deutlich, dass allenfalls ein Drittel der Bevölkerung die Ideale dieser neuen Mitte teilte. Die neue Mitte markierte eben nicht die reale politische Mitte, sondern repräsentierte eine moderate Linke, die ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht hatte und sich statt der Befreiung des Proletariats nun dem Kampf für Diversität, Antirassismus und gegen den Klimawandel verschrieben hatte.
Der Widerstand gegen diese neue linke Mitte speiste sich aus sehr unterschiedlichen Lagern. Traditionelle Konservative etwa reagierten allergisch auf den Duktus, mit dem die Vertreter der neuen Mitte die klassischen Vorstellungen von Geschlecht und Ehe diskreditierten. Liberale kritisierten den autoritären und paternalistischen Stil, mit dem das sich als gesellschaftliche Mitte empfindende Milieu jeden Widerspruch zu diskreditieren suchte. Und traditionelle Linke sahen in der neuen Mitte vor allem die Ideologie der Vertreter einer akademisch verbildeten, wohlhabenden und global agierenden Elite.
Aus diesen mitunter sehr unterschiedlichen Milieus und Denktraditionen formierte sich in den 2010er-Jahren eine Reihe von Protestparteien in den westlichen Gesellschaften, etwa die Brexit-Partei UKIP, die Trumpianer innerhalb der US-Republikaner oder die deutsche AfD. Auch die FPÖ, wenngleich schon seit den späten 1980er-Jahren erfolgreich, speiste sich im Grunde aus dem Widerstand gegen die linksliberale Deutungshoheit. Auf eine einfache Formel gebracht, könnte man sagen, dass der sogenannte Populismus der Protest der alten Mitte gegen die neue Mitte ist.
Allerdings ist der Erfolg dieser populistischen Bewegungen ohne das Internet nicht denkbar. Erst die sozialen Netzwerke stellten die Infrastruktur zur Verfügung, mit deren Hilfe sich der Protest gegen die Ideologie der neuen Mitte formieren konnte. Befeuert wurde diese Entwicklung dadurch, dass sowohl die meisten öffentlich-rechtlichen Rundfunkgesellschaften Europas wie auch die etablierten privaten Medienhäuser ab den 1990er-Jahren zu weitgehend homogenen Sprachrohren des herrschenden Linksliberalismus mutierten. Traditionelle bürgerliche oder gar konservative Perspektiven wurden ausgeklammert, lächerlich gemacht oder aktiv bekämpft.
Soziale Medien als Widerstandsnest
Also wanderte der Widerspruch gegen die alles beherrschende neue Mitte in die sozialen Medien. In wenigen Jahren entstand ein Netzwerk aus größeren und kleineren Blogs, Podcasts und Videokanälen, in denen sich die Kritik an der linksliberalen Umformung der Gesellschaft artikulierte.
Zwei Lager scheinen sich unversöhnlich bis feindlich gegenüberzustehen.
Die etablierten Medienhäuser reagierten auf diese Attacke zumeist mit der Desavouierung der unliebsamen Konkurrenz, beschuldigten sie, Fake News zu verbreiten, Verschwörungstheorien anzuhängen oder rechte Narrative zu bedienen. Zu noch härteren Bandagen griff etwa die deutsche Politik, indem sie Meldestellen gegen Hass und Hetze etablierte, das Medienrecht verschärfte oder sogar den Verfassungsschutz in Stellung brachte.
Diese Maßnahmen riefen wiederum die Empörung der Betroffenen, aber auch vieler liberaler Beobachter hervor. Insbesondere in den letzten zwei Jahren drehte sich so diese Eskalationsschraube schneller und weiter. Fast täglich jagen vermeintliche Skandale von Hassrede oder Cancel Culture durchs Netz. Zwei Lager scheinen sich unversöhnlich bis feindlich gegenüberzustehen. Der Ton wird unaufhörlich schriller und aggressiver.
Verlässt man hingegen die digitale Welt und kehrt zurück in die Wirklichkeit, sieht die Sache häufig anders aus. Auf der Straße, beim Bäcker, im Supermarkt oder auf dem Straßenfest könnte man meinen, dass die Debatten über eine zunehmend polarisierte oder sich gar radikalisierende Gesellschaft an den Haaren herbeigezogen sind. An den Universitäten gibt es, wie schon immer, ein paar ideologische Amokläufer. Doch in der Fußgängerzone, in der Tram oder im Drogeriemarkt ist von einer Polarisierung der Gesellschaft wenig zu spüren. Ein reines Medienphänomen also?
Diversität bedeutet Konflikt
Dagegen sprechen Umfragen und Wahlergebnisse. Die westlichen Gesellschaften polarisieren sich tatsächlich. Das ist aber auch nicht verwunderlich. Denn Diversität bedeutet Konflikt. Es ist ein naiver Irrglaube, anzunehmen, man könne eine heterogene Gesellschaft haben, aber gleichzeitig einen Grundkonsens, der Konflikte gar nicht erst aufkommen lässt.

Dieser Grundkonsens bestand in den westlichen Gesellschaften bis etwa in die 1980er-Jahre hinein. Danach setzten infolge von Emanzipation, Individualismus und zunehmender Mobilität soziale und ökonomische Umformungsprozesse ein, die den kleinbürgerlich-konservativen Grundkonsens der Nachkriegsgesellschaften zerstörten. Es entstand eine Reihe von Subkulturen, die sich zwei Großmilieus zuordnen lassen, die der englische Publizist David Goodhart treffend als „Anywheres“ und
„Somewheres“ bezeichnet hat – also ein akademisches, linksliberales, polyglottes Neubürgertum einerseits und ein ortsverbundenes, traditionsorientiertes Kleinbürgertum andererseits. Beide Milieus haben sich zunehmend weniger zu sagen.
Hinzu kommt, dass nicht nur die westlichen Gesellschaften in einer tiefen Orientierungskrise stecken. Traditionelle Religiosität erreicht nur noch wenige Menschen. Alternative Spiritualitätsformen stiften nur mäßigen Ersatz. Die Großideologien des 20. Jahrhunderts haben ausgedient. Ersatzreligionen aller Art machen sich breit: Klimaretter, Veganer, Ernährungsgurus, Evangelikale, neukatholische Fundamentalisten, Salafisten, militante Tierschützer. Man könnte die Liste verlängern.
Der Konsens hat ausgedient
Offensichtlich besteht ein Bedürfnis nach einer neuen Orthodoxie. Der Liberalismus scheint zumindest Teilen der Bevölkerung zu wenig Halt zu geben. Man sucht nach einer neuen Radikalität, einer reinen Lehre – und wenn es eine Verschwörungstheorie ist. Widerspruch wird nicht geduldet. Der gesunde Menschenverstand hat ausgedient. Was noch vor fünfundzwanzig Jahren attraktiv erschien – Mitte zu sein –, wirkt fade und abgestanden. Woran man glaubt, ob an den baldigen Klimatod oder an QAnon, ist gleichgültig. Hauptsache, man kann an etwas glauben, das feste Normen in einer unübersichtlichen Welt bietet.
Wir sollten uns ehrlich machen: Die Konsensgesellschaft, von der nicht nur der Philosoph Jürgen Habermas einst träumte, hat ausgedient. Und das ist auch gut so. Denn der Zwang zum Konsens ist tatsächlich nichts anderes als autoritäres Denken im Gewand der Kommunikationsethik. In freien, individualistischen Gesellschaften wird der Streit die Regel sein. Auch der polemische Streit. Die technischen Möglichkeiten des Digitalzeitalters forcieren diese Grundanlage noch zusätzlich. Wer daher von weniger Polarisierung und Polemik fantasiert, träumt den feuchten Traum von einer totalitären Gesellschaft. Dann lieber Streit, Kontroverse und Zuspitzung.
Weiterführende Quellen:
The Third Way / Die neue Mitte (PDF)
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