Das Ende der pazifistischen Illusion

Viel zu lange hat sich Deutschland der Realität verweigert: wir haben nie in einer friedlichen Welt gelebt. Jetzt ist der Schock groß, dass unsere Kinder an die Waffe müssen.

30. April 2025: Bundeswehrsoldaten bei einer Gedenkfeier des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. auf dem Waldfriedhof Halbe. Das Bild illustriert einen Kommentar über die Verweigerung der Realität und die mögliche Rückkehr der Wehrpflicht.
30. April 2025: Bundeswehrsoldaten bei einer Gedenkfeier des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. auf dem Waldfriedhof Halbe. © Getty Images

Über Jahrzehnte hinweg schaute ich Männern in Bundeswehruniform immer grimmig hinterher, wenn ich sie auf Bahnsteigen oder in Bahnabteilen sah. Manchmal nahm ich mit Absicht meine Tasche vom Boden und stellte sie auf den Platz neben mir, damit er besetzt aussah. Soldaten in Deutschland bedeuteten für mich Nationalsozialismus, Judenverfolgung, Krieg.

Damit war ich als Jüdin nicht allein. Ein Ex-Partner von mir konnte wegen seiner jüdischen Herkunft der Bundeswehr fernbleiben, als sie noch verpflichtend war. Ein erklärendes Schreiben reichte. Es existierte ein grundlegendes Verständnis für die Assoziationen, die Juden heimsuchten. Die Assoziationen sind geblieben, aber die Anerkennung der Notwendigkeit ist dazugekommen. Und das hat selbstverständlich weltpolitische Gründe. Denn seit der Corona-Krise reihen sich die Ereignisse aneinander, so dass man kaum noch hinterherkommt: Wirtschaftsprobleme durch die Pandemie, Angriff auf die Ukraine, Gaza-Israel-Krieg, der rasante Aufstieg der AfD sowie anderer rechtsnationaler Parteien in Europa und Trumps Wiederwahl. Das globale Gefüge hat sich völlig verschoben.

Die Unsicherheit innerhalb der Politik und Gesellschaft ist auf einem Höhepunkt. Eine Unsicherheit, von der viele glaubten, sie gehöre der Vergangenheit an. Denn der Mauerfall kennzeichnete nicht nur das Ende des Kalten Krieges, sondern er markierte den Moment, an dem man überzeugt davon war, die Menschheit habe die archaische Unvernunft überwunden. Dabei hätten der Balkan-Krieg, der Irak-Krieg, 9/11, die Wirtschaftskrise 2008 und der Donbass-Konflikt 2014 reichen müssen, um die Europäer daran zu erinnern, dass Geschichte niemals endet und Unvernunft menschlich ist.

Vielleicht waren sie erschöpft von den Jahren im Sandwich der Nuklearmächte. Vielleicht wollten sie einfach ein bisschen Leichtigkeit und Friede, Freude, Eierkuchen. Verübeln kann ich es ihnen jedenfalls nicht, auch wenn es rückblickend ein radikaler Fehler war.

Erwachsen werden in zehn Schritten

Trotz alledem hört man weiterhin überall – in den Medien und bei Abendessen –, wie ruhig es doch gewesen sei und wie offensichtlich die Ruhe zu Ende sei und wie furchtbar die Menschen wegen dieser endenden Ruhe leiden. Und jedes einzelne Mal, wenn ich diese Behauptungen vernehme, reihe ich die politischen Ereignisse seit dem Mauerfall aneinander und erinnere daran, dass da gar keine Ruhe in den letzten 30 Jahren gewesen war, nur totale Ignoranz der Unruhe gegenüber.

Diese Ignoranz führte auch dazu, dass die Europäer, aber besonders Deutschland, politische Entscheidungen in einem illusorischen Vakuum trafen. Mit rosaroter Brille und vor allem moralischer Überlegenheit wurde Richtung pazifistischer Utopie geflogen. Allerdings auf dem Rücken der amerikanischen Wehrhaftigkeit. Keinem schien das unangenehm. Niemand fragte sich, ob diese Taktik zukunftsfähig ist.

Eine ganze Generation hat Jahrzehnte lang lieber ihren Namen getanzt als Realitäten anerkannt.

Als dann der Vizepräsident der USA J.D. Vance vor zwei Monaten während der Münchner Sicherheitskonferenz das Licht anknipste und Europa daran erinnerte, dass es längst erwachsen ist und sich dementsprechend wie ein Erwachsener benehmen müsse, reagierte vor allem die deutsche Politik wie ein 30-Jähriger, der von den Eltern aus dem bequemen Souterrain geschmissen wird: bockig. Dabei ist das neue Europa sogar älter als 30. Es wird dieses Jahr 36 Jahre alt.

Eine ganze Generation, die sich der eigenen Verantwortung verweigern durfte, ist in dieser Zeit entstanden. Das Ergebnis ist verheerend und zeigt, was passiert, wenn man über Jahrzehnte lieber seinen Namen tanzt als Realitäten anzuerkennen: ein Schuldenberg, der aus Deutschland einen Erwachsenen machen soll, und Millionen von Eltern, die schockiert ihre Kinder festhalten und sich nicht vorstellen wollen, sie in den Krieg schicken zu müssen. 

Frieden durch Stärke

Wer wie ich aus der DDR kommt, Israel seit 1991 kennt, zehn Jahre zwischen Berlin und Tel Aviv pendelte und jetzt mittlerweile seinen Lebensmittelpunkt nach Israel verlegt hat, der konnte die letzten Wochen nur kopfschüttelnd auf die Debatten blicken. Mit welcher Vehemenz an der Illusion einer friedlichen Welt festgehalten wird, mit welcher Ignoranz auf die Realitäten reagiert wird – ist kaum zu fassen.

Die Militarisierung in Deutschland wird kommen. Die Wehrpflicht auch.

Ununterbrochen wird der moralische Zeigefinger gehoben, so als symbolisiere er die Wahrheit. Dabei symbolisiert er nichts weiter als Ideologie. Was aber fehlt, ist Pragmatismus. Ein hysteriefreier Blick, um im Chaos des Lebens die richtigen Entscheidungen zu treffen. Die Kommunikation in den Medien der letzten Jahre war aber von Hysterie, Binarität und Moralität geprägt. Das wird uns nicht weiterhelfen. Die Militarisierung in Deutschland wird kommen. Die Wehrpflicht auch. Im neuen Koalitionsvertrag taucht sie noch nicht auf. Der zukünftige Wehrdienst soll auf Freiwilligkeit beruhen. Für junge Männer wäre lediglich das Ausfüllen eines Erfassungsbogens verpflichtend. Die dafür nötigen administrativen Grundlagen sollen noch in diesem Jahr geschaffen werden. Frauen sind von der Erfassung ausgenommen. Aber wie lange noch?

Für meine Tochter, die deutsche und israelische Staatsbürgerin ist, bedeuten die globalen Veränderungen, dass sie unweigerlich irgendwann an die Waffe muss. Egal, wo sie irgendwann leben wird. Auch, wenn die Wehrpflicht in Israel in den letzten Jahren gelockert wurde und man nicht mehr zwangsläufig zum Militärdienst musste, im Angesicht der aktuellen Bedrohungen im Nahen Osten, wird dieser Leichtigkeit vermutlich bald ein Riegel vorgeschoben.

Im Angesicht der Bedrohung in Europa endet der Ecstasy-beschwipste Rave, der in den frühen Neunzigern begann. Wissend um das, was den Grenzbeobachterinnen am Gaza-Streifen am 7. Oktober und danach passierte, und wissend um die 5000 ukrainischen Frauen, die aktuell aktiv an der Front gegen Russland kämpfen, wird mir als Mutter schwindelig und schlecht. Eine Panik erfüllt mich, die mir dennoch keine schlaflosen Nächte bereitet. Denn ich habe nie an eine friedliche Welt geglaubt und war immer auf das Schlimmste vorbereitet.

Deswegen ziehe ich meine Tochter auch nicht im Glauben auf, 80 Jahre Disneyland würden auf sie warten. Auch, wenn die meisten sich immer noch mit Händen und Füßen dagegen sträuben, es wird Zeit anzuerkennen, dass Geschichte nicht bedeutet, auf einen paradiesischen Zustand zuzusteuern. Der Schock darüber ist jetzt nur besonders groß, weil die Wahrheit viel zu lange ignoriert wurde.

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