Schuld durch Schweigen

Trotz allem: Wenn westliche Festivals russische Künstler canceln, verraten sie damit jene Werte, für die wir stehen.

Das Bild zeigt den griechisch-russischen Dirigent Teodor Currentzis, wie er das MusicAeterna Orchestra in der Philharmonie Köln im September 2016 leitet. Das Bild illustriert einen Kommentar über das Canceln von Künstlern.
Der griechisch-russische Dirigent Teodor Currentzis hat sich bis jetzt noch nicht dezidiert gegen Putins Angriffskrieg ausgesprochen. Nach ukrainischen Protesten haben ihn die Wiener Festwochen ausgeladen. © Getty Images

Dass man gelegentlich ordentlich Ärger kriegen kann, wenn man öffentlich etwas behauptet, was von der polit-medialen Sittenpolizei oder dem Twitter-(„X“-)Volksgerichtshof als anstößig betrachtet wird, ist ja bekannt. Wer das nicht glaubt, soll mal die Feststellung, es gebe nur zwei menschliche Geschlechter, in irgendeinem sozialen Medium posten. Ich empfehle da ein schnelles Pferd.

Dass man aber auch Ärger für das bekommen kann, was man nicht gesagt hat, ist eine Innovation der zeitgenössischen Meinungs-Inquisition. Erfahren muss das in diesem Frühjahr der russisch-griechische Dirigent Teodor Currentzis, ein ausgewiesener Meister seines Faches. Am zweiten Juni sollte er in Wien Benjamin Brittens „War Requiem“, ein durchaus in die Zeit passendes Stück, dirigieren. Wird er aber nicht. Denn die Wiener Festwochen, in deren Rahmen das über die Bühne gehen sollte, luden ihn wieder aus. Der Grund für den Affront: Der Maestro hat sich mit keinem Wort gegen Putins Ukraine-Krieg positioniert.

Er hat, soweit bekannt, überhaupt nichts zu diesem Thema gesagt. Da der Mann von Beruf Dirigent ist, sollte man meinen, dass es eigentlich auch sein gutes Recht wäre, nicht dauernd politische Bekenntnisse für oder gegen etwas öffentlich zu deponieren, ohne deswegen gleich als Künstler gecancelt zu werden. Öffentlicher Bekenntniszwang gehört ja nicht zu den bürgerlichen Pflichten, noch nicht zumindest.

Künstler-Canceln en vogue

Dass Kunst und Künstler, Medien und Meinungen aus Russland im freien Westen seit dem Beginn von Putins Krieg unsichtbar gemacht werden, nicht gesendet und nicht aufgeführt werden dürfen, mag man emotional verstehen – schlau ist es trotzdem nicht.

Wenn wir das nicht aushalten, sind unsere Werte nicht wirklich werthaltig.

Denn die sittliche Überlegenheit der freiheitlich-liberalen Betriebssysteme im Vergleich zu den Schlagring-Diktaturen hat ihre Grundlage ja unter anderem genau darin, dass sie nicht einfach niedertrampeln, was ihnen nicht gefällt. Deswegen war es auch falsch, die Ausstrahlung russischer Medien im Westen zu verbieten; so ekelig auch sein mag, was dort propagiert wird. Wenn wir das nicht aushalten, sind unsere Werte nicht wirklich werthaltig.

Meinungsfreiheit, eine Tochter der Zeit

Umso mehr gilt das natürlich für die Kunst. Nicht auszuhalten, dass ein Dirigent nichts sagt zu einem Thema, ist kein Zeichen besonderer Souveränität, sondern viel mehr von Hilflosigkeit.

Die an sich eher marginale Causa Currentzis ist – und das macht es nicht wirklich besser – eingebettet in eine generelle Verengung des Meinungskorridors. Das zeigt sich beispielsweise auch im Zuge des leicht hysterisch anmutenden Kampfes „gegen rechts“, der Deutschland und Österreich
seit Monaten leicht fiebrig erhitzt. Nicht gegen rechts zu sein, das hat in dieser Atmosphäre schon etwas leicht Anstößiges an sich; Meinungsfreiheit verkommt da zu einer Tochter der Zeit.

„Es war nötig, das Dorf zu zerstören, um es zu retten“, hat ein Offizier der US-Armee während des Vietnamkriegs angesichts eines von den Kommunisten befreiten, aber dabei leider komplett
zerstörten Dorfes eine paradoxe Realität beschrieben.

Mit unserem liberalen, freiheitsbasierten Gemeinwesen genauso zu verfahren ist nicht die beste aller Ideen.

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