Geiseln im Genozid

Dass Israel in Gaza einen Genozid begehe, wird dem Land schon seit zehn Jahren vorgeworfen. Damals wie heute werden wesentliche Fakten ausgeblendet. 

Lastwagen mit humanitärer Hilfe überqueren den Grenzübergang Erez zwischen dem israelischen Kibbuz Erez und der palästinensischen Stadt Beit Hanoun in Richtung Gazastreifen. Israel, 11. November 2024. Das Bild illustriert einen Kommentar darüber, dass Israel schon seit zehn Jahren vorgeworfen wird, in Gaza einen Genozid zu begehen.
Lastwagen mit humanitärer Hilfe überqueren den Grenzübergang Erez zwischen dem israelischen Kibbuz Erez und der palästinensischen Stadt Beit Hanoun in Richtung Gazastreifen. Israel, 11. November 2024. © Getty Images

Der Haftbefehl gegen Netanyahu und Gallant ist draußen. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag wirft Israel vor, es verübe Kriegsverbrechen, gar einen Völkermord. Deswegen wird Gaza mittlerweile gerne als Konzentrationslager oder sogar Vernichtungslager bezeichnet. 

Das Besondere: die Insassen dieses Lagers haben über 100 israelische Geiseln versteckt und sind im Besitz von Tausenden von Raketen, Panzerfäuste und Kalaschnikows. Dazu kommen Hilfslieferungen und wöchentlich hunderte UN-Konvois mit Nahrungsmitteln, die ohne Probleme von israelischen Soldaten vorbei gewunken werden, obwohl die Bewohner partout die Geiseln nicht rausrücken wollen. Die in Gaza eintreffenden Waren werden auf bunten Märkten zu horrenden Preisen verscherbelt. Auf TikTok, Instagram und YouTube gibt es unzählige Videos, wie mit den Nahrungsmitteln Essen gekocht oder wie Kosmetik in Shops feilgeboten wird. 

Die Videos stammen von den Lagerinsassen selbst. Sie wurden mit ihren neuen iPhones gefilmt. Die bekommt man auch auf den Märkten. Auch zu horrenden Preisen. Immer, wenn einer der Insassen eine Rakete auf Israel abfeuert oder mit einer Kalaschnikow rumballert, schießt Israel zurück. Dabei sterben Menschen. Vor zwanzig Jahren lebten im angeblich größten Freiluftgefängnis der Welt 800.000 Palästinenser, zehn Jahre später 1,5 Millionen und aktuell 2,1 Millionen. Ein klassisches Vernichtungslager eben. 

Schon am 8. Oktober 2023, einen Tag nach dem größten Massaker an Juden seit der Schoah, begann das Internet „Genozid“ zu schreien. Der Vorwurf des Völkermords an den Palästinensern oder die Behauptung, Israel begehe Kriegsverbrechen, sind aber überhaupt nicht neu. Als im Sommer 2014 die Hamas drei jüdische Jugendliche entführte, ermordete und Israel mit Raketen beschoss, reagierte das israelische Militär mit einer Bodenoffensive. 2.100 Palästinenser kamen damals ums Leben. Ein Großteil Hamas-Terroristen. Wie viele Zivilisten darunter waren, weiß niemand so genau.

Sechshunderttausend Menschen mehr. Statt sechs Millionen Menschen weniger.

Die „Gesundheitsbehörde“ in Gaza unterscheidet nicht zwischen einem Mann mit einer AK-47 und einem Mann ohne. Damals, vor zehn Jahren, gab es auch schon das Internet und das Internet schrie genauso wie heute „Genozid“. Den Begriff hörte man in deutschen Zeitungen und Zeitschriften, im deutschen Fernsehen und auf deutschen Straßen. Seitdem ist die Bevölkerung in Gaza von 1,5 auf 2,1 Millionen Einwohner angewachsen. Sechshunderttausend Menschen mehr. 

Beim Genozid in Ruanda 1994 wurden innerhalb von drei Monaten rund eine Million Menschen ermordet. Eine Million. Eine Million Zivilisten. Nicht rund 2000 Hamas-Terroristen wie bei der Aktion Protective Edge. Aber es spielt gar keine Rolle, welche statistischen Daten, welche Fakten und welche Beweise ich in diesem Text vorbringe, der Vorwurf bleibt bestehen. Auch in zehn Jahren, wenn die Bevölkerung in Gaza vermutlich die drei Millionen Grenze knacken wird. Verdreifachung der Bevölkerung in 30 Jahren. Der größte Genozid der Menschheitsgeschichte.  

Verlierer ergeben sich normalerweise

Die Behauptung funktioniert nur deshalb, weil niemand gewillt ist, über die Hamas oder den Islamischen Jihad zu sprechen, also Terrororganisationen, die nach wie vor nicht nur über 100 israelische Geiseln in Gaza gefangen halten, sondern in den letzten 13 Monaten immer wieder UN-Hilfskonvois gewaltsam plünderten, um die geklauten Waren auf den Märkten zu verkaufen. Diese Terrororganisationen sind in eine kriegerische Auseinandersetzung verwickelt, bei der sie sich zu Tausenden in einen bewaffneten Kampf begeben haben, dabei über 1.200 Israelis ermordeten, Hunderte entführten, diese Geiseln weiterhin in Gefangenschaft halten sowie immer wieder Raketen aus humanitären Zonen abfeuern. 

Wäre Israel nicht daran beteiligt, müsste man die Diskussionen, die aktuell geführt werden, gar nicht führen. Der gesunde Menschenverstand und wissenschaftliche Standards reichten, um zu belegen, dass hier kein Genozid stattfindet und dass deshalb auch die Haftbefehle gegen Netanyahu und Gallant geradezu absurd sind. 

Das heißt nicht, dass die Lage in Gaza nicht grausam und unerträglich ist. Aber normalerweise ergibt man sich, wenn man merkt, dass nichts mehr geht. In jedem Kampf. Doch solange weiterhin 100 Geiseln in irgendwelchen Tunneln oder in Wohnungen von Zivilisten gefangen gehalten werden und die Hamas sich weigert, diese rauszurücken oder zu kapitulieren, solange wird eben weitergekämpft. Und solange weitergekämpft wird, werden Zivilisten leiden und sterben. 

Es ist fürchterlich, von durchgeknallten und ideologisch abgeschmierten Menschenfeinden regiert und kontrolliert zu werden. Die Deutschen können davon ein Lied singen.

Das sehen im Übrigen auch jene Bewohner Gazas so, die jahrelang vergeblich gegen die Hamas aufbegehrt haben. Aber denen will niemand zuhören, auch wenn sie in die Kameras brüllen. Viel lieber werden ständig Bilder von verbrannten Körpern oder abgetrennten Gliedmaßen durchs Handy gejagt. Wörter wie „Hamas“, „Terroristen“ oder „Geiseln“ werden bewusst weggelassen, weil sie natürlich das Bild geraderückten. Wer schießt, kann danach nicht jammern. Wer aus einem zivilen Zeltlager schießt, auch nicht. Wer Geiseln festhält, verwandelt das Gebiet, in dem die Geiseln gehalten werden, von einer humanitären Zone in eine militärische. Völlig egal, ob es sich um eine Schule, ein Flüchtlingscamp, ein Wohnhaus oder ein Krankenhaus handelt. Allein das erklären zu müssen, scheint mir absurd. Trotzdem muss ich es.

Ein iranischer Schriftsteller, der seit Monaten mit seinen Aussagen zum Konflikt auffällt, postete vor wenigen Tagen Folgendes auf seinem Instagram-Kanal: „Es gibt keinen Weg, mich davon zu überzeugen, dass jemand, der heute darauf beharrt, dass in Gaza kein Genozid stattfindet, seelisch weniger verroht ist als jemand, der am 7. Oktober Süßigkeiten verteilt hat. Es gibt einfach keinen.“ 

Kein Wort über die über 100 israelischen Geiseln in Gefangenschaft und die in Gaza ansässigen Terrororganisationen, die sich weigern zu kapitulieren, sondern den Kampf weiterhin fortführen und damit ihre Bevölkerung zu Kanonenfutter verwandeln. Kein Wort über die Islamische Republik Iran, die das Fortführen des Kampfes fordert und finanziert. Kein Wort. Das ist deshalb tragisch, weil es fürchterlich ist, von durchgeknallten und ideologisch abgeschmierten Menschenfeinden regiert und kontrolliert zu werden. Die Deutschen können davon ein Lied singen. Trotzdem war der Verteidigungskrieg der Alliierten gegen sie kein Genozid. Auch wenn zehn Prozent der Bevölkerung dabei ums Leben kamen.

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