Unblutige Revolution aus der Petrischale

Es ist Fleisch ohne Tier, nicht geschlüpft, nicht geboren, nicht gemästet, gemacht aus Stammzellen, vermehrt im Bioreaktor. Keine Sojaplantagen, keine Entwaldung, kein Tierleid. Wird Laborfleisch die Lebensmittelindustrie umkrempeln?

Küken
Das erste zum Verkauf freigegebene Laborfleisch waren Chicken Nuggets. Ganz ohne echtes Hühnchen. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Was ist das? Laborfleisch ist Fleisch ohne Tier, das in großem Maßstab in einem Bioreaktor gezüchtet wird. Es wird auch In-Vitro-Fleisch genannt.
  • Wie funktioniert es? Einem Tier werden Stammzellen entnommen, die mit einer Nährlösung zur Teilung gebracht werden. Es entsteht echtes Fleisch, nur ohne Tier.
  • Wer macht das? Hersteller auf der ganzen Welt arbeiten an der Entwicklung, Vorreiter sind die USA und Israel. In Singapur gibt es Laborfleisch bereits zu kaufen.
  • Warum eigentlich? Die Versprechen sind groß: Laborfleisch soll klimafreundlich sein und dem Tierleid ein Ende setzen. Fleisch ohne schlechtes Gewissen also.

Im Dezember 2020 fand in einem Restaurant in Singapur der erste bezahlte Verzehr von so genanntem „gezüchtetem Fleisch“ statt (auch „In-Vitro-Fleisch“ oder „kultiviertes Fleisch“ genannt). Das Gericht des Tages – möglichst stilvoll servierte Chicken Nuggets – wurde aus Hühnerzellen gezüchtet, ohne dass dafür Hühner getötet werden mussten. Was seltsam klingt, ist ein gigantischer wissenschaftlicher Durchbruch. Denn an In-Vitro-Fleisch wird seit mittlerweile zirka 20 Jahren geforscht.

Die erste öffentliche Verkostung fand bereits 2013 statt, als eine Gruppe der Universität Maastricht einen Hamburger präsentierte, den zwei Personen verspeisten. Mit der wachsenden Zahl von Start-up-Unternehmen in dem Bereich nahm auch die Zahl jener zu, die kultiviertes Fleisch probieren konnten. Aber erst Ende 2020, als die singapurische Lebensmittelbehörde dem Start-up Eat Just aus San Francisco die behördliche Zulassung erteilte, konnte es erstmals an die Öffentlichkeit verkauft werden.

Laut der Gäste schmecken die kultivierten Chicken Nuggets wie Hühnchen. „Das liegt daran, dass es Hühnchen ist“ – so lautet die Standard-Antwort des Unternehmens. Aber diese ersten verkauften Chicken Nuggets sind eine frühe Version einer Technologie, die noch verfeinert werden muss. Mit einem saftigen Preis von 23 Dollar pro Portion werden die Chicken Nuggets zudem mit Verlust verkauft, und derzeit können nur relativ kleine Mengen produziert werden. Die nächste große Herausforderung wird es sein, die Qualität, den Preis und das Angebot zu optimieren.

Was ist In-Vitro-Fleisch?

In-Vitro-Fleisch ist zunächst einmal eine Technologie, die noch tief in der Entwicklungsphase steckt. Die grundsätzliche Idee ist es, Fleisch zu produzieren, das genauso aussieht und schmeckt, als käme es vom Schlachthof. Trotzdem soll dafür kein Tier getötet werden. Stattdessen werden einem Tier Zellen entnommen und diese in einer Schale kultiviert, um eine Zelllinie zu erzeugen, aus der zunehmend weitere Zellen gezüchtet werden können. Diese Zellen landen in einem Bioreaktor – in dem die Umgebung genau kontrolliert werden kann – und werden mit einem flüssigen Nährmedium kombiniert, das die Nährstoffe und erforderlichen Anreize enthält, um die Zellen wachsen zu lassen. Würde dieser Prozess im großen Maßstab betrieben, könnte man ihn mit den Vorgängen in einer Brauerei vergleichen. Bloß dass Muskeln statt Bier produziert werden. Sobald eine ausreichende Menge an Muskelzellen produziert ist, können diese zu Lebensmitteln wie Würstchen, Burgern oder sogar Sushi verarbeitet werden.

Eine Schüssel mit Lachssushi, das von Zellen stammt, nicht von einem Lachs
Lachs aus dem Labor der Firma Wildtype. © Wild Type

Der aktuelle Stand der Technologie eignet sich aber nur für die Herstellung von verarbeitetem Fleisch wie eben Burgern oder Nuggets. Ganze Stücke wie Steaks sind eine viel komplexere technische Herausforderung, da es sich um strukturierte Produkte handelt, die mehrere Gewebetypen auf sehr spezifische Weise miteinander verbinden. Die in Singapur verkauften Chicken Nuggets sind (wie alle Chicken Nuggets) mit Panier ummantelt und einfacher (aber nicht einfach) zu produzieren.

Das langfristige Ziel ist, Fleischesser in Zukunft vom Verzehr von kultiviertem Fleisch zu überzeugen – denn laut Befürwortern der Technologie besteht kein gravierender Unterschied zwischen Fleisch aus dem Labor und herkömmlichem Fleisch von geschlachteten Tieren. Es ist genau dasselbe Fleisch wie jenes aus der Schlachtung, nur eben auf eine andere Art und Weise hergestellt.

Warum wollen Menschen kultiviertes Fleisch herstellen?

Es gibt viele Gründe für die Entwicklung und den Verzehr von kultiviertem Fleisch. Einer der wichtigsten ist der – zumindest angestrebte – Nutzen für die Umwelt. Fleisch, das in einem Bioreaktor produziert wird, kommt hoffentlich mit weniger Energie, Wasser, Ackerfläche und Treibhausgasemissionen aus. Ein weiterer Grund, der auf der Hand liegt: Es ist Fleisch, für das keine Tiere in industriellen Zuchtanlagen gehalten und umgebracht werden müssen. Auch wenn für die Zellgewinnung immer eine kleine Anzahl von Tieren benötigt wird: Die Vision ist, dass die globale Population von Nutztieren deutlich reduziert wird.

Das Risiko, dass Zoonosekrankheiten vom Tier auf den Menschen übertragen werden, würde verringert werden.

Auch die Lebensmittelsicherheit wird von vielen als wesentlicher Vorteil genannt. Da kultiviertes Fleisch aus einer sterilen Fabrikumgebung stammt, wird angenommen, dass es keine Verunreinigungen enthält, die in Fleisch von Nutztieren vorkommen. Es könnte auch ohne den Einsatz von Antibiotika produziert werden, die bei einigen Formen der Fleischproduktion in großen Mengen eingesetzt werden, was die Angst vor antimikrobieller Resistenz schürt. Eine drastische Reduzierung von Tieren in landwirtschaftlichen Betrieben würde auch das Risiko verringern, dass Zoonosekrankheiten vom Tier auf den Menschen übertragen werden – was nach der Corona-19-Pandemie eine zunehmende Angst ist.

Wer stellt kultiviertes Fleisch her?

Aktuell gibt es weltweit etwa 70 Unternehmen, die sich mit der Entwicklung von kultiviertem Fleisch und den dazu benötigten Technologien beschäftigen; viele davon sind noch kleine, junge Unternehmen. Zu den Marktführern gehören Mosa Meat (das Team aus Maastricht, das 2013 den Burger produzierte), Eat Just (das Team, das die Chicken Nuggets aus Singapur produzierte) und Upside Foods aus San Francisco (das bis Mai 2021 Memphis Meats hieß). Diese Unternehmen arbeiten an Pilotanlagen, um die Produktion von Laborfleisch nach oben zu skalieren, und haben in der Regel bis zu 100 Mitarbeiter im Team.

Würstel in einer Pfanne
New Age Meats hat sich auf Würstchen aus kultiviertem Fleisch spezialisiert. © New Age Meats

Auch die Investitionen in diesem Bereich steigen an. Im Jahr 2020 wurden 350 Millionen Dollar investiert, eine Zahl, die als großer Erfolg angesehen wird und alle bisherigen Investitionen in diesem Sektor zusammen fast verdoppelt. Aber es sieht so aus, als würde dies wieder übertroffen werden, da Eat Just im Mai 2021 eine Investition von 170 Millionen Dollar einsackte. Während es sicherlich eine Konzentration von Unternehmen im Silicon Valley gibt, sind viele andere auf der ganzen Welt verteilt. In Israel gibt es eine Reihe von Unternehmen, darunter Super Meat und Aleph Farms. Andere sind B.I.F.E in Buenos Aires, IntegriCulture in Tokio und Alife Foods in Leipzig. Allein 2020 wurden weltweit zwanzig neue Unternehmen gegründet.

Was sind die technischen Herausforderungen?

Die Herstellung von kultiviertem Fleisch ist nicht einfach. Wissenschaftler arbeiten ungefähr seit dem Jahr 2000 daran (obwohl die Finanzierung in größerem Maßstab erst um das Jahr 2015 einsetzte). In den vergangenen fünf Jahren wurden Prototypen hergestellt, die gut aussehen und schmecken – aber nicht massenhaft produziert werden konnten. 2020 hat ein Team von weltweit führenden Wissenschaftlern eine Studie veröffentlicht, die den Stand der Technik zusammenfasste und auch die noch bestehenden Schwierigkeiten erläuterte. Das sind vor allem: die Zellauswahl, der Nährboden und die Skalierung der Produktion.

Bei der Zellauswahl geht es darum herauszufinden, mit welcher Art von Zelle der Prozess der Fleischzüchtung begonnen wird und woher sie kommen. Die Fleischingenieure beschäftigen sich derzeit hauptsächlich mit Muskel- und Fettzellen. Diese Zellen brauchen eine gute Selbsterneuerungsfähigkeit, um sich zu vermehren und differenzieren. Sie können entweder von Embryonen stammen oder Mantelzellen aus dem Nervensystem lebender Tiere sein. Um die Formbarkeit dieser Zellen zu erhöhen, können sie auch gentechnisch verändert werden. Dieser Vorgang wird als „Induktion von Pluripotenz“ bezeichnet. Allerdings grassiert unter den Konsumenten – gerade in Europa – eine ausgeprägte Angst vor gentechnisch veränderten Lebensmitteln. Deshalb könnten sich Laborfleisch-Produzenten für eine andere Strategie entscheiden müssen.

Speck auf Pancakes
Das Unternehmen Higher Steaks macht Speck aus tierischen Zellen – aber ohne Tier. © Higher Steaks

Nach der Zellauswahl muss festgelegt werden, welches Nährmedium am besten ist. Die Flüssigkeit, in der die Zellen gezüchtet werden, ist derzeit der teuerste Teil des Prozesses. Diese Kosten zu reduzieren ist der Schlüsselfaktor, um kultiviertes Fleisch billiger zu machen. Weshalb Unternehmen nach innovativen Methoden suchen, um maßgeschneiderte Nährmedien für ihre Zwecke herzustellen – und sie machen auch deutliche Fortschritte.

Die Skalierung schließlich meint den Bau größerer (und besserer) Bioreaktoren, die es den Zellen ermöglichen, in den Nährmedien mit einem hohen Volumen zu wachsen. Welcher Bioreaktor am besten funktioniert, hängt natürlich davon ab, welche Zellen ausgewählt wurden und welche Nährflüssigkeit verwendet wird. All diese Faktoren müssen aufeinander abgestimmt werden, damit ein überzeugend schmeckendes sowie kosteneffizientes und lukratives Produkt hergestellt werden kann.

Werden Menschen Laborfleisch überhaupt essen wollen?

Es ist klar, dass kultiviertes Fleisch gegessen wird. Eine wachsende Zahl an Menschen hat es bereits probiert, einschließlich jener im Restaurant in Singapur nebst einiger Journalisten, die es bereits verkosten konnten. Aber um die Welt zu verändern und die globalen Viehbestände sinnvoll zu reduzieren, muss sich das Produkt für die breite Masse als stabile Alternative zum konventionellen Fleisch beweisen. Die Produzenten von kultiviertem Fleisch bangen ständig, dass die Konsumenten ihr Produkt ablehnen; aber es gibt eine wachsende Zahl von Studien, die Anlass zu Optimismus geben.

Die Frage ist, wie viel davon Hype und wie viel realistisch ist. Die Antwort ist leider, dass wir es noch nicht wissen.

Es ist vor allem eine Gruppe von Menschen, die kultiviertes Fleisch am ehesten ausprobieren will: Junge, gebildete Männer, die in Städten leben. Da aktuell nur kleine Mengen an Laborfleisch produziert werden können, brauchen die Unternehmen zunächst auch nur eine kleine Anzahl von Menschen, die bereit sind, es zu essen. Die Hoffnung dahinter: Je mehr Menschen Laborfleisch essen, desto normaler wird es. Dadurch vergrößert sich der Pool der willigen Konsumenten stetig.

Wie realistisch sind die Versprechen?

Der Ehrgeiz ist groß: Riesige Mengen an Laborfleisch sollen enorme Vorteile für Umwelt, Gesundheit und das Wohlergehen der Tiere erzielen. Die Frage ist, wie viel davon Hype und wie viel realistisch ist. Die Antwort ist leider, dass wir es im Moment noch nicht wissen. Aber ist der Optimismus realistisch? Menschen, die an Umfragen zur Frage teilnehmen, ob sie Laborfleisch essen würden, erhalten in der Regel positive Botschaften über kultiviertes Fleisch. Aber es ist möglich, dass diesen Botschaften stärker widersprochen wird, wenn sich die traditionelle Fleischindustrie gegen das Aufkommen von kultiviertem Fleisch wehrt, weil die Technologie ihren Lebensunterhalt gefährden könnte.

Zudem ist die Frage, wie sich kultiviertes Fleisch in das globale Nahrungsmittelsystem integrieren wird: Wird es gelingen, die Zahl der Nutztiere zu reduzieren, oder wird die Weltbevölkerung einfach immer mehr und mehr Fleisch essen – also kultiviertes Fleisch zusätzlich zu Nutztierfleisch? Wenn die Viehbestände tatsächlich reduziert werden, wo könnte dies geschehen? Welche Auswirkungen hat es auf die Umwelt, wenn einige landwirtschaftliche Gebiete verändert werden, andere aber nicht?

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Zahlen & Fakten

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Frage, wie viel Energie tatsächlich benötigt wird, um große Fleischzuchtfabriken zu betreiben. Das hängt vor allem davon ab, wie effektiv die Bioreaktoren sein werden. Eine weitere Schlüsselfrage für die Reduzierung der Treibhausgasemissionen ist, woher die Energie für diese Fabriken kommt. Damit wirklich Emissionen eingespart werden, müssen die Fabriken mit erneuerbaren Energiequellen betrieben werden – mit Kohle betriebene Zuchtfleischfabriken sind keine Lösung.

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Conclusio

Die Technologie für kultiviertes Fleisch hat sich in den vergangenen Jahren rasant entwickelt, ebenso wie die Anzahl der Unternehmen und Investitionen. Dass kultiviertes Fleisch in Singapur erstmals verkauft wurde, war ein wichtiger Meilenstein: Indem die Technologie von offizieller Seite als sicher zum Verkauf eingestuft wurde, erfuhr sie auch einen öffentlichkeitswirksamen Image-Boost. Aber der nächste große Meilenstein steht erst bevor: kultiviertes Fleisch in großen Mengen und kostengünstig herzustellen. Dass die Zeit für weitere Innovationsschübe drängt, steht außer Frage. Ob Laborfleisch wirklich Teil der Lösung sein kann, wird sich aber wohl erst in den nächsten beiden Jahrzehnten herausstellen.