Österreichs verlorene Söhne
Ronald Reagan und Margaret Thatcher beriefen sich auf sie: Kaum eine Denkrichtung wurde so häufig vereinnahmt wie die Österreichische Schule der Ökonomie, zu der auch Friedrich von Hayek zählt. Ein Essay über Dichtung und Wahrheit.
Die Österreichische Schule der Nationalökonomie gilt in ihrer Heimat als Fußnote der Ideengeschichte. Fast alle ihre Vertreter flohen vor dem nationalsozialistischen Totalitarismus. Vor allem in den USA lebten ihre Gedanken als Austrian School wieder auf, fristeten aber ein akademisches Nischendasein. Viel gewichtiger scheint der ihnen zugeschriebene politische Einfluss.
Über das zweite Leben der Österreichischen Schule als wirkmächtige wirtschaftspolitische Strömung erzählt man sich eine überraschende Geschichte: Eine friedliche sozialdemokratische Ordnung des Wohlstands für alle wäre von einer kleinen Elite hintertrieben worden. Milliardenschwere amerikanische Familien hätten die Akademisierung einer pseudowissenschaftlichen staatsfeindlichen Tradition finanziert. Ausgehend von einem Schweizer Berg am Genfer See und globalistischen Eliten wäre die Installation von Politikern oder deren Indoktrination gelungen.
So habe der Siegeszug neoliberalen Denkens begonnen – von Reagan und Thatcher, die sich beide auf Friedrich August von Hayek bezogen, bis hin zum Washington Consensus, der vor allem in Lateinamerika zum Teil autoritär umgesetzt worden sei. Und am Ende habe sich diese Denkschule zu einer populistischen und demokratiefeindlichen neuen Rechten radikalisiert.
Diese Geschichte ist eine Verschwörungstheorie. Wie die meisten Verschwörungstheorien enthält sie genügend Wahrheit, um plausibel zu sein, verdeckt durch Vereinfachung und Pauschalisierung aber die eigentliche Wirkung der Österreichischen Schule, und die ist mindestens so beeindruckend wie die ihr zugeschriebene.
Die Anfänge in Wien
Die Zurechnung der Österreicher zur sogenannten marginalistischen Revolution betont den geringsten und abstraktesten Teil des revolutionären Zugangs von Carl Menger. Wesentlicher waren sein Realismus, der wertneutrale, aber empathische Subjektivismus, das universalistische, aber nüchterne Menschenbild und die interdisziplinäre Orientierung. Ökonomische Theorie hielt er für brotlos und verhalf seinen Schülern aus väterlicher Sorge zu weltlicheren Karrieren.
Das gelang ihm, weil er in der kurzen Phase wirtschaftlicher Öffnung der österreichisch-ungarischen Monarchie als „Experte“ Einfluss hatte und sogar zum Mentor der Thronfolgers werden sollte. Kronprinz Rudolf bereiste mit Menger Europa, studierte die Funktionsweise der Marktwirtschaft und plante eine behutsame Föderalisierung der Monarchie, kam aber nie zum Zug und beendete frühzeitig sein Leben.
Mengers Blick auf Europa hatte sich verdüstert, seine Vorahnungen sollten sich als prophetisch erweisen. Mit der Monarchie endeten die politischen Karrieren seiner Schüler, mit dem Nationalsozialismus auch die akademischen. Der letzte Lehrstuhlinhaber in direkter Tradition war der wissenschaftlich unbedeutende Karrierist Hans Mayer.
Ludwig von Mises, dem wichtigsten akademischen Vertreter, blieb der Lehrstuhl verwehrt: Der aus Lemberg stammende Jude ging zunächst nach Genf und inspirierte dort Wilhelm Röpke, der später starken Einfluss auf den deutschen Bundeskanzler Ludwig Erhard („Vater des Wirtschaftswunders“) haben sollte, und wanderte dann in die USA aus. Die Fortsetzung der akademischen Karriere blieb ihm weiterhin verwehrt.
Der Weg zur Knechtschaft
Die wachsende Planwirtschaft der 1930er und 1940er in den USA bedrängte Unternehmer und führte ein paar von ihnen zur Suche nach alternativen Wirtschaftstheorien. Mises, sogar von Sozialisten als wichtigster Kritiker der Planwirtschaft anerkannt, konnte dank der in den USA stärker ausgeprägten Philanthropie private Unterstützer finden. Sein wichtigster europäischer Schüler, obwohl niemals akademisch sein Student, wurde Hayek.
In den USA erkannte Hayek bedrohliche zentralistische Tendenzen. Als Warnung vor der Wiederholung europäischer Fehler verfasste er das Buch „Der Weg zur Knechtschaft“. Dessen Grundthesen wurden in einer Art Comic vereinfacht und erreichten via Reader’s Digest massive Verbreitung. Hayek bedauerte später, diese Vereinfachung habe wohl seinen wissenschaftlichen Ruf ruiniert.
Der „Nobelpreis“ für Hayek 1974 verstärkte seine Wirkung noch. Der Preis wurde kurz nach Mises Tod eigentlich für dessen wissenschaftliche Leistungen vergeben und sollte wohl ein Alibi für die Parallelvergabe an Gunnar Myrdal sein, einen schwedischen Etatisten und Befürworter der Eugenik.
Hayek war bis jetzt der einzige Preisträger, der diesen „falschen Nobelpreis“ kritisierte, der von der schwedischen Zentralbank zur wissenschaftlichen Aufwertung moderner Ökonomik finanziert wird entgegen der ausdrücklichen Intention von Alfred Nobel. Denn wirklich groß wird die Ökonomik nur, wenn es etwas zu verteilen gibt. Dann hält sich jede Interessengruppe ihre eigenen Ökonomen, deren Argumente weit weniger relevant sind als die unterstützenden Insignien gesellschaftlicher Relevanz: Titel, Lehrstühle, Nobelpreise und Wissenschaftlichkeit, symbolisiert durch Daten, Formeln und Unverständlichkeit.
Das Ende des Wohlstands
Das Schicksal Hayeks als akademisches Alibi für Interessen war besiegelt, obwohl er sich von der Ökonomik fast ganz abwandte zugunsten seiner eigentlich bahnbrechenden Beiträge in Ideengeschichte, Rechtsphilosophie und Komplexitätswissenschaft. Sogar in Österreich entdeckte man ihn wieder. Aufgrund politischer Intervention wurde aber sein Plan hintertrieben, die wissenschaftliche Diaspora nach Österreich zurückzubringen, und er wurde in eine Kammer an der Universität Salzburg verräumt.
Die fixe Idee der Populisten
1971 hatte jedoch eine Zeitenwende stattgefunden, die letztlich Hayeks Wertschätzung in aller Welt verstärken sollte. Der Zusammenhang ist komplex und verbindet völlig konträre Weltbilder: Seit 1971 führt Produktivitätswachstum nicht mehr zu Kaufkraftwachstum der breiten Masse.
Das Nachkriegswirtschaftswunder eines Wohlstands für alle, das nicht allein auf Deutschland beschränkt war, wurde abgelöst durch das Modell Wohlstand für wenige. Einer der wesentlichen Gründe dafür war das Ende der Vereinbarungen von Bretton Woods: Die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffene Weltwährungsordnung mit „Goldanker“, die durchaus nicht ideal war, wich einer Finanzialisierung mit der Explosion Dollar denominierter Schulden.
Ungleichheit und Spekulation
Die Rückkehr vom Kriegsprotektionismus zum Welthandel, gesichert durch den Weltpolizisten USA, erlaubte wachsenden Nachkriegswohlstand. Diese Globalisierung bedeutete aber auch, dass nun nahezu unerschöpfliche Geldmengen auf der Suche nach Renditen um die ganze Welt strömten. Da sich nicht einmal mehr die Leitwährung zur langfristigen Ersparnisbildung eignete, wurden Sparer in aller Welt entweder schleichend enteignet oder zur Spekulation genötigt. Es kam zum Sparen in Vermögenswerten statt in Geld, wodurch immer mehr Menschen aus Immobilien, Unternehmensanteilen und Rohstoffen „herausgepreist“ wurden.
Die dramatisch steigende Ungleichheit gefährdete die Stabilität von Gesellschaften, doch das einzige Gegenmodell zum vermeintlichen „Kapitalismus“ entblößte sich gleichzeitig als mörderisch und ineffizient. In Großbritannien legten Arbeiter Ende der 1970er-Jahre die Infrastruktur lahm – intellektuell und organisatorisch war aber keine System-Alternative greifbar. Der eigentliche Systemwechsel hatte längst stattgefunden, seine Folgen wurden nur langsam sichtbar und werden bis heute falsch eingeordnet.
Thatcher und Reagan
Die Destabilisierung weckte Sehnsüchte nach dem starken Mann oder der starken Frau. Sowohl Margaret Thatcher als auch Ronald Reagan verbanden Selbstbewusstsein und militärisches Säbelrasseln mit dem Versprechen, statt eines planwirtschaftlichen Chaos neuen Wohlstand für alle zu bringen.
In dieser Ausnahmesituation kam Hayek als akademische Referenz gerade recht. Es waren nicht etwa mächtige Hayek-Schüler an der London School of Economics oder der Chicagoer Schule, die hier verschwörerisch wirkten. In London hatten sich die Keynesianer durchgesetzt, und es gab keinen einzigen Vertreter der Österreichischen Schule mehr. In Chicago hatten sich die Monetaristen durchgesetzt, die in Methodik und Geldtheorie nahezu das Gegenteil der ursprünglichen Österreicher vertreten.
Der Club der Maso-Millionäre
Nicht Kapitalismus hatte den Sozialismus ersetzt, sondern der Geldsozialismus den Produktionssozialismus. Die Wohlstandsexplosion durch die weltweite Arbeitsteilung, angetrieben durch Freihandel und Geldschöpfung, ist historisch einmalig und noch immer unterschätzt. Ebenso unterschätzt werden aber die langfristigen Folgen des Geldsozialismus, der Zentralisierung und der Enthemmung der Geldschöpfung: Ungleichheit, Umweltzerstörung und Kontrollwahn.
Technokraten auf dem Vormarsch
Ludwig von Mises hatte Marktwirtschaft definiert als Demokratie, in der die Konsum- und Sparentscheidungen jedes einzelnen Menschen über die Produktionsstruktur bestimmen und nicht elitäre Pläne. Geldsozialismus hingegen passt die Produktion immer mehr den Wünschen von Technokraten an. Nicht steigendes Wohlbefinden der breiten Masse, sondern kurzfristige Kennzahlen, Willkür und Statusgier dominieren.
Diese Entwicklung erklärt die „Radikalisierung“ der jüngeren Vertreter der Österreichischen Schule in direkter Tradition. Sowohl Mises’ wichtigster amerikanischer Schüler Murray Newton Rothbard, dessen Nachfolger Hans-Hermann Hoppe sowie Hayeks wichtigster europäischer Schüler Roland Baader schwenkten ihren Fokus auf Geld und Politik.
Rothbard wandte sich zunächst der Neuen Linken zu, in scharfer Kritik des außenpolitischen Interventionismus der USA, der unter dem Deckmantel des Freihandels imperiale Ambitionen und Interessen der Finanzwirtschaft kaschiert. Nach wachsender Frustration über Denkverbote, Manipulierbarkeit und Karrierismus aufseiten der Linken fand er zum Populismus. Dieser bezeichnet hier jedoch keine parteipolitische Strategie der Entzweiung, sondern die Umgehung der „Experten“ und „Journalisten“ im akademischmedialen Komplex, um interessierte Laien direkt anzusprechen.
Wegen der oberflächlichen Ähnlichkeiten ist diese Strategie von parteipolitischem Rechtspopulismus kaum zu unterscheiden, weshalb Gegner und Anhänger dieses Etikett nutzen: die einen zur Diskreditierung, die anderen, um politische Wirksamkeit vorzutäuschen.
Ausgerechnet die beiden deutschen Vertreter der Österreichischen Schule gingen letztendlich in ungewöhnlicher Schärfe mit dem Zustand westlicher Politik zu Gericht. Hoppe kritisierte die Kurzfristigkeit der Parteiendemokratie, Baader prägte den Begriff Geldsozialismus. Im Zuge der Polarisierung unserer Zeit ist diese Schärfe aus Enttäuschung und düsteren Vorahnungen nun in der Mitte der Gesellschaft angekommen, während sie bei Hoppe und Baader noch prophetische Dimension hatte. Doch natürlich war es nicht die Macht ihrer Schüler, sondern der Wandel der Welt, der sie als Vorreiter der Wutbürger erscheinen lässt.
Neoliberalismus oder Libertarismus?
Die relevanteste Wirkungsgeschichte der Österreichischen Schule ist eine unsichtbare. Die zwei engsten Schüler Mengers sind die am wenigsten bekannten, denn sie machten keine akademischen Karrieren. Felix Somary ging in die Wirtschaft, Richard Schüller wurde Diplomat. Ersterer wurde zu einem der visionärsten Wirtschaftskenner seiner Zeit und begründete das Schweizer Privatbankwesen. Letzterer war hinter den Kulissen einer der wichtigsten Kämpfer für ein freies und unabhängiges Österreich sowie für eine friedliche Nachkriegsordnung.
Diese Wirkung im Hintergrund zieht sich durch. Die Österreichische Schule inspirierte zahlreiche Unternehmer und Innovatoren. Zu den bekanntesten Projekten zählen Wikipedia und Bitcoin. Die Kryptowährung schließlich führt heute die meisten Menschen zur Österreichischen Schule. Das erweckt den Eindruck, Bitcoin wäre eine Verschwörung dieser „Austrians“ oder „Libertarians“, wie sie oft genannt werden. Wenn die Zeit reif ist, tauchen Ideen eben an so vielen Stellen auf, als hätten ihre toten Vordenker eine geheime Verschwörung in Gang gesetzt.
In Österreich wird man irgendwann auch die verlorenen Söhne und Töchter wieder entdecken und Schautafeln ins Museum stellen. Staatenlos hingegen bleibt die unsichtbare Wirkung besserer Ideen.
Conclusio
Die „Österreichische Schule der Ökonomie“ setzt individuelle Entscheidungen und Handlungen in das Zentrum des Wirtschaftens. Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek entwickelten die Theorie von Carl Menger weiter, der als Gründer der Schule gilt. Ihre Werke zu Geld- und Konjunkturtheorie erklären bis heute den Einfluss von Bankkrediten auf Fehlinvestitionen, Überhitzung und Zusammenbruch der Wirtschaft. Staatliche Rettungsversuche führen demnach zur mehr Risiko und Sorglosigkeit der Akteure. Dass Preise Knappheit zum Ausdruck bringen, ist inmitten der Energiekrise und staatlicher Interventionen von großer aktueller Bedeutung. Die „Austrians“ sind vehemente Kritiker planwirtschaftlicher Geldschöpfung, weil sie zu mehr Ungleichheit und Umweltzerstörung führt.