Das Glück, das sind die Anderen

Weder Status noch Besitz, nicht einmal Selbstverwirklichung sind die größten Glücksfaktoren. Vielmehr liegt das Glück in den Beziehungen. Daher sollten wir die uns wichtigsten Mitmenschen benennen und unsere Bindungen vertiefen. 

Illustration einer jungen Frau, die einen Hund küsst
Auch zu Haustieren können innige Beziehungen entstehen – und damit lebenslange Freundschaften. © Getty Images

Und es ist Sommer, dieser warme Wind, der einen an das Gute glauben lässt, doch die Bäume haben Durst und die Felder. Das Land. 2022 ist der heißeste Sommer seit Beginn der meteorologischen Aufzeichnungen. Der warme Wind ist dennoch schön.

Wie viel Freude es macht, wenig anzuhaben, ein sommerliches Glück wie Zitroneneis, Picknicke oder kleine Mädchen in bunten Kleidern. Wie mein kleines Mädchen beispielsweise, das neben einigen anderen Dingen die Freude meines Lebens ist, außer wenn sie zu viel Eis gegessen hat und schrecklich nervig wird, aber ehrlich gesagt: dann auch.

Lieben heißt eben immer auch Nicht-Lieben, denn alle Beziehungen sind Ambivalenzerfahrungen. Manchmal denke ich, dass wir um unsere Haustiere so tief trauern, weil die Liebe zu ihnen ganz unschuldig ist, frei von dieser Doppeldeutigkeit, die alles Lebendige zu begleiten scheint. Aber vielleicht ist das nicht ganz richtig, weil auch Haustiere eine Agenda haben, so wie meine Katze eigensinnig ist und manchmal rücksichtslos.

Spiel der Gegensätze

Wir kommen einfach nicht raus aus diesen Widersprüchen, die doch nur ein anderes Wort sind für eine Liebe, die uns meint und in der wir wohnen können, wahrhaftig und krumm. Immer, wenn es zu glatt wird, beginnt die Lüge, die Traumfrau, die Bilderbuchehe, die Berufung und irgendwann das große Abendessen zur Rechten Gottes, dessen Tafel noch um einiges länger sein muss als Putins Statustisch. Nein, nein, in diesem Reich der eindeutigen Bilder gibt es keine Liebe und auch keine Freude, weil es dort nichts Lebendiges gibt.

Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft.

Sigmund Freud

Liebe und Freude gibt es nur dort, wo es Leben gibt, und Leben ist immer zweideutig, eine Gleichzeitigkeit von Werden und Vergehen, von Blüte und Verfall, von Liebe und Gleichgültigkeit. Von Yin und Yang, wie man dieses ewige Spiel der Gegensätze im chinesischen Denken nennt.

Was Freude am Leben haben heißt

Freude am Leben zu haben heißt, diese endlose Bewegung zu bejahen und dabei immer wieder neue Beziehungen zum Leben zu finden – zu sich selbst, zu den anderen und zur Welt. In diesen Beziehungen liegt das einzig Wahre, nämlich das irdische Glück. Von diesem uns allen zugänglichen und zuträglichen Glück berichtete bereits Epikur, der die Beziehung zu sich als Kunst des maßvollen Genießens, die Beziehung zu anderen als Freundschaft und die Beziehung zum Kosmos als Wissenschaft und Naturbetrachtung vor mehr als 2000 Jahren ins Zentrum seines Denkens stellte.

Doch obwohl die Frage nach dem guten Leben uns immer zueinander und zum Ganzen führt, beginnt sie stets bei einem selbst. Die Philosophie spricht seit jeher davon, dass es der wahre Beruf des Menschen sei, zu sich zu kommen. Doch ebenso gründlich hat sie die uns allen allzu vertrauten Irrwege kartiert: sokratischen Selbstbetrug, wo man nicht tut, was man sagt, und nicht weiß, was man tut; Versäumen des wahren Lebens durch falsche Geschäftigkeit, wie Seneca anführte; oder selbstverschuldete Unmündigkeit durch Bequemlichkeit, Faulheit und Feigheit, wie Immanuel Kant notierte.

Auch in uns selbst ist immer beides, Treue und Verrat. Oder, wie Freud bemerkte: Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft. Deshalb müssen auch wir uns davor hüten, einfach über uns zu bestimmen, anstatt uns immer wieder die Mühe zu machen, unsere eigenen Wünsche, Widersprüche und Ambivalenzen wahrzunehmen und auszuhalten. Lebendige Beziehungen sind Arbeit, tägliche Arbeit. Der Lohn einer Beziehung ist dabei ihre Fortdauer, nicht ihre Vollendung. Immer wieder müssen wir in uns hineinhören – und immer wieder müssen wir einander zuhören. Denn in den Beziehungen, die wir miteinander haben, liegt unser größtes Glück. 

2017 veröffentlichte die Harvard-Universität zwei groß angelegte Untersuchungen – die Grant- und die Glueck-Studie –, die endlich Antworten auf die Frage versprachen, was den Menschen wirklich glücklich macht. Beide kamen zu dem gleichen Ergebnis: Glücklich machen wir einander. Weder Status noch Besitz, noch nicht einmal Selbstverwirklichung, vielmehr tiefe soziale Beziehungen wurden einhellig als größter Glücksfaktor benannt. 

Die Kraft der Beziehung

Dabei kommt es nicht auf die Quantität der Beziehungen an, sondern allein auf ihre Qualität. Diese erkennt man daran, wie sicher man sich mit dem Gegenüber fühlt, wie verwundbar man sein und ob man sich entspannen kann, indem man genauso sein darf, wie man ist – während auch der oder die andere genauso sein darf, wie er oder sie ist. Solche Beziehungen finden innerhalb, aber auch außerhalb der Familie statt. 

Dafür gilt es sie zunächst zu benennen: Welche drei Menschen sind für Sie am wichtigsten? Bei wem fühlen Sie sich am wohlsten, am besten aufgehoben? Und wen vermissen Sie, wen müssten Sie dringend mal wieder kontaktieren?

Wie Liebesworte helfen

Beziehungen, die einem wichtig sind, gilt es immer wieder bewusst zu stärken. Das betrifft sowohl die alten Freunde als auch die neuen Bekannten. Liebesworte beispielsweise helfen uns, Brücken zum anderen zu bauen: Ich mag dich, es ist schön mit dir, du bereicherst mein Leben. Dazu brauchen wir ein bisschen Mut, aber keinen Anlass. Gerade die Absichtslosigkeit adelt diese zärtlichen Gefühle.

Auch Umarmungen vertiefen unsere sozialen Bindungen. Es hat sich gezeigt, dass sie Stress reduzieren, Schmerzen lindern und sogar Depressionen vorbeugen können. Und wie bei den Liebesworten gilt es, sich einfach zu trauen. Ich habe schon vor vielen Jahren mit dem Umarmen angefangen und kann Ihnen versichern, dass es sich lohnt, weil mir dabei immer wieder Nähe, Halt und eine intime körperliche Erfahrung des anderen geschenkt werden. 

Das betrifft aber nicht nur Menschen. Auch Bäume lassen sich gut umarmen, gerade im Sommer, wo man das Leben des Baumes spürt und vielleicht auch seinen Durst. Dabei ist das Gute an den Beziehungen zugleich auch das Schlechte, nämlich dass man vom anderen weiß und auf dieses Wissen antworten muss, auf die Menschen und die Katzen ebenso wie auf den trockenen Baum vor der Haustür, weil wir doch alle nur einander haben in dieser flüchtigen Welt. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss rasch gießen gehen.