Die guten Seiten der Ungewissheit

Pandemie und Klimawandel offenbaren die Grenzen des westlichen Denkens. Veränderungen verdrängen Gewohntes. Dieser Übergang fällt schwer, weil wir auf  Ergebnisse fixiert sind und verlernt haben, in uns hineinzuhören.

Illustration einer Frau im Gedankenchaos
Gehirnnebel kann nicht nur bei Covid-19 auftreten, sondern auch bei Überforderung mit dem Zustand unserer Welt. © Getty Images

Die guten Vorsätze stehen wie schuldbewusste Schafe an den Rändern meines Bewusstseins. Dabei hat es doch so gut begonnen. Ich bin eine Meisterin der Neuanfänge und habe schon mindestens fünfzig Mal mit dem Rauchen aufgehört. Das Einzige, was ich noch besser kann, sind Rückfälle. Warum ist es nur so schwer, eine andere zu werden? Vielleicht liegt das nicht nur an Willensschwäche und tief eingeschliffenen Gewohnheiten. Sondern auch an der Weise, wie wir die Welt wahrzunehmen gewohnt sind.

Dabei muss ich immer an die Geschichte denken, die Schriftsteller David Foster Wallace in seiner Rede am Kenyon College erzählte: Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: „Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?“ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: „Was zum Teufel ist Wasser?“

Unbewegliches Denken

Wasser, das ist das, was jemandem an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit natürlich, normal und selbstverständlich erscheint. Dabei ist jede Weltanschauung nur eine von vielen möglichen Weisen, die Welt zu sehen und sich in ihr einzurichten. Und wir können und sollten uns immer wieder fragen, ob unsere eigene Weltanschauung unseren realen Erfahrungen und Bedürfnissen noch gerecht wird. Denn obwohl unsere westliche Kultur mit Denkern wie Heraklit und seinem Diktum panta rhei („Alles fließt“) begann, sind wir seit Platon und Aristoteles ziemlich unbeweglich geworden. 

Wir verstehen zwar viel vom Sein, aber haben ein Problem mit dem Werden.

Der Popularisierung von Platons Ideenlehre verdanken wir eine Fixierung auf das Dauernde, Bleibende, also auf das Sein. Zudem kann seit Aristoteles’ Logik mit ihren Prinzipien der Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit etwas nur noch entweder A oder B sein, aber nicht sowohl A als auch B, geschweige denn irgendetwas dazwischen. Das könnte erklären, warum unsere westliche Kultur so lange keine denkerische Handhabe für die Existenz von Intersexuellen, Transpersonen und Nicht-Binären hatte. Und warum wir zwar viel vom Sein verstehen, aber ein Problem mit dem Werden haben, mit Übergängen, Prozessen und Veränderungen. Womit wir wieder bei den guten Vorsätzen wären. 

Brüchige Weltanschauung

Ach, ich träume gerne von dieser anderen, die ich werden möchte, eine jähe und geheimnisvolle Verwandlung, die mich über Nacht zum besseren Menschen macht. Doch tatsächlich bin ich jeden Tag, jede Stunde in körperlichen und seelischen Veränderungen begriffen, werde älter, lerne dazu, vergesse. Mehr noch, diese subtilen und beständigen Veränderungen sind die Weise, wie uns allen das Leben geschieht, und wenn wir uns für sie öffnen, öffnen wir uns zugleich für das Leben. Wir sind werdende Wesen, wir können uns ändern. Doch nicht nur wir ändern uns, sondern auch alles, was mit uns ist.

Gewiss ist nur, dass nichts gewiss ist. Deshalb muss alles beständig beobachtet werden.

Unsere westliche Weltanschauung ist brüchig geworden, eine seltsame Gleichzeitigkeit von Normalität und Ausnahmezustand. Nach zwei Jahren Pandemie herrscht eine dumpfe Anerkennung existenzieller Unwägbarkeit, aber es gibt immer noch eine unzerstörbar scheinende Alltäglichkeit, in der Pakete bestellt, zur Arbeit gegangen und im Internet gesurft wird. Diese Alltäglichkeit ist statisch, während der Ausnahmezustand dynamisch ist. Doch nur wenn wir schaffen, den Blick auf ihn zu richten, können wir verstehen, was wirklich passiert. Und angemessen reagieren. 

Klima für Veränderung

Alles hat einen Anfang, eine Entwicklung, eine Kumulation. Alles ist in Bewegung, alles verändert sich. Diese stillen Wandlungen, wie sie das chinesische Denken nennt, können wir lernen wahrzunehmen. Und damit auch zu beeinflussen. Doch unsere westliche Blindheit für Prozesse und Übergänge lässt uns immer noch im Bann des Ereignisses verharren, verstanden als etwas, „das irgendwie plötzlich auf einmal da war“ – selbst bei der Pandemie, die von einer fast ermüdend großen Anzahl von Wissenschaftlern vorhergesagt worden war. Ebenso schwer fällt uns der Umgang mit den Prognosen für die Folgen des Klimawandels. Stattdessen sind wir immer noch aufrichtig überrascht, wenn die Flut bei uns halbe Dörfer wegspült oder Inseln am Rande der Welt unbewohnbar werden. 

Der Klimawandel ist eine große Wandlung. Das macht Angst, aber zugleich liegt darin eine Einladung, Perspektiven und Beschreibungen zu finden, die unserem Menschsein und unserer Rolle hier auf Erden besser gerecht werden als die Suche nach Eindeutigkeit und Planungssicherheit. 

Ein paar dieser Beschreibungen finden sich im chinesischen Denken, welches, lange vor unserer eigenen Entdeckung einer vernetzten Natur durch Alexander von Humboldt, das Leben als komplexe und verwobene Beziehungserfahrung deutet, radikal immanent, also diesseitig, und in beständiger Bewegung. Diese Bewegung entspringt einem immerwährenden Schwingen zwischen Polaritäten – von Tag zu Nacht zu neuem Tag, von Ordnung zu Chaos zu neuer Ordnung. In dieser Weltsicht gibt es nichts Gutes und nichts Böses im absoluten Sinne, weil alles zugleich sein Gegenteil hervorbringt. 

In der westlichen Geistesgeschichte kommt die Hegel’sche Dialektik diesem Mechanismus nahe, wobei deren Ausrichtung auf einen zur Selbstbesinnung kommenden Weltgeist einer chinesischen Wandlungsexpertin wohl nur ein müdes Lächeln entlockt hätte. Nein, es gibt kein Ankommen, nur ein Weitermachen-Können, alles bleibt unordentlich, lebendig, komplex und kann jeden Augenblick in sein Gegenteil umschlagen.

Eine Frage der Perspektive

Den Blick vom Sein aufs Werden zu richten hilft uns, offen und kreativ zu bleiben, indem wir das Leben mit seinen Möglichkeiten und Herausforderungen immer wieder neu in den Blick nehmen. Und worauf blicken Sie? Auf das, was sich ändert? Oder auf das, was bleibt? 

Gewiss ist nur, dass nichts gewiss ist. Deshalb muss alles beständig beobachtet werden. Nur aus dieser Perspektive können wir den Anfängen wehren, Vorsorge treffen, beweglich bleiben. Und uns jeden Tag wieder dem Dialog mit dem Leben öffnen, ebenso wie dem Dialog mit dem Menschen, der wir gern wären. Denn Nichtraucherin werde ich nicht wie durch ein Wunder über Nacht, sondern jeden Tag wieder.