Die Mitte unter Druck

Die Europawahlen im Juni haben gezeigt, dass Parteien an den politischen Rändern gestärkt wurden. Diese Dynamik bringt die politische Mitte unter Druck.

Ein Schild auf einem Gehweg mit der Aufschrift "Europawahl 2024" vor dem Gebäude des EU-Parlaments in Brüssel. Das Bild illustriert einen Kommentar darüber, dass die politische Mitte unter Druck gerät.
Die Ergebnisse der Europawahlen im Juni zeigten einen deutlichen Aufschwung für Parteien am linken und rechten Rand. © Getty Images

Das Ergebnis der Europawahlen im Juni ist ein hervorragender Gradmesser für den Wandel der politischen Landschaft in Europa. In der medialen Berichterstattung dominiert der Zugewinn der europäischen Rechten. Dieser Umstand verkennt jedoch, wie sich die politischen Kräfte auf dem Kontinent verändert haben und weiter entwickeln werden.

Die wichtigste Erkenntnis aus der Europawahl ist, dass die traditionellen Grenzen zwischen links und rechts verschwimmen und sich eine grundlegend neue Ordnung abzeichnet.

Ein-Themen-Politik

Diese neue Ordnung zeichnet sich dadurch aus, dass Ideologien, die das alte politische System prägten, durch Aktivismus für einzelne Themen in Frage gestellt werden. Während die Parteien in der alten Ordnung rational über Kosten und Nutzen von Anliegen verhandeln konnten, ist das beim Ein-Themen-Aktivismus anders. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass ein einziges Anliegen zum Nachteil aller anderen Themen in den Mittelpunkt gerückt wird und dass jegliche Einwände abgewürgt werden. Ein Beispiel dafür ist die Wahl von Klimaaktivisten in das Europäische Parlament.

Das Erstarken von Randparteien ist der Tatsache geschuldet, dass die traditionellen Parteien ihren Wählern nicht das geboten haben, was sie wollen. Bezeichnenderweise haben sich einige der neuen Parteien um charismatische Führer mit unscharfen politischen Programmen gebildet, von Silvio Berlusconis Forza Italia bis zu Emmanuel Macrons En Marche.

Einige Wähler haben professionelle Komiker wie Beppe Grillo und seine Fünf-Sterne-Bewegung bevorzugt. Der Start der deutschen Sahra Wagenknecht-Allianz im Januar 2024 zeigt, wie langjährige Ikonen der Linken nationalistische und linke Rhetorik kombinieren können, um zu reüssieren.

Werte und Polarisierung

Ein genauer Blick auf die europäische Politik zeigt, dass der Niedergang der traditionellen Aufteilung in links und rechts, durch eine Konfrontation zwischen zwei sehr unterschiedlichen Wertesystemen angetrieben wird. Während die eine Seite nach wie vor traditionellen oder familiären Werten verpflichtet ist, wird die andere Seite durch das Aufkommen von Werten der Selbstverwirklichung angetrieben. Letzteres ergibt sich aus der Situation, dass viele junge Menschen, die bereits wirtschaftliche Sicherheit und soziales Ansehen erlangt haben, die Religion verachten und sich stattdessen für Themen engagieren, die ihnen einen vermeintlichen Sinn im Leben geben.

Der Aktivismus für einzelne Themen kann zur Bildung neuer Parteien führen.

Das ist ein wichtiger Grund, warum sich viele junge wohlhabende Städter verschiedenen grünen Anliegen verschrieben haben. Es ist besonders paradox, dass sie sich Aktivisten anschließen, die eine starke Abneigung gegen das kapitalistische System hegen. Denn genau dieses System verschafft diesen Personen die wirtschaftliche Sicherheit, um sich für grüne Themen einzusetzen.

Unweigerlich kommt es daher zu Gegenreaktionen von Menschen, die noch an traditionellen Werten festhalten. Dies führt nicht nur zu schwerwiegenden Konflikten im politischen Alltag, sondern treibt auch einen Keil zwischen die Länder im westlichen und östlichen Teil Europas. In Fällen, in denen es wenig Spielraum für Kompromisse gibt, wie z. B. beim Abtreibungsrecht, können die Konfrontationen sehr unangenehm werden.

Die zunehmende Polarisierung in den Vereinigten Staaten zeigt, wie sich die wertebasierte Mobilisierung in einen „Stammeskrieg“ zwischen „Woke“ gegen „MAGA“ entwickelt hat. Dabei bleiben aber zahlreiche wichtige Themen auf der Strecke, da das amerikanische politische System so strukturiert ist, dass es für eine dritte Partei nahezu unmöglich ist, in den Kongress einzuziehen. Aus diesem Grund werden Auseinandersetzungen innerhalb der beiden traditionellen Parteien ausgetragen. In Europa ist das anders, denn die politischen Systeme sind in der Regel offen für die Gründung neuer Parteien.

Die größte europäische Parallele zu den USA ist das Vereinigte Königreich, wo ebenfalls zwei Parteien durch das Mehrheitswahlrecht in den Wahlkreisen begünstigt werden. Obwohl es für dritte Parteien im Vereinigten Königreich schwer war eine Vertretung zu gewinnen, zeigen die Liberaldemokraten, dass es nicht unmöglich ist.

Aber der immer wiederkehrende Nigel Farage - der jetzt behauptet, der Westen habe Russland zum Einmarsch in die Ukraine gezwungen - macht deutlich, wie anfällig das System ist. Seine entschlossene Haltung zum Brexit hat zu einer tiefgreifenden Verwirrung innerhalb der Konservativen Partei, des Vereinigten Königreichs und der EU geführt. Die Lehre daraus ist, dass der Aktivismus für ein einzelnes Thema zur Bildung neuer Parteien im gesamten politischen Spektrum führen kann.

Triebkräfte des Wandels

Die beiden wichtigsten Triebkräfte für den laufenden Wandel in der Politik sind zum einen die Migration und zum anderen der Klimawandel. Während das Migrations-Thema zur Bildung unabhängiger Randparteien geführt hat, wurden Randbewegungen rund um die Klimaaktivisten von traditionellen Parteien übernommen.

Was diese beiden Gruppen aber eint, ist die Tatsache, dass technisch verfügbare, praktische Lösungen für das Problem ihrer Wahl von Akteuren blockiert werden. Es besteht auch keinerlei Interesse an einem Kompromiss.

Obwohl die einwanderungsfeindliche Stimmung schon lange vor der Migrationskrise im Jahr 2014 latent vorhanden war, gab der Zustrom von 1,3 Millionen Migranten rechten Randgruppenparteien neuen Aufwind. Dies geschah in ganz Europa, von der Lega Nord in Italien, dem Front National in Frankreich über die Partei für die Freiheit in den Niederlanden bis hin zur Alternative für Deutschland (AfD) in Deutschland. Unvorbereitet gaben die traditionellen Parteien dem Druck der Asylaktivisten nach und schlossen sich der Diffamierung ihrer aufstrebenden Rivalen an. Die Reaktion ging nach hinten los und steigerte das Ansehen von Politikern wie Matteo Salvini, Marine Le Pen und Geert Wilders.

Die Debatte über den Klimawandel ist in ihrer Geschichte ähnlich gelagert. Einzelaktivisten traten in den Vordergrund, was dazu führte, dass die etablierten grünen Parteien von einer Vielzahl von Randorganisationen wie Extinction Rebellion, Fridays for Future und Just Stop Oil überflügelt wurden. Wie im Falle der Migrationskrise warfen die etablierten Parteien das Handtuch. Der Höhepunkt dieses grünen Aktivismus wurde erreicht, als die schwedische Teenager-Aktivistin Greta Thunberg eingeladen wurde, vor den Vereinten Nationen zu sprechen.

Was diese Entwicklungen so besorgniserregend macht, ist nicht nur die Tatsache, dass sie das traditionelle politische Geschäft beeinträchtigen, sondern auch, dass die Themen, die als Auslöser für die Konfrontation dienen, für die Zukunft Europas von zentraler Bedeutung sind. Langfristige Lösungen für eine Reihe von Problemen sind zwar theoretisch möglich, werden aber durch den Aktivismus zu einem einzigen Thema blockiert.

Der Zustrom von Migranten aus kulturell sehr unterschiedlichen Ländern nach Europa hat zu Integrationsproblemen geführt, denen die meisten europäischen Regierungen nicht gewachsen sind. Dies wiederum hat zur Entstehung von Parallelgesellschaften geführt und als Nährboden für radikale Islamisten dient.

Was Europa anders machen könnte

Es ist seit langem bekannt, dass Einwanderung mit Integration einhergehen muss, um für das Aufnahmeland von Vorteil zu sein. Zudem dürfen Migrationsströme nicht zu einer lukrativen und tödlichen Industrie des Menschenhandels führen. Die Hauptfolge des Asylaktivismus ist jedoch, dass diejenigen, die den gesunden Menschenverstand walten lassen, zum Schweigen gebracht wurden und Europa nun mit den beunruhigenden Folgen einer gescheiterten Integration konfrontiert ist. Das hat den Randgruppenparteien geholfen, die mit einwanderungsfeindlichen Agenden Wahlkampf machen.

Auch der Klimawandel findet statt, und es müssen Abhilfemaßnahmen ergriffen werden. Steigende Temperaturen und extreme Wetterereignisse verursachen Schäden, die von schweren Dürren bis hin zu katastrophalen Überschwemmungen in Gebieten reichen, in denen solche Wetterereignisse bisher nicht bekannt waren. Die Aussicht, dass weite Teile Afrikas unbewohnbar werden, weckt auch Visionen von einer millionenfachen Ankunft von Umweltflüchtlingen in Europa. Auch hier gibt es viel Verständnis dafür, was getan werden kann und muss, um die Überbeanspruchung fossiler Brennstoffe zu verringern.

Herausgefordert durch den heftigen Klimawandel-Aktivismus, hat der Mainstream dennoch Fortschritte bei der Entwicklung technologischer Lösungen für eine fossilfreie Zukunft gemacht. Der Aktivismus hat zur Folge, dass die Regierungen vor der Wahl stehen zwischen langfristigen Lösungen, die auf Märkten und Pragmatismus basieren, und dogmatischen, kurzfristigen Interventionen, die die Menschen zwingen sollen, ihr Leben zu ändern. Obwohl letztere nur eine marginale Wirkung haben können, führt der Zwang, „etwas zu tun“, zu einer Fehlallokation von Ressourcen.

Europas Osten

Der Ein-Themen-Aktivismus sorgt nicht nur in den westeuropäischen Ländern für Unruhe. Er führt auch zu Gegenreaktionen im östlichen Teil Europas, wo traditionelle Werte nach wie vor stark sind, und als Grundlage für politische Mobilisierung dienen. Ungarn ist ein gutes Beispiel dafür.

1988 gründete Viktor Orban die damalige Allianz der jungen Demokraten, eine liberale Aktivistenbewegung, die sich gegen die von Moskau kontrollierte kommunistische Regierung Ungarns wandte. Ihre Umwandlung in die heutige nationalkonservative Partei Fidesz wurde durch die Migrationskrise ab 2014 begünstigt, als Ungarn als einziges Land in Europa den Bau von Mauern befürwortete.

Parteien, die nur für ein einziges Thema gegründet wurden, sind anfällig für Vereinnahmung.

Asylaktivisten und Regierungen wie die der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel reagierten auf Ungarn mit Hohn und Spott. Heute erleben wir, wie sehr der Versuch, Ungarn zu ächten, nach hinten losgegangen ist. Orban hat nicht nur die Wählerschaft seines Landes mit Slogans gegen Einwanderung und LGBTQ-Rechte mobilisiert, auch seine zunehmend freundschaftlichen Beziehungen zu Russland und China verdeutlichen ein weiteres großes Problem in der neuen politischen Landschaft.

Parteien, die nur für ein einziges Thema gegründet wurden, werden anfällig für eine Vereinnahmung sowohl von innen (wenn neue Mitglieder eintreten, um ihre eigenen Anliegen zu fördern), als auch von außen (wenn ausländische Mächte die Außenseiter-Position ausnutzen). Der Kreml hat das getan, was er am besten kann: Er hat darauf gesetzt, (angeblich) Familienwerte zu vertreten und eine Alternative zur angeblichen Dekadenz des Westens zu sein. Bei seiner Mobilisierung gegen „Gayropa“ hat Russland innerhalb der EU-Staaten Unterstützung von Fidesz und von der deutschen AfD sowie anderen Randparteien gewonnen. Die Anzeichen zeigen, dass sie von Russland vereinnahmt werden.

Mitte unter Druck

Jedoch ist es kurzsichtig, die gegenwärtigen Trends als unumstößlich zu betrachten und daraus zu folgern, dass die europäische Mitte zusammenbricht. Eine rechtsextreme Koalition kann dennoch fruchtbarer Boden für russische Einflussnahme sein. Aber so muss das nicht enden.

Im Vorfeld der Europawahlen richtete Marine Le Pen einen Appell an die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, sich an der Bildung einer rechts-außen Fraktion zu beteiligen. Dieser Appell wurde von Frau Meloni, die sich zaghaft in Richtung Mitte-Rechts bewegte, weitgehend ignoriert. Der Aufruf von Frau Le Pen fand jedoch die Unterstützung von Herrn Orban, der das Ende der liberalen Ordnung voraussagt und sich als Schlüsselfigur in einer illiberalen Koalition sieht, zu der auch Wladimir Putin, Xi Jinping und Donald Trump gehören.

Pragmatismus

Die Gefahr, dass Europa durch einseitigen Extremismus von Moskau und Peking unterworfen wird, darf nicht unterschätzt werden. Viel Schaden ist bereits angerichtet. Der europäische Zusammenhalt wird sich nicht leicht wiederherstellen lassen, und die wachsende Bedrohung durch Russland - sowohl militärisch als auch auf dem Gebiet der Fehlinformation - ist ebenso klar wie bedrohlich.

Es gibt jedoch ein alternatives Szenario, in dem die traditionellen Parteien den Randgruppenparteien, die sich nur auf ein Thema konzentrieren, den Sauerstoff entziehen können.

Die Erfahrung zeigt, dass die Ächtung von Randparteien nicht die beste Antwort ist.

In den nordischen Ländern gibt es auch Randparteien: die Schwedendemokraten, die Wahren Finnen, die Dänische Volkspartei und in Norwegen die Fortschrittspartei. Der Hauptunterschied besteht darin, dass diese Parteien entweder in Koalitionsregierungen gewählt wurden oder sich mit der Regierung verbündet haben, was zur Folge hatte, dass sie entweder untergingen oder sich den Regeln anpassten. Diese Erfahrung deutet darauf hin, dass der Pragmatismus im Tauziehen gegen den extremen Aktivismus immer noch die Oberhand gewinnen kann. Aber auch, dass Parteien, die von den traditionellen Akteuren als „Randgruppen“ bezeichnet werden, ihre extremeren Positionen aufgeben, sobald sie an der Macht sind.

Im Vorfeld der Europawahlen erklärte die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen von den Sozialdemokraten, dass sie bereit sei, mit Ministerpräsidentin Meloni zu sprechen. Dabei führt Frau Meloni eine Partei (Fratelli d'Italia), die bis vor Kurzem von den europäischen Sozialdemokraten nicht mal mit einer Kneifzange angefasst wurde.

Die Aufnahme eines Dialogs zwischen diesen beiden Staats- und Regierungschefs würde einen Weg für konstruktive Diskussionen über sehr dringende Themen wie Migration und europäische Verteidigung eröffnen. Es würde auch - und das ist noch wichtiger - die Vorstellung entkräften, dass eine rechtsradikale Agenda in Europa unweigerlich die Oberhand gewinnen wird.

Randparteien sind nicht ohne Grund Randparteien, aber die Erfahrung zeigt, dass die Ächtung nicht unbedingt die beste Antwort ist.

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