Versöhnung mit der Sterblichkeit

Das Leben ist kurz, wir sollten uns daher rechtzeitig bewusst sein, wie wir es erfüllen. Liebe, Freundschaften oder geistige Anregung erfordern Zeit, die wir uns nehmen sollten. Bevor es zu spät ist. 

Wladimir Wyssozki bei Proben zu Hamlet
Sein oder Nichtsein? Shakespeares Hamlet hat die Frage der Sterblichkeit auf die Theaterbühnen der Welt gebracht, hier in Paris 1977 mit dem russischen Schauspieler Wladimir Wyssozki in der Hauptrolle. © Getty Images

Auf meinem Nachttischkästchen liegt ein Buch über Platon. Es liegt da schon länger. Das Buch ist schwer, ja gewichtig, voller Referenzen, Verweise, Zitate. Doch es ist nicht nur fordernd, sondern auch gebend; es bildet und bereichert mich. Ich glaube, dass Texte, ähnlich wie Lebensmittel, Kalorien haben, einen Nährwert. Wie zischen meine geliebten Prominews immer vorbei, ohne jegliche Spur in meiner Seele zu hinterlassen, wie folgenlos sind die Clickstrecken und News, das Internet sowieso. Und wie kaue ich immer noch an einigen philosophischen Sätzen, 20 Jahre Kauen und immer noch Geschmack. Wie bei Seneca, der meinte: Das Leben ist kurz.

Nahrung für die Seele

Das Leben ist wirklich kurz. Wir sind endliche Wesen, unsere Energie ist beschränkt und wir müssen mit unseren Kräften haushalten. Das beginnt damit, dass wir darauf achten, wie wir uns nähren. Damit meine ich jetzt nicht nur die guten Hülsenfrüchte und das gedünstete Gemüse, die uns allen wahrscheinlich fürchterlich wohltäten, sondern auch alles andere, was wir in uns hineintun: Bücher, Bilder, Gedanken. Nur wovon sollen wir uns dabei leiten lassen? Vom kurzfristigen Geschmack oder von der langfristigen Sättigung, vom Genuss des Augenblicks oder vom Genuss der Entscheidung? 

Nicht Buchhalter unserer Lebenszeit sollen wir sein, sondern ihre Nutznießer.

Blicken wir zum Philosophen Epikur und seiner Idee, dass nicht Leistung und Erfolg der Sinn unseres Daseins seien, sondern die Freude, auf griechisch hēdonē´. Haben Sie darüber schon nachgedacht? Wenn ja, worin besteht für Sie diese Freude? Und wie können wir sie erlangen?

Für mich ist die Freude, von der Epikur spricht, Ausdruck unserer Lebenskraft und unserer Fähigkeit zur Daseinsbejahung, getragen von einem Gefühl für unsere eigene Agenda. Wir alle haben das Recht, zu begehren, zu wünschen, zu wollen. Für jede und jeden von uns gibt es Dinge, die stärken, und Dinge, die schwächen, und es liegt ganz allein an uns, weise zu wählen. Dieser Verantwortung für unsere ureigensten Angelegenheiten müssen wir uns immer wieder stellen, vernünftig, leidenschaftlich und klug.

Von der Philosophie zum Gender-Pay-Gap

Ein wesentlicher Unterschied zwischen Epikur und Platon besteht darin, dass bei Platon die Lüste der Vernunft untergeordnet sind, während bei Epikur die Vernunft den Lüsten dient, um in jedem Augenblick die Freude zu maximieren. In diesem „hedonistischen Kalkül“ hat alles seinen Platz – das Banale und das Tiefgründige, Vollkornbrot und Petits Fours. 

Alles hat seinen Wert – und seinen Preis. Alles auf Erden kostet, und das zu vergessen gehört zu den größten Dummheiten der Gegenwart. Das christliche Ideal der Selbstlosigkeit hatte immer schon modrige Ränder, wobei wir nicht unerwähnt lassen, dass in dieser doch sehr patriarchalen Erzählung gerade die weibliche Natur als gebende, fürsorgliche, ja agendalose gezeichnet wurde. Dazu passt, dass Frauen heute in Österreich ebenso wie in Deutschland immer noch um die 20 Prozent weniger verdienen als Männer. 

Alles auf Erden kostet, und das zu vergessen gehört zu den größten Dummheiten der Gegenwart.

Es gibt also auch historische Gründe, warum es sich für viele von uns immer noch geradezu anstößig anhört, die eigenen Interessen im Blick zu haben. Paradoxerweise ist dieser Eigennutz zugleich das Alltäglichste unserer westlichen ökonomisierten Welt. Unser geläufigstes Menschenbild spricht vom Homo oeconomicus, der aus allem Profit zu schlagen versteht, indem er stets rational kalkuliert, wo und wie das meiste für ihn rauszuholen ist. 

Diese geschäftstüchtige Figur erscheint auf den ersten Blick wie die überfällige Demokratisierung des epikureischen Ideals. Doch nur auf den ersten Blick. Denn die Ökonomisierung des Lebens verdeckt die existenzielle Ökonomie des Einzelnen, und der Dienst am Ego, sprich an Status, Besitz und Leistungskraft, ist etwas vollkommen anderes als die antike Sorge um sich.

Carpe diem als Wahrheit des Lebens

Bei Epikur geht es eben nicht darum, mehr als andere zu haben, sondern bewusst Freundschaft mit anderen zu pflegen, bescheiden zu leben und maßvoll zu genießen. Damit beantwortet der griechische Philosoph zugleich die Frage, was ein sinnvolles Leben ausmacht und wie wir uns verhalten sollen, um unsere Zeit hier am besten zu nutzen. Gewiss ist, dass wir sie mitunter auch verschwenden müssen. Nicht Buchhalter unserer Lebenszeit sollen wir sein, sondern ihre Nutznießer. Ein Leben ohne Süßigkeiten und sinnlose Stunden erschiene mir nicht lebenswert. 

Aber das Leben ist tatsächlich kurz, und wir dürfen es nicht versäumen. Viele alte Menschen, die kurz vor ihrem Tod befragt wurden, wünschen sich, dass sie ehrlicher gewesen wären, mutiger, großzügiger. Dass sie mehr Zeit mit denen verbracht hätten, die sie liebten, und weniger Zeit im Büro oder an ihrem Arbeitsplatz. Am Ende, da sind sich alle einig, geht es um immaterielle Dinge. Um die Liebe in unserem Leben. Um das, was wir gegeben haben, das, worauf wir stolz sein können.

„Das eigene Leben zu fordern ist die wahre Revolte“, sagte Hannah Arendt. Nur wer eigene Interessen hat, kann mit anderen auf Augenhöhe über das Gemeinsame diskutieren, und nur wer kundig mit seiner Lebenszeit umgeht, bewahrt sich davor, irgendwann mit zu viel Zeug und zu wenig Lebenserfahrung in einer Wohnung zu sitzen. 

Epikurs hedonistisches Kalkül lädt uns ein, unsere Lebenszeit auf eine Weise einzusetzen, die uns mit unserer Sterblichkeit versöhnt, und dabei unsere Tiefe ebenso zu achten wie unsere Oberfläche. Sich selbst gerecht zu werden ist immer eine Mischkalkulation, und ob gerade stiller Verzicht oder hemmungsloses Genießen angesagt ist, können nur wir entscheiden. Aber wir können es, jede und jeder von uns ist in einem sehr existenziellen Sinne wirklich Unternehmerin respektive Unternehmer ihrer/seiner selbst, Verwalterin und Profiteur der eigenen Lebenskraft.

Es geht um Freude im Leben

Wir dürfen uns immer wieder fragen, was uns etwas bringt – ob eine Freundschaft, eine Arbeit oder ein Buch –, ebenso wie wir uns fragen müssen, ob wir den anderen gerecht geworden sind, unseren Freundschaften und auch unseren Verbindlichkeiten. Dafür müssen wir immer wieder neu bestimmen, was uns in dieser kurzen Zeit hier auf Erden wirklich, wirklich Freude macht: Manchmal ist es Platon. Manchmal sind es vielleicht Prominews. Und manchmal einfach nur eine allerletzte Zigarette.