Diversität und Peitsche

Während im Iran Frauen, die den Hijab ablehnen, gnadenlos verfolgt werden, huldigen andere dieser Kopfbedeckung. Sie sei ein Zeichen der Emanzipation und Diversität. Das zeigt wieder einmal, wes Geistes Kind der überhandnehmende Wokism ist.

Illustration einer Frau mit Hijab, die von Blumen gefüllt und umgeben ist
Seit Jahrzehnten führt sie zu hitzigen Diskussionen: die Hijab, eine der traditionellen Kopfbedeckungen für Musliminnen. Sie ist verbunden mit der Frage, wer Frauen vorschreiben darf, was sie (nicht) zu tragen haben – oder ob man es überhaupt sollte. © Getty Images

Zwei Dinge habe ich bei der Recherche für diese Kolumne gelernt: Fürs Auspeitschen gibt es im Iran Automaten. Und am 1. Februar feierte man (und frau?) den World Hijab Day

Worüber ich schreibe? Über die Tatsache, dass seit rund einem halben Jahr – jenem Tag, als die Iranerin Jina Mahsa-Amini starb, nachdem sie von den Sittenwächtern wegen „zu viel sichtbaren Haars“ aufgegriffen worden war – im Iran tausende Frauen auf die Straße gehen. Sie legen ihr Kopftuch ab, viele schneiden sich ihr Haar – um für nichts anderes zu kämpfen als für ihr Recht, Frau zu sein, frei zu sein und zu leben: „Frauen, Leben, Freiheit“. Nicht selten büßen sie – wie auch die Männer, die mit ihnen auf die Straße gehen – dafür mit Gefängnis, Folter, Tod.

Kampf um die Freiheit

Seit dem 16. September letzten Jahres sind über 2.300 Proteste im ganzen Land dokumentiert. Organisationen, die das Geschehen vor Ort beobachten, schätzen über 500 Tote und annähernd 20.000 Verhaftungen. Es braucht also Mut, im Iran um Freiheit zu kämpfen: Todesmut. Dass die Weigerung, den Hijab zu tragen, nicht einfach nur Symbol ist, sondern zum Kern der Proteste gehört, ist alles andere als ein Zufall. Mit der Ausrufung der Islamischen Republik 1979 wurde die Kopfbedeckung für die Frau als zwingende Vorschrift eingeführt und diese nach und nach verstärkt: durch buchstäblich engere Vorschriften und noch rigidere Strafen. 

Mahsa Amini Mural in Dublin, Januar 2023
Dublin, Januar 2023: Passanten vor einem Mural, das in Erinnerung an Mahsa Amini von den Frauen des Minaw-Street Art-Kollektivs geschaffen wurde. Es trägt die Aufschrift „Woman Life Freedom“ in Englisch, Irisch und Persisch. © Getty Images

Die Deutsch-Iranerin Natalie Amiri beschreibt etwa das Schicksal von Nasrin Sotoudeh, der renommierten Menschenrechtsanwältin aus Teheran, die für ihre Arbeit den Alternativen Nobelpreis Right Livelihood Award erhielt. Sie wurde 2018 zu 33 Jahren Haft und 148 Peitschenhieben verurteilt – für „sündhaftes Auftreten ohne Kopftuch“, die „Störung der öffentlichen Ordnung“, „Spionage“ und das „Schüren von Prostitution“. Ihre Klientinnen waren Frauen, die gegen den Kopftuchzwang kämpften, politische Oppositionelle und religiöse Minderheiten.

Ob die Anwältin maschinell oder manuell ausgepeitscht wurde, schreibt Amiri nicht. Es gibt indes Beispiele genug für publikumswirksame öffentliche Auspeitschungen von Frauen. Die Automaten werden eher bei standardmäßigen Strafen eingesetzt, etwa Alkoholkonsum in den eigenen vier Wänden. Die Sündigen werden dann für 80 Hiebe an den Automaten gefesselt, währenddessen die Nächsten draußen zuhören müssen und mitzählen können, bis sie an die Reihe kommen.

Mehr Verständnis für den Islam?!

Während am 1. Februar im Iran nur noch zehn Proteste gegen das Regime verzeichnet wurden – nach den 115 am 15. November, einem der Höhepunkte der Proteste –, sollte die übrige Welt den World Hijab Day feiern. Der Tag wurde von der muslimischen Amerikanerin Nazma Khan 2013 ins Leben gerufen, um religiöse Verständigung und Toleranz zu fördern.

Gemäß heutigen Promotorinnen soll dieser Tag dazu dienen, „ein besseres Verständnis des Islam und seiner Prinzipien wie Bescheidenheit, Respekt für andere und Gerechtigkeit für alle“ zu fördern; es gehe darum, „Diversität zu feiern“ und „gegen Diskriminierung“ anzutreten. Denn die Wahrnehmung dieser Kopf- und Halsbedeckung beruhe auf vielen Vorurteilen und Falschinformationen. Der Hijab erlaube nämlich den Frauen, „selbstbewusst“ und „unabhängig“ zu sein und sich gleichzeitig zu ihrem Glauben zu bekennen.

Zwei junge Frauen ohne Kopftuch auf einer Straße in Tehran, Dezember 2022
Tehran, Dezember 2022: Die Frauen der iranischen Hauptstadt sind bekannt dafür, schon seit Jahrzehnten die Grenzen des Kopftuchgebots auszutesten. Am 4. Dezember 2022 wurde die Gascht-e Erschad, die Sittenpolizei, in Reaktion auf die anhaltenden Proteste suspendiert. Der Hijab-Zwang dauert aber – offiziell – fort. © Getty Images

Erklärt wird, dass der Hijab oft in der Öffentlichkeit getragen wird, zusammen mit der Abaya, dem weiten, körperlangen Kleid, um Bescheidenheit auszudrücken und sich „vor Vergewaltigungen zu schützen“. Die Blog-Einträge enthalten auch eine akribische Anleitung, wie man ihn sich an- respektive überzieht, damit alle die Möglichkeit haben, ihn einmal auszuprobieren.

Ich belasse es bei diesen Zitaten. Sie sind angesichts der beschriebenen Zustände fragwürdig genug, und jeder einzelne Satz dürfte sich für Iranerinnen – und wohl auch Afghaninnen und weitere Frauen, die unter entsprechendem Zwang stehen – wie ein Peitschenhieb anfühlen. Wie kann es sein, dass sich immer mehr Teile der westlichen, liberalen, demokratischen Gesellschaften für die „Toleranz“ gegenüber dieser freiheitsberaubenden Kopfbedeckung aussprechen, ja sie sogar als Zeichen der weiblichen Eigenständigkeit begrüßen? 

Von woke zu Wokism

Begründungen und Verteidigungen dieses „Kleidungsstücks“ gibt es unzählige. Zu hören sind derartige Erklärungen in erster Linie von jenen, die sich als „woke“ bezeichnen. Sie sind davon überzeugt, dass alles und jedes seine Berechtigung hat und von niemandem beurteilt, geschweige denn angezweifelt oder gar verurteilt werden kann. Wokeness ist jedoch längst nicht mehr nur eine ehrenwerte und mutige Grundhaltung, die gegenüber möglichen Formen von Diskriminierung „wachsam“ ist und darauf hinweist, um sie künftig zu vermeiden. Sie ist zum radikalen „Wokism“ erstarrt: einer Ideologie, die sich von keiner Realität beeindrucken lässt.

Malala Yousafzai in einem glitzernden Kleid mit Hijab bei den Oscars 2023
Vom Kopftuch unterdrückt? Malala Yousafzai bei den Oscars 2023. © Getty Images

Aus der Perspektive dieser Weltanschauung ist die Verhüllung der Frauen deshalb ein Zeichen ihrer Eigenständigkeit, weil sie sie freiwillig tragen. Dass diese angebliche Freiwilligkeit dem Schutz vor Männern dient, genauer: dem Schutz der Männer vor sich selbst, und mit dem Koran begründet wird, tut dieser Freiwilligkeit offenbar keinen Abbruch. Wer diese Argumentation nicht nachvollziehen kann, ist nach Ansicht des Wokism in seiner weißen, westlichen, rassistischen und imperialistischen Haltung gefangen und kann demnach diese friedliche, tolerante und respektvolle Kultur gar nicht verstehen – oder ist schlicht zu dumm für konsequentes Denken.

Das iranische Regime kann sich über solche Kommentare nur freuen, und die Islamisten weltweit bedanken sich dafür. Die Leidtragenden sind die Frauen, die im Iran und in anderen Ländern für ihren Kampf um die Freiheit ihr Leben riskieren – und die, sofern ihnen die Flucht in den Westen gelingt, entgegen ihrer Hoffnung keine Unterstützung finden, sondern sich hier für ihren Kampf gegen das Kopftuch noch rechtfertigen müssen.

Die Proteste im Iran flauen ab. Der Preis ist hoch; jeder Protestmarsch ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein Gang in Richtung Schlachtbank. Letztlich kann nur die iranische Bevölkerung selbst einen Regimewechsel erzwingen. Aber nur wir können dem gedanklichen Irrsinn ein Ende bereiten, indem wir die Realität weder verkennen noch verdrehen noch verklären.

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