Indiens Poker um die Weltordnung

Bald wird Indien das bevölkerungsreichste Land der Erde sein. Als künftiger Pol in einer multipolaren Welt will es die globalen Entwicklungen mitbestimmen – ohne sich einem politischen Lager anzuschließen.

Indiens Premierminister Narendra Modi nimmt im Jänner 2022 in Neu-Delhi bei einer Feier von Militärkadetten anlässlich des 75-jährigen Jubiläums der nationalen Unabhängigkeit teil. Er trägt traditionelle Kleidung und Sonnenbrille, um ihn herum sitzen Frauen, gekleidet in den Nationalfarben und im Hintergrund sind als Gottheit Krishna kostümierte Gestalten.
Eigener Weg: Indiens Premierminister Narendra Modi nimmt im Jänner 2022 in Neu-Delhi bei einer Feier von Militärkadetten anlässlich des 75-jährigen Jubiläums der nationalen Unabhängigkeit teil. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Neutral. Indien hat so wie China den Angriff Russlands auf die Ukraine nicht verurteilt und auch keine Sanktionen verhängt.
  • Offene Beziehung. Moskau ist Delhis wichtigster Partner in Rüstungsfragen, doch auch die USA, Israel und Frankreich beliefern das Militär.
  • Konkurrenz. China war und ist ein Rivale in Asien, darum ist Indien mit den USA, Japan und Australien in einer losen Allianz gegen Peking.
  • Machtanspruch. Als bevölkerungsreichstes Land der Welt will Indien innerhalb der blockfreien Staaten des globalen Südens den Ton angeben.

Es hätte viele Gelegenheiten gegeben, den russischen Angriff auf die Ukraine zu verurteilen. Doch der indische Premier Narendra Modi ließ alle verstreichen. Aus seinem Mund kommt keine Kritik an Russland. Beim G20-Gipfel auf Bali im November des Vorjahres ließ sich der Premier immerhin zu einer Äußerung hinreißen, die man als sachten Tadel verstehen konnte: „Wir leben nicht in einer Ära des Krieges“, sagte Modi. Seither rätselt die westliche Diplomatie, ob die Aussage tatsächlich als Rüffel in Richtung Russland gemeint war.

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Auch die Sanktionen gegen Russland trägt Indien nicht mit. Im Gegenteil: Die Importe Indiens von russischem Öl haben sich seit dem Angriff Wladimir Putins auf die Ukraine vervielfacht, auch Kohle und Düngemittel aus Sibirien sind in Indien willkommen. Vor allem sind diese Güter billig – die Kosten liegen rund zehn Prozent unter dem Weltmarktpreis.

Indiens Enthaltung in den Resolutionen der Vereinten Nationen gegen Russland sorgte im Westen zunächst für Unverständnis. Doch mit Blick auf eine künftige Systemrivalität mit China ist Indien für die westlichen Staaten ein zentraler strategischer Partner im Indopazifik. Deshalb erhielt Indien von ihnen trotz seiner Haltung gegenüber Russland neue Zusagen für eine engere wirtschaftliche, militärische und technologische Zusammenarbeit.

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Zahlen & Fakten

Immer schon blockfrei

Trotz der umfangreichen westlichen Angebote wird sich Indien aber auch in Zukunft keinem weltpolitischen Lager anschließen. Das riesige Land versteht sich als eigenständiger Pol in einer multipolaren Welt. Es wird auch künftig gute Beziehungen zu allen Seiten pflegen, um damit seinen eigenen internationalen Aufstieg voranzutreiben. Die G20-Präsidentschaft Indiens im heurigen Jahr wird dabei sicher hilfreich sein. 

Allerdings macht der Ukraine-Krieg auch für Indien eine neue Balance zwischen seinen wichtigsten außenpolitischen Partnern notwendig. Bislang bezog das südasiatische Land vor allem Energie und Rüstungsgüter aus Russland sowie Kapital und Technologie aus dem Westen. Ein wirtschaftlich und militärisch geschwächtes Russland, das sich vielleicht enger an China orientiert, erfordert in Neu-Delhi entsprechende Anpassungen.

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Zahlen & Fakten

Das Streben nach einer wichtigeren internationalen Rolle und die damit verbundene Balancepolitik sind ein roter Faden für das Verständnis der indischen Außenpolitik. Seit der Unabhängigkeit 1947 war das Land stets bestrebt, seinen eigenen Weg zu gehen. Das spiegelte sich im Inneren in einem demokratischen System nach westlichem Vorbild mit Parteien und Gewaltenteilung wider. Die Wirtschaftspolitik war hingegen vom sozialistischen Modell geprägt – mit einer Planungskommission und Fünf-Jahres-Plänen.

Außenpolitisch strebte der erste Premierminister Jawaharlal Nehru eine führende Rolle für sein Land an. Er suchte auch die enge Kooperation mit dem damals noch international isolierten China. Die Zusammenarbeit mit dem Reich der Mitte scheiterte an der ungeklärten Grenzfrage im Himalaya, die 1962 zu einem kurzen Krieg zwischen beiden Staaten führte – der mit einer Niederlage Indiens endete.

Atommacht mit Führungsanspruch

Nehru war einer der Architekten des Klubs der Blockfreien Staaten, der dazu dienen sollte, Indien aus dem Ost-West-Konflikt herauszuhalten. 1971 näherten sich die USA unter Präsident Richard Nixon an China an, das damals von Mao Zedong beherrscht wurde. Daraufhin schloss Premierministerin Indira Gandhi, die Tochter Nehrus, einen Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion. Damit war der Grundstein für die bis heute bestehende enge Zusammenarbeit mit Russland im Energie- und Rüstungsbereich gelegt.

Indiens erster Atomtest 1974 unterstrich seine technologischen Fähigkeiten und den internationalen Führungsanspruch. In den 1970er-Jahren entwickelte sich Indien zu einem bis heute anerkannten Sprecher der Entwicklungsländer. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 verlor Indien einen seiner wichtigsten Handelspartner. In der Folge öffnete man sich ökonomisch, lockte Investoren ins Land und setzte auf eine stärkere Einbindung in die Weltwirtschaft.

Auf allen Hochzeiten

Zugleich verbesserten sich die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zu China. Die „älteste“ (USA) und die „größte“ Demokratie (Indien) haben seitdem eine enge Partnerschaft entwickelt. Auch die Beziehungen zu China verbesserten sich trotz der nach wie vor ungeklärten Grenzfrage rasant, und das Land wurde zu einem der größten Handelspartner.

Russland blieb der wichtigste Partner in Rüstungsfragen, wenngleich auch die USA, Israel und Frankreich in den letzten Jahren maßgeblich zu einer Modernisierung der indischen Streitkräfte beigetragen haben. Die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Deutschland und Europa haben sich ebenfalls deutlich ausgeweitet.

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Zahlen & Fakten

Indien hielt aber an seiner außenpolitischen Unabhängigkeit fest und signalisierte diese „strategische Autonomie“ unter anderem durch die Mitgliedschaft in so unterschiedlichen Organisationen wie beispielsweise der Quad-Gruppe (ein informeller militärpolitischer Zusammenschluss der USA, Australiens, Indiens und Japans) und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ – ein Forum für Sicherheits- und Wirtschaftskoordination in Asien, bestehend aus China, Russland, Indien, Pakistan und vier zentralasiatischen Ländern). Indien ist außerdem Teil der BRICS (mit Brasilien, Russland, China und Südafrika). Deshalb hält Indien auch Militärmanöver nicht nur mit Russland ab, sondern ebenso mit den USA, Frankreich und anderen westlichen Staaten. 

Politisch unterhält Indien mit nahezu allen G20-Staaten eine strategische Partnerschaft. Was unübersichtlich wirkt, folgt einer simplen Logik: „Wir arbeiten je nach Themenbereich mit vielen unterschiedlichen Partnern zusammen“, erklärte der damalige Außenminister Vijay Gokhale 2019.

Das Land am Ganges ist kraft seiner Größe ein Global Player. Der Staat repräsentiert mit demnächst über 1,4 Milliarden Menschen ein Sechstel der Weltbevölkerung. Fortschritte in internationalen Klima-, Umwelt- und Energiefragen sind nur möglich, wenn Indien daran beteiligt ist. Die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen können nur erreicht werden, wenn es auch in Indien zu nachhaltigen Entwicklungsfortschritten kommt.

Wachstumskurs mit Hürden

Aber auch innenpolitische Entwicklungen werden Indiens künftige internationale Rolle beeinflussen. Die Wirtschaftsreformen bescherten dem Land seit den 1990er-Jahren ein starkes Wachstum. Indiens IT-Branche wurde zum globalen Markenzeichen dieses Wandels. Es entstand eine neue Mittelschicht, die etwa zehn Prozent der Bevölkerung umfasst, und die Armut konnte deutlich verringert werden. Premierminister Narendra Modi galt bei seinem Amtsantritt 2014 als Reformer, der Indien zur drittgrößten Volkswirtschaft hinter den USA und China machen wollte. Das Wirtschaftswachstum blieb allerdings seit 2017 hinter den selbst gesteckten Zielen zurück, die Industrialisierung stagnierte, und die Arbeitslosigkeit erreichte neue Rekordhöhen.

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Zahlen & Fakten

Die Pandemie traf Indien besonders hart. Die Wirtschaft schrumpfte im Jahr 2020 um über sieben Prozent, die Ungleichheit nahm wieder zu. In Reaktion darauf propagierte Modi eine größere wirtschaftspolitische Eigenständigkeit, um die Industrie zu stärken.

Modi will auch ein „neues Indien“ aufbauen, das sich stärker an den Interessen der Hindu-Mehrheit orientiert. Dies beinhaltet eine Abkehr vom bisherigen Gesellschaftsmodell. Die Staatsgründer Nehru und Gandhi sahen Indien immer als Land für alle Religionsgruppen. Konflikte mit der größten Minderheit der Muslime, die ungefähr 13 bis 14 Prozent der Bevölkerung umfasst, haben seitdem zugenommen. Der Umgang mit den Minderheiten wird auch Indiens Bild auf der globalen Bühne beeinflussen. Die Zunahme der autokratischen Tendenzen unter Modi seit dem Jahr 2014 hat das Land immer mehr zu einer illiberalen Demokratie gemacht.

Schwieriger Partner

Delhi muss auch die ökologische Frage bewältigen. Das Land hat zwar einen niedrigen Pro-Kopf-Ausstoß von CO², ist aber insgesamt einer der größten Emittenten. Viele indische Metropolen zählen zu den schmutzigsten Städten der Welt. Noch immer arbeiten circa 50 Prozent der Beschäftigten in der Landwirtschaft, die zu großen Teilen von den jährlichen Monsunniederschlägen abhängig ist. Der damit verbundene Strukturwandel zählt zu den größten innenpolitischen Herausforderungen.

Indien wird die neuen geopolitischen Konstellationen nutzen, um seinen eigenen Aufstieg voranzutreiben. Es wird sich deshalb kaum einem Lager zurechnen lassen, sondern immer wieder seine Unabhängigkeit und Eigenständigkeit betonen. Das Land bleibt damit für die westlichen Staaten ein unverzichtbarer, aber zugleich schwieriger Partner in der neuen Kräftekonstellation.

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Conclusio

Jeder sechste Mensch kommt aus Indien. Das Land wird bald das bevölkerungsreichste der Welt sein. Dank seines robusten Wirtschaftswachstums seit dem Jahr 2000 von rund sechs Prozent pro Jahr wurden Abermillionen Menschen aus der Armut befreit. Indien entwickelte sich zu einem globalen Wettbewerber, der vor allem im IT-Sektor mit gut qualifizierten Fachkräften punktet. Während sich die ökonomischen Gewichte vom Westen nach Asien verlagern, buhlen die USA und ihre Verbündeten, aber auch Russland um die Gunst Neu-Delhis. Doch seit ihrer Unabhängigkeit vom British Empire hat die Demokratie am Ganges versucht, keine zu engen Allianzen zu schmieden. Das zeigte sich gerade bei der Ukraine-Invasion Russlands. Indien braucht jedoch selbst Verbündete, um seinen eigenen Aufstieg voranzutreiben.