Die Mär vom gesunden Essen
Warum falsches Essen so schädlich ist wie Zigaretten, Light-Produkte dick machen und die Mikrobiomforschung alles verändert: Der britische Ernährungsexperte Tim Spector kündigt eine Revolution in der Lebensmittelindustrie an.
Wissen, was dem Körper gut tut – das hat sich der britische Epidemiologe und Genetiker Tim Spector zur Aufgabe gemacht. In seinem neuen Buch „Die Wahrheit über unser Essen“ räumt der Spezialist für personalisierte Medizin und das Darmmikrobiom mit Mythen über gesunde Ernährung auf.
Mister Spector, Menschen sind Allesfresser. Ist das jetzt ein Fluch oder ein Segen?
Tim Spector: Es ist ein Geschenk der Evolution, würde ich sagen, denn es gibt der Spezies Mensch die Möglichkeit, an vielen Orten überleben zu können.
Das hat uns sehr erfolgreich gemacht. Aber nicht alles, was wir essen können, tut uns auch gut.
Grundsätzlich ist das schwer zu sagen, denn dazu fehlen noch valide wissenschaftliche Aussagen; genauso wie die Methodologie für Ernährungsstudien.
Was wäre denn dafür nötig?
Essen ist kein pharmazeutischer Wirkstoff, der sich in genau kontrollierten Studiensettings erforschen ließe. Denn Menschen essen mehrmals täglich und können zwischen vielen unterschiedlichen Dingen wählen. Wie Nahrungsmittel auf den Organismus wirken, ist nicht leicht zu ermitteln, weil man dafür eine eigene Methodologie, viele Probanden und Langzeitdaten braucht.
An den Universitäten gibt es aber doch die Ernährungswissenschaften …
Dieser Wissenschaftszweig hat aus meiner Sicht vollkommen versagt. Zum einen ist die Fachrichtung relativ jung, sie wurde erst in den 1950er-Jahren begründet. Das Fach war niemals gut finanziert und zog deshalb auch keine guten Wissenschaftler an. Es gab keine Gelder für große Studien, deshalb war die Forschung immer auch auf Aufträge der Industrie angewiesen. Dies wiederum wirkte sich auf die Ergebnisse von Studien aus. Fakt ist, dass wir rasant steigende Zahlen von Adipositas und Diabetes in der Gesellschaft haben. Das sind Erkrankungen, für die die Ernährungswissenschaften keine Erklärung und keine Lösung anbieten.
Wäre das nicht Aufgabe der Medizin?
Ernährung als Wissenschaft spielt auch im Medizinstudium keine Rolle. Sie existiert nicht. Studierende lernen mehr über Skorbut – einen Vitaminmangel, der wirklich selten geworden ist – als über krankhafte Fettsucht. Darin begründet sich auch das aktuelle Problem.
Wer dick ist, ist selbst schuld, und wer abnehmen will, soll weniger essen – so denken viele Mediziner.
Exakt, und das ist grundfalsch. Das Problem mit grassierendem Übergewicht lässt sich nicht auf den Lifestyle reduzieren. Adipositas existierte bis in die 1990er-Jahre praktisch nicht. Es gab zwar dicke Menschen, aber das krankhafte Übergewicht war etwas vollkommen Neues und kam aus den USA. Dort sinkt die Lebenserwartung gerade.
Und was ist die Erklärung dafür?
Das existierende Nahrungsangebot spielt hier eine Schlüsselrolle. Ich bin überzeugt, dass mit dem Aufkommen der Light-Produkte in den USA eine neue Ära begann. Im Kampf gegen das aufkommende Übergewicht war die Idee, dass weniger Fett in Lebensmitteln dazu führt, dass Menschen abnehmen. Abgesehen davon, dass das nicht stimmt, begann mit diesen Light-Produkten die massive Manipulation von Lebensmitteln, sozusagen das Zeitalter der industriell gefertigten Speisen. Bis dahin war deren Anzahl begrenzt gewesen, wahrscheinlich machten Cornflakes den Anfang. Doch nun wurde Nahrung in Komponenten zerlegt und im Baukastensystem neu zusammengesetzt.
Und was finden Sie bedenklich daran?
Zum einen, dass damit Nahrungsmittel auf den Markt kamen, die in der Natur so einfach nicht vorkommen. Die Kombination von Fett und Zucker zum Beispiel hat eine fast süchtig machende Wirkung. Zum anderen konnten Nahrungsmittel durch die industrielle Verarbeitung unendlich lange haltbar gemacht werden. Künstliche Zusatzstoffe, große Mengen Zucker und Aromaverstärker wurden salonfähig, ohne dass ihre Wirkung hinterfragt worden wäre. Es begann das Zeitalter von processed und ultra-processed food.
Im Deutschen nennt man sie verarbeitete und hoch verarbeitete Lebensmittel – oder auch Fertiggerichte.
Neue Studien zeigen, dass frisches Essen im Vergleich zu hoch verarbeiteten Lebensmitteln vollkommen anders auf den Körper wirkt. Letztere erzeugen mehr Zuckerspitzen im Blut, verändern das Mikrobiom, also die Zusammensetzung der verschiedenen Darmbakterien. Auch das Hungergefühl kommt schneller wieder zurück.
Trotzdem haben sich industrialisierte Lebensmittel durchgesetzt.
Genau, die Akzeptanz dieser Lebensmittel veränderte alles. Durch die Möglichkeit, Essen sehr lange haltbar zu machen, begann eine Globalisierung in der Nahrungsmittelindustrie. Es entstanden globale Player. Rund um den Globus gibt es nun die gleichen Produkte. Eine Folge davon war, dass lokale kleine und mittlere Betriebe, die bis dahin Lebensmittel erzeugt hatten, verschwanden. Zusätzlich waren die Hersteller bestrebt, Nahrungsmittel immer kostengünstiger zu produzieren – deshalb wurde etwa auch immer mehr Palmöl verwendet. Flankierend wurden große Kampagnen gefahren, um zucker- und fettreiche Fertigprodukte zu bewerben. Das hat funktioniert, die Marktanteile stiegen. Leider auch die Anzahl der Übergewichtigen.
Künstliche Zusatzstoffe, große Mengen Zucker und Aromaverstärker wurden salonfähig, ohne dass ihre Wirkung hinterfragt worden wäre.
Aber es wurden ja nicht alle dick?
Weil der Metabolismus von Menschen unterschiedlich ist. Unsere Hypothese ist, dass die künstlichen Zusatzstoffe, die für den Geschmack von lange haltbaren Lebensmitteln notwendig sind, wichtige Darmkeime angreifen. Durch die neuen genetischen Typisierungsmethoden können wir das jetzt ermitteln. So konnten wir die wichtige Rolle des Darmkeims Blastocystis identifizieren. Er existiert unter Ausschluss von Sauerstoff im Darm und spielt eine tragende Rolle bei der Gewichtsregulierung. Unsere statistischen Untersuchungen zeigen, dass er im Mikrobiom der Amerikaner um fünfmal weniger häufig zu finden ist als in Großbritannien. Ich glaube, dass wir in fünf Jahren ein vollkommen neues Verständnis von Ernährung haben werden.
Dazu gehört auch, veraltete Mythen über Bord zu werfen wie „Nie ohne Frühstück aus dem Haus gehen“.
Viele falsche Glaubenssätze zum Thema Essen stammen aus einer Zeit des Mangels. In den 1930er-Jahren herrschte Hunger, Frühstücken war wichtig, weil man unter Umständen tagsüber nichts mehr zu essen bekam. Doch das gilt in der Überflussgesellschaft nicht mehr. Auch der Mythos, dass es gut sei, mehrmals am Tag kleine Mahlzeiten zu sich nehmen! Dieses Snacking ist ein Konzept, das evolutionär nicht existiert. Doch auf solchen Mythen bauen nicht nur sehr viele Ernährungsempfehlungen, sondern auch Werbekampagnen auf. Das hat uns in ein Schlamassel gebracht. Weder die Ernährungswissenschaften noch die Politik haben uns davor bewahrt.
Was sollte passieren?
Das Know-how darüber, wie ungesund Fertiggerichte sind, muss steigen, dafür sollten falsche Ernährungsweisheiten fallen, wie etwa dass Salz oder Koffein prinzipiell schädlich sind, literweise Wasser zu trinken gesund hält und Vitaminpräparate eine gute Sache sind. Die Mikrobiomforschung wird zu einem Umdenken in sehr vielen Bereichen führen.
Eine Ernährungsrevolution?
Die Lebensmittelindustrie ist heute an einem Punkt, wo die Tabakindustrie in den 1970er-Jahren war. Rauchen galt damals nicht als schädlich, obwohl es sehr wohl erste eindeutige Daten dazu gab. Es hat dann noch 20 Jahre gedauert, bis ein breiter Konsens über die Schädlichkeit hergestellt werden konnte, der auch von der Bevölkerung aufgenommen wurde. Diese Entwicklung hat die Nahrungsmittelbranche vor sich.
Wie wird das ablaufen?
Ich bin sicher, dass die Ergebnisse der neuen Mikrobiomstudien von den Nahrungsmittelherstellern erst einmal angezweifelt werden. Die Industrie ist gut vernetzt und hat viele Kontakte in die Politik. Dann wird das Argument kommen, dass die Wahl des Essens doch eine Frage der freien Konsumentscheidung ist. Irgendwann einmal wird es so wie seinerzeit bei den Zigaretten keine stichfesten Argumente für hoch verarbeitete Lebensmittel mehr geben. Entsprechend werden dann auch keine irreführenden Werbebotschaften mehr verbreitet werden dürfen, weil sie gesundheitsschädlich sind.
Das reicht?
Nein. Im Kampf gegen das Übergewicht sollten auch die Kalorienangaben, die ich für unsinnig halte, verschwinden. Es ist eine Illusion, zu glauben, dass fettreduziertes Essen zu Gewichtsverlust führt. Die Leute essen dann einfach doppelt so viel. Ich fände es sinnvoll, wenn Lebensmittel nach dem Grad ihrer industriellen Verarbeitung gekennzeichnet würden. Damit werden Gesundheitsrisiken transparent. Die neuen Erkenntnisse in der Mikrobiomforschung über die Schädlichkeit von Zusatzstoffen sind extrem relevant für die Hersteller. Ich bin überzeugt, dass viele auch schon selbst daran forschen. Ich denke, die Lebensmittelindustrie sollte proaktiv auf die neuen Erkenntnisse reagieren und etwaigen gesetzlichen Verpflichtungen zuvorkommen.
Der Klimawandel wird neben den Faktoren Gesundheit und Tierwohl ein zusätzliches Entscheidungskriterium für Essen.
Was empfehlen Sie Konsumenten?
Ganz grundsätzlich den Werbebotschaften der Lebensmittelindustrie und den Herstellern von Nahrungsergänzungen oder Vitaminpräparaten zu misstrauen. Mein Rat: wieder echtes, frisch zubereitetes Essen essen, keine minderwertigen Lebensmittel verwenden und auf Qualität achten. Kurzum: wieder mehr kochen statt Fertiggerichte aufwärmen.
Was genau ist also gutes Essen?
Eines, das keine Zuckerspitzen im Blut auslöst, damit das Cortisol nicht zum Ansteigen bringt und folglich die Entzündungsneigung nicht erhöht. Damit sinkt auch das Erkrankungsrisiko.
Wie aber herausfinden, was einem individuell guttut?
Es wird noch eine Zeit dauern, aber ich bin mir sicher, dass es bald Methoden geben wird, die eine personalisierte Ernährung möglich machen. Daran arbeiten wir und nutzen dafür auch die neuen Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz.
Wie können Algorithmen helfen?
Zum einen benutzen wir neue Methoden der Datensammlung. In der Zoe-Predict-Studie ist es uns gelungen, die Daten von 30.000 Studienteilnehmenden durch neue Technologien zu ermitteln und vor allem auch auszuwerten. Aus der Genetik wissen wir, dass man große Datenmengen braucht, damit Algorithmen greifen. Wir haben Fragebögen entwickelt und sie sehr offen gestaltet. Dabei spielt vor allem das Wohlbefinden eine wichtige Rolle. Wir konnten die Studie in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichen, weil sie strengen wissenschaftlichen Kriterien entsprach. Es war die größte Studie dieser Art, weitere folgen.
Könnte der Klimawandel eine Veränderung in der Ernährung mit sich bringen?
Ja, vor allem beim Konsum von Fleisch- und Milchprodukten. Ich glaube, dass der Klimawandel vor allem für Jüngere eine wichtige Rolle spielen wird. Er wird neben den Faktoren Gesundheit und Tierwohl ein zusätzliches Entscheidungskriterium für Essen. Der Klimawandel ist sicherlich ein weiteres Argument für eine vermehrt vegetarische oder vegane Ernährung, außerdem gibt es immer mehr leistbare Fleischersatzprodukte.
… die ihrerseits jedoch wieder sehr stark industriell verarbeitet sind.
Das stimmt. Doch in einer Überflussgesellschaft wird es stets ein Abwägen zwischen persönlichen Geschmacksvorlieben und der eigenen Weltsicht sein. Ein Kobe-Beef wird immer besser schmecken als jede Fleischalternative. Für den CO2-Fußabdruck ist es jedoch katastrophal. Für alle, die vor allem gesund leben wollen, ist Gemüse tendenziell eine gute Wahl, vor allem im Vergleich zu Billigfleisch. Es könnte also ein Weg sein, selten sehr gutes Fleisch zu essen. Je informierter die Menschen sind, umso klarer können sie Entscheidungen nach persönlichen Prioritäten treffen. Mein Buch soll dabei eine Orientierungshilfe sein. Ernährung ist sehr komplex, es gibt viel zu lernen.
Die Lösung liegt auf dem Tisch
Was wird die Zukunft im Kampf gegen das Übergewicht bringen?
Es wird bahnbrechende Erkenntnisse geben. Wir haben gerade erst begonnen, die Funktion der Tausende von Darmbakterien zu verstehen, aber es ist jetzt schon klar, dass sich diese Bakterien sehr stark wechselseitig beeinflussen und es in der Zukunft Medikamente geben könnte, die von körpereigenen Bakterien selbst hergestellt werden. Unser Organismus verfügt über die Fähigkeit, chemische Stoffe zu produzieren. Sie sind Teil unserer Immunabwehr und erhalten den Organismus gesund. So könnten sie möglicherweise zu einer Bastion gegen alle Arten von Schadstoffen in der Nahrung werden. Mein Rat bis dahin: Lernen Sie kochen. Jeder sollte zumindest sechs verschiedene Gerichte selbst zubereiten können.