Neujahrsimpfung gegen die Spaltung
Wir brauchen eine Immunantwort auf die Polarisierung. Die Spaltung der Gesellschaft hindert uns, Lösungswege für die großen Probleme unserer Zeit zu finden.
Zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie geht die Bekämpfung des Corona-Virus in die nächste Verlängerung. Andere Probleme wie Klimawandel, Teuerung, politische Konflikte – etwa an der russisch-ukrainischen Grenze –, Ungleichheit, Flüchtlingsströme und die Abstiegsängste der Mittelschichten sind wegen der Fokussierung auf das Infektionsgeschehen in den Hintergrund getreten. Sie werden uns im neuen Jahr aber nicht verschonen.
Verzweiflung ist keineswegs angebracht und Vertrauen in die Innovationsfähigkeit der Menschheit berechtigt.
Die aufgezählten Herausforderungen sind nur ein kleiner Teil jener Themen, deren Behandlung so dringlich wäre. Auch wenn Verzweiflung keineswegs angebracht und Vertrauen in Innovationsfähigkeit und Lösungsorientierung der Menschheit berechtigt ist, frustriert ein Trend selbst hartgesottene Optimisten: die immer hitziger werdende Debatte, vor allem in den „sozialen Medien“, die zusehends in Kriegsrhetorik ausartet.
Die Verhärtung der Fronten betrifft in erster Linie die bissige Auseinandersetzung um die Pandemie und die Impfung gegen Covid. Corona beschert uns nach dem gesundheitlichen, ökonomischen und kulturellen Leid nun auch einen ziemlich tiefen Riss durch die Gesellschaft. Während die einen Corona-Diktatur schreien, beklagen die anderen die Tyrannei der Ungeimpften. In ihrer Unversöhnlichkeit schenken sich beide Gruppen nichts: „Die Impfgegner und ihre Antagonisten sind einander zuweilen ähnlicher als sie wahrhaben wollen“, brachte es der deutsche Publizist Gabor Steingart auf den Punkt.
Besorgniserregend ist, dass die Spaltung nicht nur von der Politik, sondern auch von den intellektuellen Eliten vertieft wird. Durch Herabwürdigung der anderen Position, durch Polemik und immer öfter durch Pathologisierung. Wer anderer Meinung ist, wird gleich ins Eck geistiger Umnachtung gestellt.
Befeuert wird die Konfrontation von vielen Medien. Fundierte Sachinformation weicht der Zuspitzung und Häme. Je faktenbefreiter, desto meinungsstärker. Viral gehen vor allem jene Schlagzeilen, die Angriffe unter der Gürtellinie enthalten. Das gegenseitige Anpatzen eignet sich gut zur Belustigung in den sozialen Medien.
Wir haben gemeinsame Ziele
Diese Entwicklung macht nicht gerade hoffnungsfroh, zumal die Polarisierung längst andere Themenfelder erfasst hat. Beim Klimaschutz beispielsweise haben sich zwei Gegenpole gebildet. Hier jene, die von Ökologisierung nichts wissen wollen, dort die Alarmisten, die von Fleisch bis Fliegen so ziemlich alles verbieten wollen, was einen direkten oder auch nur vagen Kohlendioxid-Bezug hat. Spätestens wenn Corona eines Tages in den Hintergrund treten sollte, drohen die vorgefassten Meinungen den Blick auf das gemeinsame Ziel zu verstellen: In einer intakten Umwelt zu leben, in der – bei allen notwendigen Veränderungen – der Erhalt des relativen Wohlstandes auch in Zukunft möglich sein muss. Auch in Europa.
Bei Migration und Asyl muss sich Europa – Stichwort Afghanistan unter der Kontrolle der Taliban – auf eine neue Flüchtlingswelle einstellen. Auch bei diesem Thema gilt: je provokanter die Aussage, desto größer das Gehör. Von sachlicher Auseinandersetzung mit Fluchtursachen, Asyl und einer differenzierten Debatte über unerwünschte versus notwendige Zuwanderung ist derzeit wenig zu vernehmen.
Auch auf einem ganz anderen Gebiet sind die Lager ähnlich weit auseinander: Angesichts der Spannungen an der ukrainisch-russischen Grenze kursieren viele radikale Thesen – pro oder kontra Wladimir Putin. Aggression zieht mehr als Empathie. Kriegsgeheul verkauft sich besser als Diplomatie. Die Aufzählung der Gegenpole ließe sich noch lange fortsetzen.
Gründe, optimistisch zu sein
Angesichts dieser dominierenden Polarisierung wird es schwierig, Fakten aufzubereiten, sachlich zu diskutieren, unterschiedliche Interessen abzuwägen und gesellschaftspolitische Kompromisse zu finden. Der Pragmaticus wird sich selbstredend weiter dieser Aufgabe stellen und zudem aufzeigen, warum es durchaus Grund zu Optimismus gibt: Die Entwicklung von mRNA-Impfstoffen hat gezeigt, welche Innovationen eine Allianz aus Wissenschaft und Unternehmertum in kurzer Zeit hervorbringen kann. Oder: Maßnahmen gegen den Klimawandel müssen nicht zwangsläufig belastend sein, sondern können gleichzeitig für saubere Luft und für Jobs und Wertschöpfung sorgen. Auch in vielen anderen Bereichen liefern Wissenschaft und Innovationsgeist wichtige Erkenntnisse, mit denen sich die Zukunft meistern lässt.
Kurzum: Die anstehenden Herausforderungen können nicht nur bewältigt werden, sondern uns einen großen Schritt weiterbringen. Ganz im Sinne des Winston Churchill zugeschriebenen Zitats: „Never waste a good crisis“.
Der erste Tag des neuen Jahres ist ein guter Zeitpunkt, um über die Abrüstung der Worte und Aufrüstung der Problemlösungskapazitäten nachzudenken. Wir wollen jedenfalls einen Beitrag dazu leisten.