Der lange Abschied von den Parteien

Die Bundestagswahlen in Deutschland offenbaren die Risse, die sich durch Deutschland ziehen. Die Zeit der Großparteien ist vorbei, die Wähler haben sich verabschiedet.

Helmut Kohl aus der Ferne zu Gast in der Sendung „Wir lassen uns das Singen nicht verbieten“ am 11. September 1985 mit Carolin Reiber. Kohl (CDU) war zu der Zeit zwei Jahre als Bundeskanzler der BRD im Amt. Das Bild ist Teil eines Beitrags des Politikwissenschaftlers Ulrich Menzel über den Strukturwandel der Parteien in Deutschland.
Helmut Kohl aus der Ferne zu Gast in der Sendung „Wir lassen uns das Singen nicht verbieten“ am 11. September 1985 mit Carolin Reiber. Kohl (CDU) war zu der Zeit zwei Jahre als Bundeskanzler der BRD im Amt. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Ende der Großparteien. Medienlogik und Wahlarithmetik täuschten lang darüber hinweg, dass die Zeit der Großparteien bereits seit den 2000er Jahren vorbei ist.
  • Ende der Eindeutigkeit. An die Stelle von Milieus und Parteien-Loyalität sind vielfältige, spontane und schwankende Orientierungen getreten.
  • Ende der Sicherheit. Die Globalisierung hat diesen Abbau der Milieus mit ausgelöst. Ökonomische Unsicherheit trägt zur weiteren Auflösung bei.
  • Ende der Wiedervereinigung. Das aktuelle Wahlergebnis zeigt den Bruch zwischen West- und Ostdeutschland und die Globalisierungseffekte deutlich.

Die vorgezogene Bundestagswahl vom 23. Februar 2025 hat viele Verlierer und wenige Gewinner und vor allen Dingen zu einer prekären politischen Konstellation geführt, die sich schon seit langem angedeutet und bereits durch die drei Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern vom Herbst 2024 vorweggenommen wurde.

Die wichtigsten Erkenntnisse im Telegrammstil: Die deutsche Wiedervereinigung ist gescheitert. Ein Blick auf die Karte der Wahlkreise zeigt, dass die AfD fast alle ostdeutschen Wahlkreisen (ohne Berlin) bei den Erststimmen gewonnen hat.

Die eigentlichen Wahlsieger sind AfD, Die Linke und um ein Haar sogar das BSW. Zählt man die Stimmen für diese typischen „Ostparteien“ zusammen, kommt man im Osten fast überall auf sechzig bis siebzig Prozent. Die typischen „Westparteien“ wie Grüne, FDP und selbst SPD sind im Osten nahezu marginalisiert.

Wenn die Wahlbeteiligung nicht um 6,2 Prozent zugenommen und die Zahl der ungültigen Stimmen sich nicht fast halbiert hätte, wären die Westparteien auch im Westen stärker geschrumpft.

Die Union bleibt trotz Stimmenzuwachs bundesweit bei für sie enttäuschenden 28,6 Prozent stecken. Ohne den Beitrag der CSU, die in Bayern immer noch an die 40 Prozent herankommt, sähe es für die CDU mit ihren 22,6 Prozent fast so trübe aus wie für die SPD, die keine Volkspartei mehr ist. Wenige tausend Stimmen mehr für das BSW hätten zu einer Keniakoalition aus Union, SPD und Grünen geführt und bedeutet, dass wie bei der Ampel die Konflikte zwischen Regierung und Opposition innerhalb der Regierung hätten ausgetragen werden müssen.

Eine grundsätzliche Wende in der Politik wird es nicht geben, weil die knappe Regierungsmehrheit von schwarz-rot immer durch wenige Abweichler aus der SPD gefährdet ist und damit der AFD jederzeit die ungewollte Möglichkeit verschafft, bei für die SPD unpopulären Gesetzesvorlagen als Mehrheitsbeschaffer zu fungieren. Wie das funktioniert, haben wir bei der Abstimmung über das „Zustrombegrenzungsgesetz“ bereits erlebt.

Der typische AfD-Wähler stammt aus dem Osten, ist männlich, jung, wohnt in der Provinz, hat einen geringen Bildungsgrad und befindet sich in einer prekären wirtschaftlichen Situation.

Die FDP und damit der parteipolitische Liberalismus wird keine Rolle mehr spielen. Union und SPD werden im Westen zu „Rentnerparteien“, wie der hohe Anteil der über 60jährigen in ihrer Wählerschaft zum Ausdruck bringt – eine Konsequenz des demographischen Wandels, der sie zwingt, der steigenden Lebenserwartung bei der Subvention der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung Rechnung zu tragen.

Bonner Repubik: Helmut Kohl auf einen Teil der neu im Bundestag vertetenen Grünen blíckend: Walter Schwenninger, Otto Schily, Marieluise Beck-Oberdorf und Petra Kelly.
Bonner Repubik im März 1983: Helmut Kohl auf einen Teil der neu im Bundestag vertetenen Grünen blíckend: Walter Schwenninger, Otto Schily, Marieluise Beck-Oberdorf und Petra Kelly. © Getty Images

Die Jungen und Erstwähler wählen immer weniger grün, sondern, die eigentliche Überraschung, Die Linke und die AfD. Der typische AfD-Wähler stammt aus dem Osten, ist männlich, jung, wohnt in der Provinz, hat einen geringen Bildungsgrad und befindet sich in einer prekären wirtschaftlichen Situation. Das komplette Gegenstück ist der typische Wähler der Grünen. Er lebt im Westen in einer Groß- oder Universitätsstadt, ist weiblich, hat einen hohen Bildungsgrad und befindet sich in einer guten wirtschaftlichen Situation und ist demnach nicht mehr ganz jung.

Das Ausmaß der Parteien-Krise

Was sind die eigentlichen Ursachen für den Strukturwandel des Parteiensystems, der sich im Niedergang der Volksparteien, der neuen Zersplitterung der Parteienlandschaft, der Stärkung der Ränder, der schrumpfenden Mitte und der Wiederkehr von BRD und DDR auf der politischen Landkarte äußert?

Bei der Ursachenforschung verweist ein Strang der Literatur auf die personellen Querelen, parteiinternen Machtkämpfe und den häufigen Wechsel des Führungspersonals, die SPD wie CDU in den letzten Jahren fast schon zerrissen haben. Auch wenn die Bedeutung eines akteursorientierten Ansatzes nicht grundsätzlich geleugnet wird, so soll hier ein struktureller verfolgt werden.

Verschleiert wurde der Niedergang der Volksparteien, die zu ihren besten Zeiten bis zu 90 Prozent der Wählerschaft an sich binden konnten, lange Zeit durch den Umstand, dass die Wahlberichterstattung und deren Analyse immer nur mit relativen Zahlen operiert.

Auf dem Potsdamer Platz in Berlin im Februar 1992. Bei der Bundestagswahl 2025 wurde Die Linke stärkste Kraft, gefolgt von CDU und Grünen. Ds Bild ist Teil eines Beitrags von Ulrich Menzel über den Strukturwandel der Parteien in Folge der Globalisierung.
Auf dem Potsdamer Platz in Berlin im Februar 1992. Bei der Bundestagswahl 2025 wurde Die Linke stärkste Kraft, gefolgt von CDU und Grünen. © Getty Images

Wieviel Prozent hat eine Partei gegenüber der letzten Wahl gewonnen oder verloren? Wieviel Prozent hat sie mehr oder weniger als der politische Gegner erreicht? Welche relative Verteilung ergibt sich daraus im Parlament als dem eigentlichen politischen Ergebnis?

Aufgrund der wachsenden Zahl von Überhang- und Ausgleichsmandaten wurde der Bundestag vor der Reform des Wahlrechts immer weiter aufgebläht, so dass sich eine Niederlage gar nicht in einer rückläufigen Zahl von Mandaten niederschlagen musste und so wie ein Pflaster auf die Wunden der Verlierer wirkte.

Da die Gewinner einen zusätzlichen Bonus kassiert haben, waren beide lange Zeit nicht wirklich an einer Reform des Wahlrechts interessiert. So konnte die Union zum Beispiel 2009 als große Wahlsiegerin gefeiert werden, obwohl sie zwei Millionen Stimmen weniger als 2005 erreicht hatte. Da die SPD mehr als sechs Millionen Stimmen eingebüßt hatte, reichte es relativ für einen Zuwachs. Die acht Millionen verlorenen Stimmen beider Parteien wanderten aber nur zum geringeren Teil zu den kleinen Parteien. Das eigentlich herausragende Ergebnis der Wahl war, dass das Lager der Nichtwähler von 13,8 auf 18,2 Millionen angeschwollen war, was den Kommentatoren allenfalls eine Randnotiz wert war.

Im Folgenden sollen deshalb nicht die relativen, sondern die absoluten Stimmen über den Zeitraum von der ersten Bundestagswahl 1949 bis zur letzten 2025 dokumentiert und analysiert werden.

Demnach hatten SPD und Union seit 1949 einen stetigen Aufwärtstrend erfahren, weil sie die kleinen Parteien am linken und rechten Rand des Spektrums, die in den drei ersten Bundestagen noch vertreten beziehungsweise an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert waren, aufgesogen haben. 1961 hatte sich die vertraute Struktur von zwei großen und einer kleinen Partei (FDP) etabliert, die im politischen Farbenspiel die Deutschlandfahne schwarz-rot-gold (gelb) abbildet.

1990 hatten die Union mit Kohl als Spitzenkandidat, nicht zuletzt vereinigungsbedingt, mit 20,4 Millionen Stimmen und 1998 die SPD mit Schröder als Spitzenkandidat mit 20,2 Millionen Stimmen jeweils die 20 Millionen-Marke geknackt.

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Zahlen & Fakten

Die Jusos, vertreten durch Jo Leinen (links) 8dn Gerhard Schröder (rechts) suchen den Kontakt mit Neuen Sozialen Bewegungen – hier im Mai 1980 zur Antiatomkraftbewegung in der Nähe von Gorleben in der Freien Republik Wendland. Das Bild ist Teil eines Beitrags von Ulrich Menzel über die Effekte der Globalisierung auf den Strukturwandel der Parteienlandschaft in Deutschland anlässlich der Bundestagswahl 2025.
Die Jusos, vertreten durch Jo Leinen (links) und Gerhard Schröder (rechts) suchen den Kontakt mit Neuen Sozialen Bewegungen – hier im Mai 1980 zur Antiatomkraftbewegung in der Nähe von Gorleben in der Freien Republik Wendland. © Getty Images

Schwindende Zustimmung

Der Strukturwandel trifft die Parteien ab 2000 besonders hart. Die Wähler von SPD und CDU wandern parallel zur fortschreitenden Globalisierung zu den neuen kleineren Parteien ab oder wählen gar nicht mehr.

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Seitdem haben beide einen drastischen Rückgang zu verzeichnen auf 11,2 Millionen Stimmen (Union 2021) bzw. 8,1 Millionen Stimmen (SPD 2025), auch wenn Union 2025 und SPD 2021 ein Zwischenhoch verzeichnen konnten. Von Volksparteien kann wahrlich keine Rede mehr sein. Parallel zum Abstieg der alten Volksparteien hat sich das Spektrum der im Bundes-tag vertretenen Parteien wieder gespreizt mit den Grünen seit 1983, der Linken seit 1990, der AfD seit 2017 und beinahe dem BSW 2025, was neue Koalitionskonstellationen nicht nur möglich macht, sondern sogar erzwingt, weil selbst eine „Groko“, mittlerweile ein antiquierter Begriff, keine Mehrheit mehr garantiert.

Nichtwähler und Parteien-Skeptiker

Der eigentlich frappierende Befund ist der rasante Zuwachs der Nichtwähler, die 1972 auf dem historischen Tiefpunkt von 3,7 Millionen gelandet waren, Ausdruck der damaligen Politisierung der Gesellschaft, und bis 2009 auf 18,2 Millionen zugenommen haben. Dass deren Zahl in den letzten drei Wahlen wieder rückläufig war, täuscht insofern, als gleichzeitig die Zahl der Wähler, die auf alte und viele neue Splitterparteien entfallen, drastisch zugenommen hat von bloß 33.600 (1976) auf 4,7 Millionen (2025).

Bei den hohen Werten für 1990, 2013 und 2025 ist allerdings zu berücksichtigen, dass erst die Grünen und dann zweimal die FDP knapp an der Fünf Prozent-Hürde gescheitert sind. Rechnet man noch die Zahl der ungültig Wählenden, auch eine Wahlalternative, hinzu, die um die 500.000 schwankt, ergibt sich ein stabiler Sockel von etwa 18,5 Millionen, die entweder nicht wählen, ungültig wählen oder für Splitterparteien votieren – für die Wahlforschung ein unbeschriebenes Blatt.

Alle drei Gruppen sind Varianten eines Spektrums von Bequemlichkeit über Desinteresse bis Protest mit Schnittmengen zum volatilen Wählerpotential im Osten, wo Wähler der Linken kein Problem haben, zum BSW oder direkt zur AfD zu wandern.

Ein ähnliches Bild bietet die Mitgliederentwicklung der Parteien. Nach starker Fluktuation beziehungsweise aufgrund unklarer Datenlage mit Mehrfachzählungen in der Frühphase der BRD konnte zuerst die SPD und wenig später die CDU einen starken Mitgliederzuwachs verzeichnen.

Die SPD erreichte ihren Gipfel 1976 mit 1.022.191, eine Folge der Mobilisierung in der Brandt-Ära und der Sozialliberalen Koalition, die CDU 1990 mit 789.609, eine Reaktion auf Kohl, die Wiedervereinigung und die Komplettübernahme der Blockpartei CDU-Ost.

In Frankfurt im Oktober 1999: Noch ist Angela Merkel Generalsekretärin der CDU und Hildegard Müller Vorsitzende der Jungen Union. Das Bild ist Teil eines Beitrags von Ulrich Menzel über die Effekte der Globalisierung auf den Strukturwandel der Parteienlandschaft in Deutschland anlässlich der Bundestagswahl 2025.
In Frankfurt im Oktober 1999: Noch ist Angela Merkel Generalsekretärin der CDU und Hildegard Müller Vorsitzende der Jungen Union. © Getty Images

Zählt man die CSU mit 186.198 hinzu, streiften beide Volksparteien die lichte Höhe von einer Million Mitglieder. Seitdem marschieren beide im Gleichschritt abwärts und sind Ende 2024 in der trüben Dunkelheit von 384.204 (CDU), 132.593 (CSU) und 393.727 (SPD) Ende 2023 angelangt – für Volksparteien definitiv zu wenig, wirkt doch jedes Mitglied wie ein Multiplikator in der Familie, in der Nachbarschaft, auf der Arbeit, im Verein und in der Kneipe. Die aus dem Mitgliederschwund resultierende nachlassende Multiplikatorenwirkung sollte nicht unterschätzt werden.

Parallel dazu veränderte sich die Altersstruktur der Parteien. Weil in der Aufschwungphase viele junge Mitglieder eingetreten waren, sank der Altersschnitt, in der Abschwungphase nahm er wieder zu, weil weniger (Junge) eintraten als starben, austraten oder ausgeschlossen wurden wegen säumiger Mitgliedsbeiträge. Ein Teufelskreis. Je älter die Parteimitgliedschaft, desto weniger attraktiv ist sie für potentielle junge Neumitglieder.

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Zahlen & Fakten

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Bei den Grünen war es genau umgekehrt. Sie sind von den bescheidenen Anfängen 1979 mit 11.156 Mitgliedern mittlerweile auf ca. 150.000 (Ende 2024) gewachsen, wobei sich der Zuwachs seit 2017 beschleunigt. In Bezug auf das Durchschnittsalter sind sie deshalb eher jung geblieben. Ein Engelskreis.

Die Mitgliedschaft der FDP schwankte durchgängig um die 65.000. Der Peak des Jahres 1990 war wie bei der CDU ein flüchtiger Mitnahmeeffekt der anderen Blockpartei LDP. Die Linke hatte (relativ) den dramatischsten Mitgliederschwund zu verzeichnen von 280.882 (1990) auf nur noch 58.000 (Ende 2024), handelt es sich doch nicht um eine neue, sondern um eine ganz alte Partei, die erst in der KPD, dann der SED und zuletzt der PDS ihre Wurzeln hat und wegen der noch lebenden ehemaligen SED-Kader den höchsten Altersschnitt aller Parteien. In den letzten Wochen verzeichnete sie allerdings einen stattlichen Zustrom von jungen Neumitgliedern – eine Erklärung für ihren überraschenden Stimmenzuwachs.

Bleibt die AfD, deren Aufwärtstrend von 17.687 (2013) auf 51.370 (Ende 2024) immer wieder gebrochen beziehungsweise abgebrochen wurde durch die mehrfachen Häutungen, die den bürgerlich-konservativen Teil abgestoßen haben.

Die Ursachen der Parteienkrise

Soweit die Empirie. Zu deren Erklärung bieten sich zwei Theorien an. Die erste ist die von Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan 1967 formulierte Cleavage-Theorie. Sie besagt, dass Parteien, die Massenparteien werden und nicht Honoratiorenparteien bleiben wollen, sich an innergesellschaftlichen Konflikt- oder Bruchlinien zu orientieren haben.

In ihrer Formationsphase, der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts waren das die Cleavages zwischen Kapital und Arbeit, Staat und Kirche, Stadt und Land sowie Zentrum und Peripherie, aus Mehrheitsgesellschaft und ethnischen, nationalen oder religiösen Minderheiten.

Im Deutschen Reich war die erste für die SPD relevant, die zweite für das Zentrum, das zusammen mit der Bayerischen Volkspartei (BVP) die katholische Minderheit im Reichstag vertrat, während die Protestanten wegen der Nähe von Thron und Altar gerade in Preußen einer eigenen politischen Partei nicht bedurften.

Die dritte Cleavage markierte die Interessenlage der städtisch-gewerblichen Bevölkerung, die von den Liberalen vertreten wurde, gegenüber der von den Konservativen bedienten ländlich-agrarischen. Die vierte war im Deutschen Reich weniger relevant, auch wenn es politische Vertretungen der Polen, Dänen und Franzosen gab.

Die zweite Theorie lautet, dass Massenparteien beziehungsweise Volksparteien sozialen Milieus verankert sein müssen, die sie tragen. Für die SPD war es das gewerkschaftliche Milieu, das nicht nur aus den Gewerkschaften, sondern auch dem dritten Bein der Arbeiterbewegung, den Genossenschaften, bestand, ferner ihrer Presse, den Verlagen, Bildungs- und Sozialeinrichtungen wie AWO und ASB sowie den vielen Vereinen vom Fußball (Eintracht oder Rot-Weiß) über die Bergmannskapelle bis zu den Taubenzüchtern.

Für Zentrum/BVP und nach 1945 für CDU/CSU war es das kirchliche Milieu, das nicht nur aus den Kirchen, dem Kirchenjahr und der Begleitung der Familienfeste von der Taufe bis zur Beerdigung, sondern auch aus den vielen kirchlichen Institutionen bestand vom Kindergarten über die Schule bis zur Alten- und Krankenpflege, den Jugendorganisationen, Kirchenchören und Bibelkreisen.

Auch die katholischen Gewerkschaften gehörten dazu. Die Arbeiterschaft im katholischen Ruhrgebiet hat bis 1933 Zentrum oder sogar polnisch und keineswegs SPD gewählt! Liberale und Konservative waren nicht in vergleichbar breite Milieus eingebettet, sondern blieben dem Typus der Honoratioren-Parteien mit ihren persönlichen Netzwerken verhaftet, was für die FDP bis heute gilt.

Die ökonomische Frage

In dem Maße, wie der Strukturwandel von der Agrar- über die Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft bis hin zur virtuellen Ökonomie des Internets Platz greift, werden die alten gesellschaftlichen Bruchlinien geschliffen.

Der Aufstieg Ost- und Südostasiens zur „Werkstadt der Welt“ wurde erkauft mit dem Niedergang der alten Industrieregionen des Westens. Hier kommt ganz augenscheinlich der Faktor Globalisierung ins Spiel, die sich als Nullsummenspiel erweist.

Die neue internationale Arbeitsteilung, aber auch die Automatisierung und Digitalisierung, führen dazu, dass es hierzulande immer weniger Arbeiter, immer weniger Gewerkschafts- und Genossenschaftsmitglieder gibt. Man denke nur an das Schicksal von Konsum, Neue Heimat, Bank für Gemeinwirtschaft und Volksfürsorge.

Weitere Facetten der Globalisierung sind Prozesse der Säkularisierung und des kulturellen Wandels, die gerade die Kirchen betreffen mit der Folge von Mitgliederschwund, rückläufiger Kirchensteuer und der Notwendigkeit, kirchliche Leistungen zu reduzieren und Institutionen ganz abzubauen. Auf dem Land betreut ein Pfarrer nicht mehr eine, sondern bis zu fünf, sechs Gemeinden.

Umgekehrt haben sich neue Bruchlinien gebildet, die zu Zeiten von Lipset und Rokkan noch unbekannt waren. Gemeint ist die zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung nicht nur im Weltmaßstab, sondern auch innerhalb der ehemaligen Industriegesellschaften.

Die Gewinner sitzen in Metropolen wie Frankfurt oder London und arbeiten in den expandierenden Branchen des FIRE-Sektors (Finance, Insurance, Real Estate). Seit der Finanzkrise und der Null Zins-Politik zu ihrer Bekämpfung boomt die Immobilienbranche besonders. Die Verlierer der Globalisierung sitzen in den alten Industrieregionen, da, wo sich die Industriebrache ausbreitet, im Rustbelt der USA, in den englischen Midlands, wo die Industrielle Revolution ihren Ausgang nahm oder im Ruhrgebiet.

Hierzulande gibt es sogar die doppelten Verlierer, erst der Wiedervereinigung und dann der Globalisierung, ist der eingemauerte deutsche Osten doch erst seit 1990 mit der Globalisierung konfrontiert worden. Die zweite neue Bruchlinie ist die zwischen Ökonomie und Ökologie – in anderer Hinsicht ein Resultat der Globalisierung. Die vielen Faktoren auf-zuzählen, etwa den Energieverbrauch und die Emissionen auf den „Lieferketten“ des weltweiten Gütertransports zu Wasser und zu Lande, erübrigt sich.

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Zahlen & Fakten

Im August 2013 in Hamburg: Die neu gegründete AfD im Bundeswahlkampf. Nach der Griechenland- und Finanzkrise war Euroskepsis das Hauptthema der Partei. Das Bild ist Teil eines Beitrags von Ulrich Menzel über die Effekte der Globalisierung auf den Strukturwandel der Parteienlandschaft in Deutschland anlässlich der Bundestagswahl 2025.
Im August 2013 in Hamburg: Die neu gegründete AfD im Bundeswahlkampf. Nach der Griechenland- und Finanzkrise war Euroskepsis kurze Zeit das Hauptthema der Partei. © Getty Images

Zwei AfD-Paradoxa

Ebenso wie Partei im Osten zwar die meisten Stimmen erhält, aber die wenigsten Mitglieder hat, punktet die AfD mit dem Migrationsthema dort, wo die wenigsten Ausländer leben.

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Aber auch die Migration, die in Europa seit 2015 dramatisch zugenommen hat, ist ein Aspekt der Globalisierung. Auf der einen Seite ist Zuwanderung unverzichtbar, da aufgrund des demographischen Wandels und der alternden Gesellschaft viele Gewerbe ohne zugewanderte Arbeitskräfte nicht mehr existieren könnten. Man denke nur an das Baugewerbe, Hotel und Gaststätten, Kranken- und Altenpflege, Reinigungsdienste, Paketboden oder LKW-Fahrer. Das ist der wirtschaftliche Aspekt.

Auf der anderen Seite wird Zuwanderung, gerade in den vom Globalisierungsdruck besonders betroffenen alten Industrieregionen als Bedrohung empfunden, als Konkurrenz um einen schrumpfenden Arbeitsmarkt und im Sinne von kultureller Überfremdung. Das ist der politische Aspekt, der paradoxerweise dort besonders stark ausgeprägt ist, wo der Anteil der Migranten am geringsten ist wie in den östlichen Bundesländern. Nicht das was ist, sondern die Wahrnehmung dessen, was gerade nicht ist, bestimmt das Handeln!

Was bedeutet das für die Milieus? Auf der einen Seite zerbröselt das gewerkschaftliche Milieu genauso wie das kirchliche mit den genannten Konsequenzen für Mitgliedschaft und Wählerschaft von SPD und Union. Die FDP ist kaum betroffen, gehört ihre Klientel doch zu den Gewinnern der Globalisierung.

Gleichzeitig haben sich zwei neue Milieus etabliert, die als das kosmopolitische und das populistische bezeichnet werden. Im kosmopolitischen versammeln sich die Gewinner der Globalisierung, die mit den überdurchschnittlichen Einkommen, die Gebildeten, die Großstadtbewohner, die Weitgereisten, die Fremdsprachenkundigen, die Globalisierung auch in kultureller Hinsicht als Bereicherung empfinden.

Die Ampelkoalition war auch strukturell bedingt.

Hierzu gehört paradoxerweise auch ein Teil der Globalisierungskritiker, der durch den Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie mobilisiert wird. Dieses Milieu wurzelt in der 68er Bewegung, der Friedensbewegung, den Dritte Welt-Gruppen, den Anti-AKW- und Umweltgruppen, den Menschenrechts-, Feminismus-, Gender- Flüchtlings- und neuerdings Demokratieinitiativen.

Wirtschaftsminister Robert Habeck bei dem Wasserstoffhersteller Sunfire in Dresden. Das Unternehmen investiert 255 Millionen Euro in den Standort, vom Bund kommen 162 Millionen.
Wirtschaftsminister Robert Habeck bei dem Wasserstoffhersteller Sunfire in Dresden. Das Unternehmen investiert 255 Millionen Euro in den Standort, vom Bund kommen 162 Millionen. Erfolge wie dieser blieben unbedankt: Bei der Bundestagswahl konnten die Grünen im Osten Deutschlands dennoch kaum Stimmen holen. © Getty Images

Auch wenn dessen Mitglieder überwiegend einen bürgerlichen Hintergrund haben, so verstehen sie sich zwar nicht sozio-ökonomisch, aber doch kulturell als links. Alles das erklärt den Aufstieg der Grünen, zwar nicht zur Volkspartei, aber zu einer neuen bürgerlichen Partei mit, wenn auch nicht widerspruchsfreier, Schnittmenge zur FDP und abnehmender Schnittmenge zur SPD. Insofern war die alte Ampelkoalition nicht nur das arithmetische Resultat der Wahl bzeiherungsweise der falschen personellen Entscheidungen über die Spitzenkandidatur bei Union und Grünen, sondern auch strukturell bedingt.

Auch die Etablierung des populistischen Milieus ist eine Reaktion auf die Globalisierung – in sozioökonomischer Hinsicht durch den Verdrängungswettbewerb, in kultureller Hinsicht durch die Migration insbesondere dann, wenn der Faktor Islam hinzukommt. Hier wird Globalisierung nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung empfunden, nicht zuletzt deshalb, weil die eigentliche Integrationsarbeit nicht in den gutbürgerlichen Vierteln der Kosmopoliten, sondern den sozialen Brennpunkten geleistet werden muss. Im Osten kam der vereinigungsbedingte Verdrängungswettbewerb hinzu – auch innerhalb Deutschlands ein Nullsummenspiel.

Aus dem populistischen Milieu rekrutieren sich in den USA die Trump-Wähler, in Großbritannien die Brexit-Befürworter, in Frankreich der Front National, in Italien die Fratelli d´Italia und in Deutschland die AfD. Sich überlappende und nicht widerspruchsfreie Komponenten des sehr heterogenen Milieus sind die Reichsbürger, Identitären, Verschwörungstheoretiker, Querdenker, Pegida, Putin-Versteher, alte und neue Nazis, Esoteriker, Impfgegner, Sekten, aber auch alte Waffennarren und neue Kampfsportgruppen, Rocker, Hooligans und radikale Fangruppen des Fußballs. Zwischen AfD-Wählern, rechtsradikalen Splitterparteien, Nichtwählern und ungültig Wählenden sind die Grenzen fließend, weshalb auch die Klientel der AfD sehr volatil ist.

Globalisierungsverlierer im Osten?

Dass es zwar kaum in den alten, sehr wohl aber in den neuen Bundesländern eine Wählerwanderung von der Linken zum BSW beziehungsweise zur AFD gibt, hat demnach auch strukturelle Gründe, insofern es im „Osten“ besonders viele Globalisierungsverlierer im doppelten Sinne gibt.

Im Chemiedreieck des mitteldeutschen Braunkohlereviers etwa gibt es in dem Maße, in dem die Bruchlinie zwischen Ökologie und Ökonomie geschliffen wird, weil Braunkohle durch Flüssiggas aus aller Welt ersetzt wird, sogar noch eine Steigerung auf der Verliererskala. Aus dieser Perspektive war sogar der Rettungsversuch der Sahra Wagenknecht für die bereits scheinbar rettungslos im Abstieg befindliche Linke nachvollziehbar, indem sie den klassischen Internationalismus der Linken durch einen „nationalen Sozialismus“ ersetzen wollte. Der Begriff ruft in Deutschland keine guten Erinnerungen hervor.

9. November 2024 in Berlin: Gedenkfeiern zum 35. Jahrestag des Mauerfalls. Das Bild ist Teil eines Beitrags von Ulrich Menzel über die Effekte der Globalisierung auf den Strukturwandel der Parteienlandschaft in Deutschland anlässlich der Bundestagswahl 2025.
9. November 2024 in Berlin: Gedenkfeiern zum 35. Jahrestag des Mauerfalls. © Getty Images

In dem Maße, wie die alten Bruchlinien abstumpfen und die alten Milieus zerbröseln, während die neuen Bruchlinien sich schärfen und die neuen Milieus Zulauf bekommen, werden der Niedergang der alten Volksparteien und der Strukturwandel des Parteiensystems sich fortsetzen unabhängig von der Frage, welche personellen und politischen Angebote die Parteien machen.

Im Osten verlaufen diese Vorgänge, wie die aktuelle Bundestagswahl eindrucksvoll unter Beweis stellt, um so radikaler, weil zu DDR-Zeiten die alten Bruchlinien und die alten Milieus durch den SED-Staat platt gemacht worden sind und seit der Wende nur rudimentär wiederbelebt beziehungsweise überhaupt gebildet worden sind.

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Conclusio

Welt von gestern. Die stabilen Milieus, die die Basis der großen Volksparteien waren, gehören geradezu einer anderen kulturellen Epoche an. Vor allem fehlt die sozio-ökonomische Basis für diese. Nationalismen. Die vorläufige Antwort des Populismus auf die Globalisierung lautet nationale Abschottung. Jedoch ist das in einer vernetzten Welt kaum eine Option.
Herausforderung. Demokratien wie die deutsche müssen sich ohne Volksparteien neu erfinden. Die Repräsentationslücke könnte zu einer Legitimitätskrise führen.

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