Israel: Regierung ohne Zukunft

Israels Rechtsaußen-Regierung schadet dem Land und gefährdet dessen außenpolitische Interessen. Eine Gefahr für die Demokratie ist sie nicht.  

Foto von Menschen mit israelischen Flaggen, die protestieren.
Tel Aviv am 19. Juli 2023: Dieser Demonstrant erklärt auf seinem T-Shirt, dass er, ein Veteran des Yom Kippur-Krieges 1973, aus Protest gegen die Justizreform nun nicht mehr als Reservist für die Israelische Armee zur Verfügung steht. © Getty Images

Warnungen vor einem Bürgerkrieg, 150.000 Demonstranten gegen die Justizreform allein in Tel Aviv – die Schlagzeilen über Israel malen das Bild eines zerrissenen Landes, dessen Demokratie kurz vor dem Abgrund steht. Die Wirklichkeit ist sehr viel komplexer.

In der stark zersplitterten Parteienlandschaft Israels haben Zentrums- und Mitte-rechts-Parteien seit Jahren eine solide Mehrheit. Grob vereinfacht standen sich früher ein linker und ein rechter Block israelischer sowie ein Block arabisch-israelischer Parteien gegenüber. Wobei das Wort „Block“ irreführend ist, denn die Vielzahl der Parteien auch innerhalb der jeweiligen Blöcke entspricht der enormen Bandbreite an unterschiedlichen Lebenswelten der Bevölkerung, vor jeder Wahl bilden sich Bündnisse aus verschiedenen Parteien. Wie kaum ein anderes Land ist Israel multi-kulturell, multi-ethnisch und multi-religiös. 

Spätestens seit der Wahl zur 21. Knesset im April 2019 teilen sich die israelischen Blöcke nicht mehr zwischen links und rechts, sondern zwischen pro und contra Netanjahu. Beide Blöcke sind annähernd gleich stark. Eine stabile Regierung ist unter solchen Rahmenbedingungen nicht zu haben: Im Dezember 2022 wurde zum fünften Mal in vier Jahren gewählt.

Benjamin Netanjahu schloss eine Allianz mit dem Drei-Parteien-Bündnis der „Religiösen Zionisten“, darunter die Otzma Jehudit (Jüdische Stärke) unter dem Rechtsextremen Itamar Ben-Gvir. Das Bündnis steuert sechs Abgeordnete zur Regierungsmehrheit der 64 von 120 Sitzen bei. Seither bildet ausgerechnet Netanjahu den linken Rand einer Regierung, was nicht einer gewissen Ironie entbehrt. 

Hintergrund der Proteste

Keine andere israelische Regierung war mit einer vergleichbar großen und ausdauernden Protestbewegung konfrontiert. Die Demonstrationen entzündeten sich an der geplanten Justizreform. Der Oberste Gerichtshof hat in Israel sehr viel mehr Einfluss als in anderen Demokratien. Er entscheidet, ob ein Gesetz den oft nur mit einfacher Mehrheit beschlossenen dreizehn „Grundgesetzen“ widerspricht und beansprucht dabei äußerst weiten Interpretationsspielraum und umfassende Zuständigkeit, bis hin zur Entscheidung über Strafmandate.

„Nach jetzigem Stand kann der OGH ohne Berufung auf ein spezifisches Gesetz oder Grundgesetz, nur auf der Basis von subjektiven Werten des Richterkollegiums, eine Maßnahme wegen ‚extremer Unangemessenheit‘ verbieten“, erklärt Ben Segenreich, langjähriger Israel-Korrespondent von ORF, Der Standard und Die Welt, in seiner Analyse auf Mena-Watch. Leseempfehlung!

Konflikte zwischen Legislative und Judikative um das letzte Wort in der Gesetzgebung sind keine israelische Besonderheit. Die Älteren unter uns werden sich noch an die Zeit erinnern, als SPÖ und ÖVP drei Viertel der Abgeordneten stellten: schamlos wurden damals nicht-verfassungskonforme Gesetze einfach in Verfassungsrang erhoben, um die Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof zu verhindern. Und in Zukunft werden wir in Europa noch intensive Diskussionen über das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zur nationalen Gesetzgebung erleben.

Der eigentliche Hintergrund für die massiven Proteste ist die Sorge des säkularen, liberalen Israel über den wachsenden Einfluss der Haredim, also jener religiösen Juden, die von Außenstehenden meist als „ultra-orthodox“ bezeichnet werden. 

Die Haredim

Ein entscheidender Faktor in der Entwicklung des Haredi-Judentums in Israel war die Schoah. Nach der Vernichtung des jüdischen religiösen Lebens in Europa schien die Kultur der Schtetl (kleine Dörfer, Gemeinden oder Stadtteile in Osteuropa mit mehrheitlich jüdischer Bevölkerung) der Auslöschung preisgegeben. 

Doch die wenigen verbliebenen strenggläubigen europäischen Juden verlegten ihre Gemeinden und Bildungseinrichtungen in andere Länder, vor allem nach Israel. Heute sind die „Ultra-Orthodoxen“ die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe des Landes. Einer Studie des Thinktanks Israel Democracy Institute zufolge wird die Zahl der Strenggläubigen auf knapp 1,3 Millionen geschätzt, aufgrund der überdurchschnittlich hohen Geburtenrate steigt ihr Anteil an der Bevölkerung weiter an. Bis zum Jahr 2030 werden sie rund 16 Prozent der israelischen Bevölkerung stellen. Entgegen landläufiger Meinung handelt es sich dabei um keine homogene Gruppe. Es gibt Dutzende Bewegungen mit eigenen Synagogen, Talmud-Schulen und Rabbinern. Allen gemeinsam ist der hohe Stellenwert der jüdischen Schriften, deren Studium viele ihr Leben widmen.

Eine Gruppe ultra-orthodoxer Juden bei einem Kaparot-Ritual. Kinder schauen neugierig zu. Eine Straßenszene in Jerusalem. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Regierung in Israel.
Das Kaparot-Ritual anlässlich Yom Kippur im September 2012 in Mea Shearim in Jerusalem. Bei diesem Ritual wird ein Huhn oder ein Hahn über den Kopf geschwungen und ein Gebet gesprochen. So sollen die Sünden des Betenden auf das Tier übergehen. Es wird anschließend getötet und das Fleisch wird den Armen gespendet. © Getty Images

Die Haredim verändern sich, aber sie verändern sich langsam. Noch immer leistet nicht einmal ein Zehntel der 18-Jährigen Wehrdienst in der Armee. Die Beschäftigungsquote der Männer ist in den letzten zwanzig Jahren zwar von einem Drittel auf mehr als die Hälfte gestiegen und jene der Frauen auf über 80 Prozent, doch die Armutsquote ist mit 44 Prozent immer noch doppelt so hoch wie in der restlichen Bevölkerung. 

Gelten die Haredim den einen als Hüter und Bewahrer des jüdischen Glaubens, sind sie den anderen aufgrund ihrer konservativen Lebensweise – und vor allem wegen ihrer großen Abhängigkeit von Transferleistungen – ein Dorn im Auge. „Es sind einfach Räuber“, schimpfte mir gegenüber vor ein paar Jahren ein Taxifahrer in Tel Aviv, „nur dass sie uns das Geld nicht mit der Waffe in der Hand stehlen, sondern über die Steuern“.

Welcher Bürgerkrieg?

Diese Regierung konnte nur unter zwei Prämissen zustande kommen: Dem unbedingten Machtwillen Netanjahus, der sich aus persönlichen Gründen nicht scheute, eine Koalition mit Rechtsextremen zu bilden, die bis dahin zu Recht politisch im Abseits gestanden sind, und der Kompromisslosigkeit der „alle außer Bibi“-Parteien. 

Protestirende mit großen Kugeln aus Karton und rosa farbenen Schildern protestieren gegen die israelische Regierung.
Die „Pink Front“ während einer Demonstration gegen die Justizreform, die Teuerung und den Krieg in Gaza im Mai 2023. Rosa ist seit mehreren Jahren eine der Farben der Opposition gegen Benjamin Netanjahu, den Regierungschef. © Getty Images

Die aktuelle Regierung schadet dem Land. Sie verzögert die Ausweitung der Abraham Abkommen (Friedensverträge zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrein, Marokko und Sudan) und belastet die Beziehung zu den USA. Damit schwächt sie deren Rückhalt für alle politischen und militärischen Maßnahmen, um eine atomare Bewaffnung des Iran zu verhindern – was sie zum Sicherheitsrisiko macht.  

Innenpolitisch stößt sie auf enormen Widerstand. Eine Gefahr für die Demokratie ist sie freilich nicht. Im Gegenteil: Gerade der andauernde friedliche Protest der Zivilgesellschaft, darunter Milizpiloten der israelischen Luftwaffe, zeugt von der Vitalität und Stärke der israelischen Demokratie. Was für ein Unterschied zu den Bildern aus Frankreich: Hier ein patriotisches Fahnenmeer, dort ein wütender Mob, der plündernd und brandschatzend durch die Straßen zieht. 

Von den rund 9,7 Millionen Einwohnern Israels (einschließlich Ost-Jerusalem, Golan-Höhen und den Siedlungen in der Westbank) sind aktuell rund 21 Prozent arabisch. Die meisten arabischen Einwohner sind Muslime (82,9 Prozent), die übrigen sind Drusen (9,2 Prozent) und Christen (7,9 Prozent). Rund 13 Prozent der Bevölkerung sind Haredim, und die übrige jüdische Bevölkerung besteht aus Menschen unterschiedlicher Herkunftsländer, verschiedener Kulturen und Lebensweisen. Der demokratische Ausgleich zwischen den einzelnen Interessen und Befindlichkeiten ist eine beispiellose Herausforderung. Die aktuelle Regierung ist nur ein Intermezzo in diesem permanenten Prozess. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es nicht allzu lange dauert. 

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