Das Rückgrat der Demokratie

Ob Ehrenamt, soziale Dienste oder politisches Engagement: Die ukrainische Demokratie ruht auf einer starken Zivilgesellschaft. Kann Europa davon lernen?

Freiwillige, Rettungskräfte und Militärangehörige tragen eine provisorische Wasserleitung nachdem ein russischer Raketenangriff ein Kinderkrankenhaus in Kyiw zerstört hat. Das Foto ist Teil eines Beitrags über die Rolle der Zivilgesellschaft der Ukraine im Krieg.
Nach der Zerstörung des Kinderkrankenhauses in Kyiw am 9. Juli 2024. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Hohe Erwartungen. Die Ansprüche an staatliche Institutionen sind ausgeprägt, ebenso wie die Überzeugung von der Notwendigkeit zivilgesellschaftlicher Kontrolle.
  • Kriegseffekte. Die Ukrainer und Ukrainerinnen haben im Krieg viele eigentlich staatliche Aufgaben in Freiwilligenarbeit übernommen.
  • Effizienz. Auf lokaler und regionaler Ebene wird den Freiwilligen-Organisationen und NGO mehr Kompetenz und Effizienz zugetraut als dem Staat.
  • Regionale Stärke. Das „Dreigestirn“ aus Gemeindevertretung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft stärkt die Demokratie, ermöglicht aber auch informellen Einfluss.


Vor etwas mehr als zwei Jahren habe ich in einem Beitrag für dieses Medium beschrieben, warum die ukrainische Gesellschaft in ihrer Selbstorganisation und ihrem politischen Aktivismus außergewöhnlich ist. In der Zwischenzeit konnte ich eine Untersuchung darüber abschließen, was Akteure der Zivilgesellschaft unter guter Regierungsführung verstehen und wie sie dies in der Ukraine beurteilen. Diese jüngsten Ergebnisse bestätigen vieler meiner Aussagen aus dem Jahr 2022 empirisch.

Mehr über die Ukraine

Für die Untersuchung habe ich 40 Führungspersönlichkeiten und Experten der Zivilgesellschaft aus vier ukrainischen Städten befragt. Zwei dieser Städte liegen an der Frontlinie (Sumy im Norden und Mykolajiw im Süden des Landes), zwei im Hinterland (Winnyzja im Zentrum und Lutsk im Westen).

Ich habe die Teilnehmer an der Untersuchung gefragt, welche Institutionen seit dem 24. Februar 2022 am effektivsten waren und welche Funktionen sie üblicherweise erfüllten. Ich wollte wissen, wie sich sowohl die „formellen“ staatlichen Institutionen (Bürgermeister, Stadtrat, Armeekommandeure, der Präsident, das Parlament) als auch die „informellen“ zivilen Institutionen (größere Unternehmen, die Führung religiöser Gemeinschaften, Medienschaffende, Leiter von Nichtregierungsorganisationen) verhalten haben. Die Ergebnisse meiner Untersuchung werden in diesem Artikel zum ersten Mal vorgestellt.

Zivilgesellschaft vor dem Krieg ...

Im Jahr 2020 führte der World Value Survey (WVS) für seinen Bericht („Welle 7“) Hunderte von Interviews und soziologischen Umfragen in der Ukraine durch. Die WVS-Ergebnisse in Bezug auf sozialen Aktivismus und politische Mobilisierung zeigen, dass 45 Prozent der Ukrainer glauben, dass der Schutz ihrer Bürgerrechte eine ausreichende Rechtfertigung für den Widerstand gegen Unterdrückung darstellt; 40 Prozent der Befragten haben an friedlichen Demonstrationen teilgenommen oder geben an, wahrscheinlich daran teilzunehmen; 18,9 Prozent haben bereits politische Aktivitäten online organisiert oder werden dies möglicherweise tun; 49,8 Prozent haben großes Vertrauen in karitative oder humanitäre Organisationen; und 46,3 Prozent haben Geld für soziale Gruppen beziehungsweise Kampagnen gespendet oder werden dies möglicherweise tun.

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Zahlen & Fakten

Proteste von hauptsächlich jungen Menschen, die 2019 in Kyjiw den neu gewählten Präsidenten Wolodymyr an die Versprechen des Euromajdan erinnern. Die Protestierenden fordern den Beitritt zu Nato und EU.
Kyjiw am 8. Dezember 2019: Fünf Jahre nach dem Euromajdan und der Annexion der Krym erinnern die Protestierenden Wolodymyr Selenskyj daran, dass er beim sogenannten Normandie-Format keine Zugeständnisse an Russland machen soll. Die Proteste gingen als Rote-Linien-Proteste in die Geschichte der Ukraine ein. © Getty Images

Selenskyj, die NATO und der Westen

  • „Diener des Volkes“ (Sluha narodu) heißt die Serie, mit der der Comedian Wolodymyr Selenskyj berühmt wird. Er spielt darin einen ungeschickten Lehrer, dem es passiert, dass er Präsident wird. In einer der Schlüsselszenen erhält er einen Anruf von Angela Merkel, in dem sie ihm mitteilt, dass sein Land in die EU aufgenommen sei. Es stellt sich dann heraus, dass sie die Ukraine mit Montenegro verwechselt.
  • Die Opposition in der Ukraine warf Selenskyj seine Nähe zum Oligarchen Ihor Kolomojskyj vor. Der Milliardär lebte unter anderem in Wien. Er ist nun in der Ukraine in Haft. Bei den Präsidentschaftswahlen unterstützte Angela Merkel Petro Poroschenko, allerdings bestanden die engsten Beziehungen zu Wladimir Putin.
  • Am 21. April 2019 gewann Wolodymyr Selenskyj die Präsidentschaftswahlen mit 73 Prozent der Stimmen. Selenskyj erzwang einige Monate später Neuwahlen, die seine Partei überragend gewann.
  • Das Normandie-Format unter der Ägide Deutschlands und Frankreichs sah vor, dass Wladimir Putin und die jeweilige ukrainische Führung regelmäßig Kontakt haben, um über die Annexion der Krym und die besetzten Gebiete im Donbass zu verhandeln. Diese Verhandlungen waren 2019 ins Stocken geraten. Am 9. Dezember 2019, dem ersten Normandie-Forum für Selenskyj in Paris verständigten sich Selenskyj und Putin auf einen Gefangenenaustausch, einen Waffenstillstand und einen begrenzten Teilrückzug der Truppen; ebenso bekannten sich Russland und die Ukraine zur Steinmeier-Formel, die einen Sonderstatus für die Donetsk und Luhansk unter Aufsicht der OSZE vorsah.
  • Die Pipeline Nordstream II wurde unterdessen gebaut. Für die deutsche Politik und Wirtschaft galt sie, wie auch Nordstream I, als Wirtschaftsprojekt. Als der belarussische Journalist Raman Pratassewitsch und seine Lebensgefährtin im Mai 2021verhaftet wurden, schloss sich die Ukraine den EU-Sanktionen gegen Belarus an.
  • Am 24. Februar 2022, als die russischen Truppen einmarschiert sind, stellte sich Selenskyj auf den Unabhängigkeitsplatz und nahm mit vier weiteren Politikern, darunter Ministerpräsident Schmyhal, ein Video auf, das keinen Zweifel am Widerstand der Ukraine lässt. Der Ukraine wurden nicht viele Chancen eingeräumt. „Euch bleiben nur wenige Stunden“ soll Christian Lindner zu Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine in Deutschland, gesagt haben. In dem Video sagte Selenskyj die Worte „Slawa Ukrajini!“, ein Slogan, der seit 2018 das Motto der ukrainischen Armee ist, aber wegen der Verbrechen der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) in Wolhynien in den 1940er und noch 1950er Jahren als Ausdruck gewaltsamen ukrainischen Nationalismus und als Ausdruck der antipolnischen Gewalt galt. Die Solidarität Polens, das auch die meisten ukrainischen Flüchtlinge aufnahm, ist für die Historikerin Kornelia Kończal ein Zeichen der erfolgreichen gemeinsamen Aufarbeitung der Geschichte.
  • Der Beistand aus dem Westen kommt zögerlich, wie schon 2014 steht der Bruch der NATO-Staaten mit dem Budapester Memorandum von 1994 im Raum. Selenskyj gelang es schließlich Waffenlieferungen durchzusetzen und wirbt für einen NATO-Beitritt der Ukraine. Es gelang ihm nicht, beim Gipfel in Vilnius im Sommer 2023 blieb die Einladung der NATO aus.

Die hohen Anteile aktiver Bürger und Bürgerinnen zeigen, dass die Bedeutung von sozialem Aktivismus und politischen Initiativen an der Basis der Gesellschaft in der Ukraine vergleichsweise hoch ist. Die Ergebnisse der WVS sind vielfach von anderen Wissenschaftlern in anderen Untersuchungen bestätigt worden.

So stellte ein Forschungsteam des Nationalen Instituts für Strategische Studien 2019 fest, dass „in fast allen Regionen [der Ukraine] mehr als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger angaben, Nichtregierungsorganisationen (NGO) seien in ihren Städten und Dörfern notwendig (58 Prozent im Westen, 52 Prozent im Zentrum, 54 Prozent im Osten der Ukraine).“

Ad hoc Freiwilligen-Organisationen, die sich kurzfristig aus einem bestimmten Anlass bilden, genießen ebenso eine nicht minder starke gesellschaftliche Legitimität: Im Jahr 2019 gewannen sie das Vertrauen von 67 Prozent der Ukrainer (von denen 53,2 Prozent den Freiwilligen „eher“ und 13,8 Prozent „voll und ganz“ vertrauten). Zum Vergleich: Die Institution der Kirche erhielt insgesamt 60,6 Prozent des öffentlichen Vertrauens.

... und im Krieg

Unter den Bedingungen der russischen Invasion, so die Politikwissenschaftlerin Yuliia Kurnyshova von der Universität Bremen in einer Analyse, „waren lokale Behörden, Unternehmen und soziale Netzwerke besonders wichtig für die Widerstandsfähigkeit an der Basis. (...) Sie leisteten lebenswichtige humanitäre Hilfe (...) und halfen den Gemeinden, widerstandsfähig zu bleiben (...) als der Zugang zu Hilfsgütern und öffentlichen Diensten in der Regel abgeschnitten war.“

Der ukrainische Militär- und Sicherheitsexperte Mykola Bielieskov teilte 2022 eine weitere Beobachtung in einem Interview: „In den letzten 150 Jahren war es ausschließlich die Aufgabe des Staates, Armeen auf dem Schlachtfeld vorzubereiten und zu unterstützen. Doch seit dem ersten Tag dieses Krieges haben die Ukrainer einen Großteil dieser Last freiwillig auf ihre Schultern verlagert.“

Diese Beobachtungen decken sich weitgehend mit den Schlussfolgerungen von Abel Polese aus dem Jahr 2016, als er in Limits of a Post-Soviet State schrieb, dass es nicht ausreiche, wenn ein Staat, der respektiert werden will und der erwartet, dass sich Bürger ihm unterordnen, nur behauptet, der Staat zu sein, sondern er muss auch wie der Staat handeln (zum Beispiel für Sicherheit und Wohlstand sorgen). Andernfalls werde die Zivilgesellschaft eine Parallelregierung etablieren.

Hohe Ansprüche

Die ukrainische politischen Kultur ist in Bezug auf das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft vpn Paradoxien gekennzeichnet.

Das sind etwa die hohen gesellschaftlichen Erwartungen an die Effektivität von Beamten und Institutionen bei gleichzeitigem Misstrauen ihnen gegenüber; in der (bis zu einem gewissen Grad) bürgerlichen Überzeugung, dass starke Führungspersönlichkeiten am besten geeignet sind, Demokratie, Wohlstand und Sicherheit „durchzusetzen“, während zugleich erwartet wird, dass Führungspersönlichkeiten gewählt werden und rechenschaftspflichtig bleiben sollten; in der Überzeugung, dass die nichtstaatlichen Netzwerke von entscheidender Bedeutung für die Gewährleistung von Wohlstand und Sicherheit sind und dass es offizielle Institutionen sein sollten, die in erster Linie die dafür entscheidenden Dienstleistungen erbringen.

Diese politische Kultur der Ukraine kann auch die positive Haltung ihrer Bürger gegenüber der Dezentralisierungsreform nach 2014 erklären und die Zustimmung zu der Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf die Regionen erklären.

Die Politikwissenschaftler Oleksii Sydorchuk und Marharyta Chabanna schreiben im Sammelband Constructing a Political Nation: „Im Mittelpunkt der Dezentralisierungsreform steht die Notwendigkeit, die Basisgemeinden in den Städten und Dörfern zu stärken, wo die Bürger am häufigsten öffentliche Dienstleistungen benötigen.“ Im September 2015 wurde dieser Kurs von der überwiegenden Mehrheit der Befragten im ganzen Land unterstützt; in keiner der Provinzen waren mehr als 16 Prozent der Einwohner gegen die Dezentralisierung.

Eine der Autorinnen des Sammelbandes, Iryna Bekeshkina, erklärt dazu: „Was die Menschen in allen Regionen der Ukraine eint, ist das Streben, in einem erfolgreichen, wohlhabenden und demokratischen Land zu leben. Und das ist viel wichtiger als das, was sie trennt.“ Vor diesem Hintergrund hat der Kurs zur Dezentralisierung nicht nur die Legitimität der formellen regionalen Institutionen verbessert und gestärkt, sondern auch die führenden Köpfe der Zivilgesellschaft mobilisiert und die von ihnen geschaffenen informellen Institutionen und Netzwerke gestärkt.

Heute, während des russisch-ukrainischen Krieges, gibt die dezentrale Regierungsführung die Logik für das Funktionieren der zahlreichen formellen und informellen Institutionen in den Provinzen vor; sie wird dies wahrscheinlich auch nach dem Ende des Krieges tun.

Das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft

Aus meinen Untersuchungen über die Beziehungen von formellen und informellen Institutionen in den vier ukrainischen Städten während des Krieges lassen sich die folgenden drei Erkenntnisse ableiten:

Erstens scheinen die Institutionen, die mit der Zentralregierung und/oder den Entscheidungsträgern in Kyjiw verbunden sind, weder viele Funktionen auf Stadtebene zu erfüllen noch ihre Aktivitäten angemessen an die jeweiligen Bedürfnisse anzupassen. Sie weisen auch nicht viele Gemeinsamkeiten mit den lokalen Institutionen auf. Dies beweist erneut, dass die Dezentralisierungsreform sehr sinnvoll war, da sie die Regierungsführung in den Regionen präziser und robuster machte, ganz abgesehen davon, dass sie eine Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den nationalen und lokalen Institutionen einführte.

An einem Frühlingstag unterstützen zwei Frauen ein Mädchen bei einem Wettrennen, dem Marathon in Kyiw. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Zivilgesellschaft in der Ukraine.
Das Rote Kreuz beim Marathon in Kyiw im April 2017. © Getty Images

Dennoch ist der indirekte Einfluss der Behörden in Kyjiw immer spürbar gewesen. Meine Befragten betonten häufig, dass der Präsident und das Parlament Institutionen sind, die die „Spielregeln“ für alle Akteure in ihren Städten festlegen. Darüber hinaus spielen der Präsident und das Parlament eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung der regionalen Verteidigung. Diejenigen Befragten, die direkt an den Kriegsanstrengungen beteiligt sind, schätzen die Tätigkeit des Präsidenten wesentlich höher ein als diejenigen, die sich mit eher zivilen Angelegenheiten befassen.

Zweitens arbeiten die lokalen formellen und informellen Institutionen eng und regelmäßig zusammen. Viele der von mir befragten Personen wiesen auf eine ausdrückliche Verbindung von lokalen Großunternehmern und Leitern von Nichtregierungsorganisationen mit dem Stadtrat und dem Bürgermeister der Stadt hin. Dies bedeutet, dass wirtschaftliche und öffentliche Akteure die formelle Politikgestaltung in ukrainischen Städten stark beeinflussen können.

Der Grund, warum eine enge und regelmäßige Zusammenarbeit zwischen formellen und informellen Institutionen so wichtig ist, liegt in der Notwendigkeit, Bemühungen ad hoc zu koordinieren. Eine deutliche Präsenz in der Stadt ermöglicht es einer informellen Einrichtung nicht nur, den lokalen Kontext zu kennen, sondern auch von einem vereinfachten Verfahren zur Erlangung von Genehmigungen, Unterstützung bei der Beantragung von Zuschüssen und Steuerermäßigungen zu profitieren. Dies spart Zeit, erhöht die Synergie und verbessert die Effektivität - Eigenschaften, die in Kriegszeiten von entscheidender Bedeutung sind.

Drittens scheinen die Legitimität und Autorität von Institutionen in ukrainischen Städten am stärksten durch ihre Offenheit für die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, ihre starke Ausrichtung auf die täglichen Bedürfnisse der Gebietskörperschaft (zum Beispiel die Versorgung mit „Schulen, Krankenhäusern und Straßen“), die regelmäßige Kommunikation der institutionellen Aktivitäten an die Öffentlichkeit, ihre Fähigkeit, Einfluss auf die Regierungsführung zu nehmen (durch formelle und informelle Mittel oder beides) und ihre starke Zugehörigkeit zur Stadt beeinflusst zu werden.

Ein Freiwilligenhelfer mit Schutzkleidung streckt beugt sich zu einem Hund an der Kette hinunter, der inmitten eines zerstörten Hinterhofes sitzt. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Rolle der Zivilgesellschaft in der Ukraine.
Ein freiwilliger Helfer der Tierrettung Kharkiv bei der Evakuierung in Chasiv Yar (Tschassiw Jar) am 9. August 2024. Der Ort liegt zehn Kilometer westlich von Bachmut im Donbas und war seit April 2024 durch die russischen Truppen eingeschlossen. © Getty Images

Das Paradoxe dabei ist, dass die informellen zivilgesellschaftlichen Einrichtungen, einschließlich NRO oder Ad-hoc-Gruppen von Freiwilligen, oft die gleichen Funktionen erfüllen wie die formellen staatlichen Einrichtungen (zum Beispiel Kindererziehung, Hilfe für bedürftige Familien oder Instandsetzung zerstörter Infrastruktur). Darüber hinaus können die informellen Institutionen legitimer und autoritärer erscheinen als der Stadtrat oder der Bürgermeister, wenn sie besser auf die Bedürfnisse der Stadtbewohner eingehen können. Dieses Paradoxon sollte bedacht werden, wenn der Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg in vollem Gange ist. Die internationalen Geldgeber könnten die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und den Wirtschaftsakteuren bevorzugen, weil diese effektiver ist als die Zusammenarbeit mit den formellen regionalen Institutionen.

Ein Dreigestirn

Um diese Erkenntnisse kurz zusammenzufassen: Die lokalen Institutionen in den ukrainischen Städten, sowohl die formellen als auch die informellen, haben eine enge und wahrscheinlich einzigartige Interdependenz aufgebaut. Sie erfüllen oft ähnliche Aufgaben, konkurrieren aber nicht miteinander, sondern decken sich gegenseitig den Rücken. Dies half den Städten, sich schnell an die Bedingungen des Kriegsrechts anzupassen und die Katastrophen zu überstehen, die auf die russische Invasion folgten.

Im Zentrum der institutionellen Interdependenz steht in der Regel ein Dreigestirn: die lokalen Verwaltungsorgane (Bürgermeister und Stadtrat), die führenden Vertreter der Zivilgesellschaft und die Wirtschaftsakteure. Alle drei scheinen ihre Aufgaben im Rahmen ihrer Zuständigkeiten effektiv zu erfüllen, aktiv miteinander zu kommunizieren und sich gegenseitig ad hoc zu unterstützen. Sie scheinen bei den Einwohnern der Stadt die größte Legitimität zu besitzen. Die Institutionen, die für die nationale Verwaltung und Verteidigung zuständig sind, sowie die religiösen Institutionen wiederum mischen sich nicht allzu sehr in lokale Angelegenheiten ein. Ihre proaktive Haltung wäre wahrscheinlich unerwünscht.

Eine weitere wichtige Erkenntnis ist, dass keiner der 40 Befragten bei der Definition der Merkmale und Funktionen von Institutionen in ihrer Stadt Korruption erwähnte. Eine deutliche informelle Abhängigkeit zwischen dem Stadtrat, dem Bürgermeister und den Großunternehmern wurde ein paar Mal hervorgehoben, doch wurde sie nie als etwas Systematisches, Intransparentes oder Schädliches dargestellt; ganz im Gegenteil, die Befragten schätzten oft, dass Großunternehmen „Abkürzungen“ entwickelt hatten, um die Abführung von Steuern an den städtischen Haushalt zu vereinfachen, die Armee zu unterstützen oder Genehmigungen für die Eröffnung neuer Arbeitsstätten zu erhalten. Dies könnte zu der Vermutung führen, dass das Ausmaß der Korruption in den ukrainischen Regionen aus der Sicht der führenden Vertreter der Zivilgesellschaft in letzter Zeit abgenommen hat.

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Conclusio

Das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft in der Ukraine ist komplex: Auf der einen Seite bestehen hohe Erwartungen an das Funktionieren des Staates und auch der Wunsch nach einer durchsetzungsfähigen Vertretung. Zugleich ist das Vertrauen in nichtstaatliche Akteure, die Zivilgesellschaft und Freiwilligenorganisationen stark ausgeprägt und viele Ukrainer sind zivilgesellschaftlich engagiert. Dieses Engagement stärkt wiederum die lokalen und regionalen Regierungs- und Verwaltungsstrukturen.

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