Aus Bürgern können Krieger werden

Moderne Kriegsführung hat wenig mit der Frage zu tun, ob wir die Motivation zu unserer Verteidigung aufbringen können. Ein Essay über die Wehrhaftigkeit westlicher Gesellschaften.

Bereitschaft zur Gewalt im Krieg: Ein freiwilliger Soldat der ukrainischen Armee in einem für einen Kindergeburtstag geschmückten Raum.
März 2022: Ein Freiwilliger der ukrainischen Armee ruht sich in einem Familienhaus in der Nähe Kiews aus. © Getty Images

Die Geschichte des Krieges ist lang. Gewalt war immer eine Option menschlichen Handelns. Das ist eine schmerzliche Tatsache. Wir Westeuropäer haben uns seit Jahrzehnten an die Stabilität unserer Friedensordnung gewöhnt – ein Luxus, den wir tief verinnerlicht haben. Deshalb können wir den Krieg des Wladimir Putin tatsächlich nicht mehr. Und das ist gut so. Angriffskriege sind auf allen Ebenen des Sozialen geächtet. Durch das Völkerrecht wie durch den gesellschaftlichen Konsens.

Doch machen wir uns ehrlich. Der Krieg war immer da. Auch die liberalen Demokratien Europas waren in ihn verstrickt: im Kosovo, in Afghanistan, am Horn von Afrika, in Mali. So sehr man sich über Details und problematische Seiten streiten mag, mit einem Angriffskrieg haben diese Einsätze nichts zu tun. Das Beispiel der Ukraine zeigt schmerzlich, dass Frieden nicht allein von der eigenen Friedfertigkeit abhängt.

Extreme Fallhöhe

Krieg ist eine menschliche Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Deshalb ist die Idee anmaßend, man könne das Leid, den Schmerz, die Verzweiflung nachvollziehen, weil man schreckliche Bilder und Nachrichten in den Medien gesehen und gelesen hat. Krieg ist unvorstellbar. Gerade für unsere von Wohlstand und gegenseitiger Akzeptanz geprägte Gesellschaft ist die Fallhöhe extrem hoch, würde sie mit den brutalen Auswirkungen eines Krieges konfrontiert werden. Doch es wäre ein Fehler, daraus auf eine geringe potentielle Leidensfähigkeit von Menschen zu schließen. Wer Katastrophen durchleben muss, wird nicht gefragt. Das wissen die Menschen nach der Flutkatastrophe im Ahrtal und noch mehr die Menschen in den umkämpften Gebieten der Ukraine – auf der Flucht und unter Beschuss.

Durch den Krieg zerstörtes Haus in der Ukraine
Ein durch den Krieg zerstörtes Haus in Kramatorsk, Bezirk Donezk. © picturedesk Gregor Kuntscher/Asa12

Die Hilfsbereitschaft, die ihnen entgegengebracht wird, kann natürlich nicht Entsetzen und Verzweiflung egalisieren. Aber Resignation ruht tendenziell auf erlebter Ohnmacht. Widerstandskräfte hängen von den wahrgenommenen eigenen Handlungsressourcen und praktisch erlebter Solidarität ab. Auf uns bezogen heißt das: Die individuelle und gesellschaftliche Frustrationstoleranz lassen sich kaum einschätzen. Es bleibt zu hoffen, dass wir den Realitätstest nicht erleben müssen, und dass denen, die den Ernstfall durchleben, die helfenden Hände nie ausgehen.

Die Ächtung von Gewalt

Seit mindestens zwei Generationen ist Gewalt in unserer Gesellschaft ein absolutes No-go in der Konfliktlösung. Wo es zu Gewalt kommt, ist sie regelmäßig ein Fall für die Strafverfolgung. Aber selbst die Arbeit von Polizei und Militär wird uns ‚friedfertigen‘ Bürger zuweilen suspekt. Einerseits blendet ein pauschales Ressentiment, das Polizei und Militär mit der verabscheuten Gewalt gleichsetzt, aus, dass deren Arbeit, Strukturen und ‚Funktionieren‘ die Voraussetzung dafür sind, dass eine solche Kritik überhaupt stattfinden kann.

Widerstand benötigt keine großen Muskeln, sondern die Bereitschaft, sich in Gefahr zu bringen.

Wo andererseits konkrete Fälle missbräuchlicher Gewaltausübung durch Sicherheitskräfte kritisiert und juristisch verfolgt werden, ist diese Kritik eine gesellschaftliche Errungenschaft. Sie ist ein deutlicher Beleg dafür, wie umfassend Gewaltfreiheit zum sozialen Selbstverständnis geworden ist. Niemand steht außerhalb des Rechts. Kann eine Gesellschaft, die Gewalt aus Prinzip ächtet, im Ernstfall der Verteidigung noch kämpfen? Haben wir es zivilisatorisch generell verlernt, Gewalt auszuüben? Hinter diesen Fragen steht ein mehrfacher Trugschluss.

Einerseits wird die Kritik an missbräuchlicher Gewalt selbst regelmäßig mit beträchtlicher Militanz vorgebracht. Anderseits ist unsere Alltagskultur nicht gewaltfrei. Wer durch Netflix und Co. zappt, findet durchgehend Motive legitim betrachteter Gewalt. Was wäre die John Wick Filmreihe ohne den puren Rachegedanken? Was wäre Marvels Cinematic Universe ohne den Kampf, die freie Welt verteidigen zu müssen? Was wäre Game of Thrones ohne das Pathos der Gewalt im Geiste der Gerechtigkeit? Kulturell mag unsere Gesellschaft friedliebend sein, pazifistisch ist sie nicht.

Gewalt als Option

Wird Gewalt konkret, ist die prinzipielle Fähigkeit dazu nicht alleine eine Frage des individuellen, sozial geprägten Charakters. Gespräche mit Kriminalbeamten zeigen, dass unter den ‚richtigen‘ Umständen nahezu jede und jeder fähig ist, Gewalt auszuüben oder gar zu töten. Dass dies dennoch relativ selten vorkommt, liegt am verinnerlichten Wert der Gewaltfreiheit und an der Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols. Wir können Konflikte gewaltfrei lösen und verlassen uns auf die Regelung durch Polizei und Justiz. Wo die Legitimität des Gewaltmonopols bröckelt, nimmt die Regulierungsfähigkeit der Gesellschaft ab und die Tendenz Gewalt auszuüben zu – wie zuletzt die Corona-Proteste gezeigt haben.

Wird das Gewaltmonopol im Kriegsfall ausgehebelt, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass Menschen sich nicht verteidigen würden. Gewalt bleibt immer eine verfügbare Option auch unseres Handelns.

Krieg in der Ukraine: Freiwillige Helfer und Nachbarn versuchen, ein Feuer in einem von der russischen Armee bombardierten Haus zu löschen.
Ein freiwilliger Helfer beim Löschen eines Feuers nach einem Bombardement in Horenychi, Ukraine, März 2022. © Getty Images

Widerstand benötigt keine großen Muskeln, sondern die Bereitschaft sich in Gefahr zu bringen, um sich selbst und andere zu verteidigen. Wahrscheinlich werden Eltern, die ihre Kinder lieben, alles tun um deren Leben zu schützen. Wo findet ein in Friedenszeiten selbsternannter Hobby-Krieger diese Ressourcen? Echte Soldaten wissen, dass Übung und Ernstfall nicht dasselbe sind und trainieren daher hart. Dass nicht alle Eltern deshalb zu Heldinnen mutieren, nicht alle harten Kerle zu Nervenbündeln werden und Training nur bedingt hilft, versteht sich von selbst. Im Ernstfall spielen biografische, soziale, situative und weitere Kontext-Faktoren eine Rolle.

Wie unvollständig das Projekt unserer europäischen Friedensordnung auch sein mag: Unsere Gesellschaften kultivieren Toleranz und Friedfertigkeit. Sie ringen darum, formale Freiheiten sowie politische und soziale Teilhabe zu realisieren. Sie sind um kritische Selbstdistanz bemüht und suchen Mittel und Wege verantwortlich mit eigener historischer Schuld umzugehen – sei es durch vergangenes Greul oder das industriekulturelle Erbe eines hausgemachten Klimawandels. In den Niederungen und Höhen des Alltags gelingt es uns, Disziplin und Freude am Leben zu vereinen. Wir haben viel zu verlieren und viel wofür es sich zu kämpfen lohnt. Diese Sinnressource sollte nicht geringgeschätzt werden.

Mut hilft nicht gegen Bomben

Moderne Kriegsführung hat wenig mit der Frage zu tun, ob wir die Motivation zu unserer Verteidigung aufbringen können. Dies ist eine sehr fragwürdige Romantisierung, die den Charakter eines modernen Krieges maßgeblich entstellt. Wille zum Widerstand hilft weder gegen Maschinengewehre noch gegen Bomben welcher Art auch immer.

Ein Krieg ist eine furchtbare gesellschaftliche Großunternehmung. Sie betrifft ressourcenstrategische Faktoren, Fragen der Beschaffung, Verarbeitung und Bewertung von Informationen, Fragen des effektiven Einsatzes industrieller Potentiale der Organisation, der Produktion und der Logistik. Zudem braucht es die Ausrüstung, Ausbildung und Wertschätzung hochspezialisierter Streitkräfte.

Vor allem aber verlangt Verteidigungsfähigkeit im Kriegsfall – und das mag paradox klingen – größtmögliche Kooperation auf allen gesellschaftlichen Ebenen und über sie hinaus. Als größter Erfolg muss gelten, wenn es erst gar nicht zu einem heißen Krieg kommt. Neben der gemeinsamen Abrüstung liegt die beste Verteidigung in der Abschreckung durch eindrucksvolle Möglichkeiten und signalisierte Bereitschaft zum Einsatz von Gewaltmitteln. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass hochindustrielle und hochvernetzte Gesellschaften diese Fähigkeiten prinzipiell nicht haben.

Wenn Landesverteidigung relevant wird

Putins Angriffskrieg sollte uns zum Nachdenken bringen. Die öffentlich diskutierte Ausrüstungsmisere wirft die Frage auf, ob Kosteneffizienz wichtiger sein kann als die Sicherstellung von Effektivität: Das gilt für schulische Bildung wahrscheinlich nicht weniger als für militärische Verteidigungsfähigkeit. Gerade für liberale Demokratien ist die Einsicht überlebenswichtig, dass Landesverteidigung in hohem Maße relevant bleibt. Da nicht vorhersehbar ist, wer die USA in drei Jahren regieren wird, gilt das für uns Europäer doppelt. Nie vergessen dürfen wir dabei, dass militärische Verteidigung niemals ein Selbstzweck ist. Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Verantwortungsbewusstsein sind kein Firlefanz, sondern der Kern dessen, was es zu verteidigen gilt.