Schule heute: Keine Chance ohne Deutsch
Wer nicht Deutsch spricht, kommt nicht weit: Dafür sorgt das Schulsystem. Wie es besser geht, zeigt der Umgang mit Schülern aus der Ukraine. Die Bildungsforscherin Yasemin Karakaşoğlu im Interview.
Gleiche Chancen für alle – davon ist das Bildungssystem weit entfernt. Vor allem Schüler mit Migrationshintergrund, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, werden vom System benachteiligt. Warum dies nicht nur den Kindern die Chancen nimmt, sondern auch Deutschland, erläutert Yasemin Karakaşoğlu, Bildungswissenschaftlerin an der Universität Bremen.
Frau Karakaşoğlu, das Leben im gesamten DACH-Raum wird immer internationaler, Deutschland ist nach den USA das zweitgrößte Einwanderungsland der Welt. Wie gut ist das Schulsystem auf die Migrationsgesellschaft eingestellt?
Yasemin Karakaşoğlu: Kurz gesagt: nicht sehr gut. Die wenigsten Schulen schreiben sich die migrationsbedingte Vielfalt ihrer Schülerschaft als Gewinn auf die Fahnen – und das, obwohl zumindest in den Großstädten Westdeutschlands die Mehrheit der Kinder zu Schulbeginn längst einen sogenannten „Migrationshintergrund“ hat. Für die Schulpolitik ist das aber noch immer keine Selbstverständlichkeit, obwohl gerne behauptet wird, man habe aus den Fehlern von 2015-16 gelernt.
Und das ist nicht so?
Sagen wir so: das Eingeständnis, dass in der jüngeren Vergangenheit Fehler gemacht wurden, ist schon einmal ein guter Ansatz. Nach Bekanntwerden der PISA-Ergebnisse 2001 setzte der Reflex ein, die Schüler und Schülerinnen „mit Migrationshintergrund“ für das schlechte Abschneiden Deutschlands verantwortlich zu machen. In der Folge hat man sich auf die Vermittlung deutscher Sprachkompetenzen konzentriert – nur leider ohne das große Geld in die Hand zu nehmen und sich grundlegend darauf auszurichten, dass Unterricht sprachsensibel und unter Berücksichtigung der Erstsprache(n) stattfindet.
Stattdessen soll ein Jahr zusätzlicher Deutschunterricht in der Sekundarstufe I die neu zugewanderten Kinder so weit bringen, dass sie in eine altersgerechte Regelklasse wechseln können. Aus der Sprachforschung wissen wir aber, dass es etwa sieben Jahre dauert, bis 13- bis 14-Jährige Deutsch auf dem Niveau der Bildungssprache erlernen, das es ihnen ermöglicht, dem Fachunterricht voll und ganz folgen zu können. Diese Erkenntnis wird hier jedoch nicht berücksichtigt. Es zeigt sich, wie wenig Mehrsprachigkeit zur konstruktiven Erarbeitung von Unterrichtseinheiten bislang berücksichtigt wird.
Wie sähe denn ein idealer Umgang mit Mehrsprachigkeit aus?
Wir brauchen ein grundlegend anderes Denken darüber, wie Fachunterricht mit Schülern und Schülerinnen unterschiedlicher sprachlicher Voraussetzungen aussehen sollte. Bildungssprachliches Deutsch wird immer noch fast überall als Kernkompetenz für die Unterrichtsvermittlung vorausgesetzt, aber das entspricht nicht der Realität.
Schüler und Schülerinnen sollten sich Unterrichtsinhalte auch in anderen Sprachen als Deutsch aneignen dürfen, sie sollten sich in Sprachgemeinschaften in der Klasse gegenseitig mit Übersetzungen helfen dürfen, sie sollten an schwierige Texte durch sogenanntes Scaffolding – das Bereitstellen von Vokabellisten, Begriffsbeschreibungen, Wörterbüchern – herangeführt werden. Mit Apps in den Erstsprachen ist da schon sehr viel möglich, wenn man sie denn zulässt. Außerdem müssen die Lehrkräfte darauf achten, wie sie reden: Ob sie verständlich sind und ob sie es schaffen, alle Schüler mitzunehmen.
Das klingt nicht wie etwas, was ein einzelner Lehrer leisten kann.
Nein, das stimmt, und insbesondere nicht von heute auf morgen. Deshalb muss Team Teaching vom System Schule her viel stärker mitgedacht werden – also der Unterricht in multiprofessionellen Teams, in denen Angehörige unterschiedlicher Professionen auf Augenhöhe miteinander arbeiten. Sozialarbeiter dürfen nicht erst geholt werden, wenn Schüler XY verhaltensauffällig geworden ist.
Sozialarbeiter dürfen nicht erst geholt werden, wenn Schüler XY verhaltensauffällig geworden ist.
Lehrkräfte müssen wissen, dass sich hinter dem Sammelbegriff „Migrationshintergrund“ die unterschiedlichsten Familienbiografien der Wanderung verbergen können: von der gezielten, zur Aufnahme von Arbeit im Ankunftsland vollzogenen Wanderung bis hin zur plötzlichen Flucht, bei der Kinder in Übergangswohnheimen ohne Schreibtisch, ohne eigenes Zimmer, ohne Ruhe leben und lernen müssen. Sie müssen verschiedene Konflikt-Lösungswege kennen, sich mit Traumafolgen auskennen und immer weiter an ihrem Wissen arbeiten, und sie müssen andere Akteure aus dem Umfeld der Schule einbinden, etwa zivilgesellschaftliche Organisationen. In der akuten Situation des Lehrermangels ist so eine Einbindung unterschiedlicher Akteure wichtig, dazu gehört auch, Lehramtsstudierende im Master als Assistenten neben der Regellehrkraft einzusetzen, am besten in multilingualen Teams.
Was halten Sie von dem Vorschlag, Sonderklassen für nicht-deutschsprachige Schüler einzurichten?
Das ist hochgradig problematisch. Die UN-Behindertenrechtskonvention hat uns 2008 als Aufgabe gegeben, unser System inklusiv auszurichten, und das heißt inklusiv in jede Richtung. Das betrifft auch die Sprachen. Kinder und Jugendliche können am besten in gemischten Gruppen lernen. Wenn eine Klasse zu 98 Prozent aus Kindern besteht, die zu Hause andere Sprachen sprechen, dann ergibt das vielleicht nicht von Anfang an das bildungssprachliche Deutsch, das man gerne hätte, aber das sie Verbindende ist Deutsch und die Mehrsprachigkeit, sodass sie im Sinne des Sprachbewusstseins viel voneinander lernen können. Ich halte es für Deutschland für extrem wichtig, dass sich diese Barriere gegenüber einer migrationsgesellschaftlichen Veränderung von Schule in den Köpfen öffnet. Und interessanterweise tut sie das jetzt, mit den ukrainischen Kindern und Jugendlichen. Da werden auf einmal Dinge gemacht, die vor Kurzem noch für unmöglich gehalten wurden.
Zum Beispiel?
Bei den ukrainischen Kindern wird auf doppelte Perspektivität geachtet und Fachunterricht in Ukrainisch erteilt. Es wird berücksichtigt, dass diese Kinder nicht unbedingt nach Deutschland gekommen sind, um ihr Leben lang hier zu bleiben. Es wird ermöglicht, das ukrainische Abitur an deutschen Schulen zu absolvieren – allerdings in enger Kooperation mit dem ukrainischen Bildungsministerium. Wenn das jetzt eine Maßnahme bleibt, die nur den ukrainischen Schülern und Schülerinnen angeboten wird, dann ist das ein Problem: Es hieße, dass diese Gruppe ein gesondertes Schulsystem geboten bekommt, das allen anderen Kindern, die als Quereinsteiger hierher kamen, vorenthalten wurde. Es sollte aber das Recht aller Kinder sein, unabhängig von ihrer nationalen Herkunft, dass ihnen diese verschiedenen Optionen offengehalten werden, dass ihre bisherige Schulsprache auch in Deutschland als solche anerkannt und weiter ausgebaut wird.
Könnte dieser neue Umgang mit ukrainischen Geflüchteten zu einem allgemeinen Umdenken führen?
Ja – genau das ist meine Hoffnung. Es gibt gerade eine gewisse Öffnung für die geschilderten Maßnahmen und auch für die Idee, mehr internationale Lehrkräfte an deutschen Schulen einzusetzen. Die Anerkennung haben nicht nur diese professionellen Lehrkräfte verdient. Auch bei uns ist die Not zu groß, als dass wir diese Ressource ungenutzt lassen können. Wenn das Bildungssystem jetzt anlässlich der ukrainischen Fluchtmigration endlich so geöffnet wird, wie es schon lange von uns Bildungsforschern eingefordert wird, dann ist das doch der Beweis, dass es funktionieren kann – und das bedeutet auch, dass wir es für alle öffnen müssen.
Was bedeutet das genau – das Bildungssystem öffnen?
Das betrifft die Schüler, aber auch die Eltern. Das deutsche Bildungssystem geht stärker als alle anderen der Welt davon aus, dass Eltern den schulischen Lernprozess ihrer Kinder aktiv unterstützen. Aber Eltern, die neu zugewandert sind, sind über diesen gemeinsamen Bildungsauftrag von Elternhaus und Schule nicht informiert, und selbst wenn sie es sind, dann sind sie möglicherweise nicht in der Lage dazu, weil sie kein Deutsch können und die Schule sie nur in dieser Sprache anspricht. Zudem kennen sie das System nicht. Es gibt zwar zunehmend von den Schulbehörden Material in unterschiedlichen Sprachen zum Herunterladen – aber auch da gehört eine gewisse Kenntnis des Umgangs mit dieser Art von Informationsaufnahme und -verarbeitung dazu. In Deutschland ist insbesondere in der Sekundarstufe I alles ausgerichtet auf eine eindimensionale Kommunikation der Schule mit den Eltern, reduziert auf einen Elternsprechtag und einen Elternabend im Schulhalbjahr. Es ist nicht gewünscht, dass Eltern in die Schule kommen, sich dort aufhalten oder von sich aus den Kontakt suchen.
Schulen sollten Gesprächsanlässe mit Eltern suchen, die sich nicht nur auf Problemsituationen beziehen.
Wie kann man Schulen also für Eltern öffnen?
Schulen in der Migrationsgesellschaft sollten sich als Familien-Bildungszentren verstehen und Gesprächsanlässe suchen, die sich nicht nur auf Problemsituationen beziehen. Durch den kontinuierlichen Austausch mit Eltern wird Vertrauen geschaffen. In Kanada war ich begeistert davon, dass Schulen eigene Räume für die Zusammenarbeit mit Eltern zur Verfügung stellen: Dort sitzen im täglichen Wechsel Experten, die unterschiedliche Sprachen sprechen und Eltern beraten, sich mit ihren Sorgen und Nöten auseinandersetzen, gemeinsame Projekte anbahnen, und einen telefonischen Übersetzungsservice für alle Sprachen gibt es auch.
Das alles sind Elemente, die für Deutschland noch neu sind. Die grundlegende Einsicht, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, ist in der Breite noch nicht angekommen. Aber die Erwartungshaltung, dass alle Eltern sich selbst intrinsisch motiviert über das System informieren und wissen, wie es funktioniert – das ist eine akademisch entrückte Vorstellung davon, wie sich Menschen in neuen Gesellschaften bewegen.
Wo zeigen sich diese „akademisch entrückten Elemente“ im deutschen Schulsystem noch?
Zum Beispiel in der Lehrerausbildung. Auch da ist Migrationsgesellschaft als Zustandsbeschreibung der Realität noch nicht angekommen. Es werden zwar an fast allen Universitäten Veranstaltungen mit so pauschalen Titeln wie „Umgang mit Heterogenität“ angeboten, aber meist nur als Wahl-, nicht als Pflichtmodul. Ich glaube aber inzwischen, dass ein Pflichtmodul mehr hier, ein Übersetzungsservice zusätzlich dort – dass das alles nicht mehr reicht. Wir müssen, glaube ich, Schule fundamental anders denken. Komplett anders, denn Schule, wie sie traditionell auch heute immer noch gedacht und umgesetzt wird, entspricht nicht den Erfordernissen unserer Zeit. In diesen Prozess der umfassenden Transformation müssen dann alle mit rein, von der Architektin bis zum Sozialpädagogen.
Warum Architektinnen?
Weil der Raum als sogenannter „Dritter Lehrer“ in seiner Bedeutung unterschätzt wird. Wir brauchen andere als die üblichen quadratischen Klassenräume – Wohlfühlräume, die sich den Lern- und Lebensbedürfnissen der vielfältigen Schülerschaft flexibel anpassen, die zugleich den Gemeinschaftssinn stärken und Sinn stiften. Das sind alles Elemente, an die wir nicht denken, wenn wir uns deutsche Schulen vorstellen. Viele unserer alten Gebäude, die wir romantisch finden, sind überhaupt nicht geeignet, um moderne Lernräume zu schaffen.
Aber die Schule der Zukunft muss mehr tun, als nur einen Kanon zu vermitteln, von dem wir ja gar nicht mehr wissen, welche Bedeutung er für die nahe Zukunft noch haben wird. Kinder und Jugendliche verbringen in einem maßgeblichen Entwicklungsalter unglaublich viel ihrer Zeit dort. Ihnen müssen auch entsprechende Bewegungsmöglichkeiten geboten werden. Dass während der Pandemie ausgerechnet der Sportunterricht ersatzlos ausgefallen ist – das ist ein Skandal. Als ganzheitliche Lern- und Selbsterfahrungsmöglichkeit bieten sich theaterpädagogische Konzepte an. Epochaler Unterricht, wie ihn Reformpädagogen schon vor 100 Jahren gedacht haben, kann dazu beitragen, Lerninhalte besser als bisher in einen größeren, auch globalen Zusammenhang zu bringen.
Was meinen Sie mit epochalem Unterricht?
Fächerübergreifenden, epochal gedachten und projektorientierten Unterricht, bei dem diverse Gruppen an gemeinsamen Lerngegenständen arbeiten und der im Idealfall an einer Ganztagsschule stattfindet. Das Individuum und seine Lernbedürfnisse zu erkennen, muss nicht bedeuten, dass alles Lernen nur individuell geschieht. Auch das selbständige Lernen muss gelernt werden. Wenn man drei Jahre auf der Flucht war oder im Herkunftsland ganz andere Lernformen relevant waren, dann kann eine zu starke Individualisierung schnell auch zur Überforderung führen. Lehrer und Lehrerinnen als Lernbegleiter müssen eine gute Balance zwischen diesen verschiedenen Unterrichtsformen finden und nicht das Curriculum, sondern die Schüler und Schülerinnen und ihre Lernbedürfnisse in den Mittelpunkt stellen. Dazu gehört auch, dass man das Lehrmaterial an Inhalten orientiert, die dieser weltgesellschaftlich vielfältig verorteten Schülerschaft entsprechen.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Ja: Der Perspektivwechsel im Geschichtsunterricht. Wenn ich historische Ereignisse maßgeblich aus der Perspektive Europas präsentiere, dann können das viele Schüler und Schülerinnen mit ihren Eltern nicht teilen, weil dieser Bezugspunkt für sie nicht den gleichen Stellenwert hat. Für die Schule der Migrationsgesellschaft sollte es selbstverständlich sein, den Beitrag von chinesischen Historikerinnen oder russischen Philosophen oder syrischen Künstlerinnen zum Weltwissen zu adressieren. Der Verweis auf Europa als Wiege der Aufklärung, die im Zentrum der heutigen Weltkultur stünde, ist kaum mehr glaubhaft zu vermitteln.
Europa als Wiege der Aufklärung, das im Zentrum der Weltkultur steht – das ist kaum mehr glaubhaft zu vermitteln.
Die Lehrpläne müssen also davon abrücken, Europa als Nonplusultra darzustellen.
Ja. Bis heute erfahren Schüler und Schülerinnen kaum etwas über Deutschland als ehemalige Kolonialmacht, deren Spuren bis in die Gegenwart zu verfolgen sind. Das zur Kenntnis zu nehmen, ist aber eine wichtige Voraussetzung, sich sachkundig mit dem Thema Migration zu befassen: Wir haben die Verantwortung, zu schauen, was Migration eigentlich mit der kolonialen Verteilung von Welt und Macht zu tun hat, welche Ungleichgewichte darüber angelegt wurden und welche davon bis heute perpetuiert werden.
Beim Thema Migration fällt oft auch der Begriff Brennpunktschule. Wie stehen Sie dazu?
Der Begriff ist ganz furchtbar. Er führt einen Satz an Assoziationen mit sich, bei denen Sie und ich sofort wissen, was damit gemeint ist: ein hoher Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund; gleichgesetzt mit schwierigen sozialen Lagen; Eltern, die arbeitslos sind oder psychische Probleme haben; hohe Kriminalität im Stadtteil. Das ist eine Ansammlung an strukturellen Problemlagen, die dem Ort mit einem Wort als inhärent zugeschrieben werden.
Und damit auch denjenigen, die diesen Ort beleben.
Ja, genau. Es sind aber nicht die Kinder, die kriminell sind, oder die Familien, die ihren Kindern keine gute Zukunft wünschen. Es sind die Rahmenbedingungen, in denen sie leben, die eben von einer Schule, die blind gegenüber diesen Rahmenbedingungen ist, nicht aufgefangen werden. Noch dazu haftet der Begriff und das mit ihm verbundene Sozialstigma wie Kaugummi an den Menschen, die dort leben und ihren Orten. Wenn die Schule einmal als Schule im Brennpunkt und damit als gefährlicher und gefährdeter Ort gebrandmarkt wurde, dann haftet dieses Label der Schule dauerhaft an, und es sorgt dafür, dass alle Beteiligten – Schüler und Lehrer – resignativ meinen: Wir haben sowieso keine Chance.
Warum ist das ein fehlerhaftes Bild?
Nehmen wir den Rütli Campus in Berlin Neukölln als Beispiel. Der Hilferuf der Lehrer ging damals durch die Republik. Daraufhin hat sich die Freudenberg Stiftung als Partner der Schule an ihre Seite gestellt und ein Zehn-Jahres-Projekt namens Quadratkilometer Bildung implementiert. Die Kernidee dahinter war, dass ein Entwicklungsprozess mit vielen Ressourcen in Gang gesetzt werden muss, um der Schule langfristig dabei zu helfen, soziale Problematiken in ihrem Umfeld zu kompensieren. Wir wissen aus der Forschung, dass Schülerinnen aus bildungsorientierten und ressourcenreichen Familien wenig von Schule brauchen, um ihre Ressourcen entfalten zu können.
Es sind nicht die Kinder, die kriminell sind, oder die Familien, die ihren Kindern keine gute Zukunft wünschen.
Im Umkehrschluss bedeutet das, dass wir nicht von Bildungsgleichheit und -gerechtigkeit reden dürfen, wenn allen das gleiche gegeben wird. Eine Schule in einem Gebiet, in dem viele soziale Problemlagen vorherrschen, muss keine schlechte Schule sein, wenn sie gezielt besonders gut ausgestattet wird. Und das, was an der Rütli-Schule dysfunktional war, konnte deshalb so traurige Berühmtheit erlangen, weil die notwendigen Ressourcen dafür, hier positive Entwicklungsimpulse zu setzen, nicht zur Verfügung gestellt wurden.
Welche Form müssen diese Ressourcen nehmen?
Sie sind nicht allein im Materiellen zu suchen. Computer alleine bringen gar nichts, genauso wenig wie Tablets, wenn man den Kindern nicht beibringt, wie damit umzugehen ist und wenn es an einer fortwährenden technischen Wartung fehlt. Es braucht vor allem Lernkonzepte, die den Möglichkeiten der Schüler und Schülerinnen entsprechen, und eine anregende Lernumgebung, zugewandte Pädagogen und Pädagoginnen, anspruchsvolle pädagogische Konzepte, klare, gemeinsam vereinbarte Regeln und eine Verteilung der Ressourcen, die Lehrkräfte nicht frustriert und nicht als Einzelkämpfer in die Schule schickt. Da, wo solche ganzheitlichen Bildungskonzepte umgesetzt werden – etwa beim Quadratkilometer Bildung oder in der SchlaU-Schule in München – da erkennen sich Schüler und Schülerinnen als selbstwirksam, da schätzen sie die Lernumgebung, die ihnen Respekt entgegenbringt und so bringen auch sie ihr Respekt entgegen.
„Wir werden Migration brauchen“
Warum ist erfolgreiche Migrationspädagogik für die gesamte Bevölkerung von Bedeutung?
Jeder Mensch hat Ressourcen, Fähigkeiten, Talente. Wir sind engstirnig, wenn wir die Talente der Menschen, die hier sind, nur danach bemessen, ob sie einem bestimmten Normwert entsprechen. Tests wie die PISA-Studie bilden nur ab, wie gut Schüler in einer festgelegten Altersgruppe bestimmte vorgegebene Aufgaben lösen können, aber nicht, welche sozialen Fähigkeiten sie in eine Gesellschaft mitbringen, welche neuen Wissensbestände sie einbringen, welche positiven Impulse zum Gemeinschaftsleben oder zum Beispiel zur Gestaltung des öffentlichen Raums sie leisten können. In anderen Teilen der Welt wird etwa der öffentliche Raum sehr viel stärker von Menschen genutzt und damit belebt. In Deutschland ist die Aufenthaltsqualität an städtischen Verdichtungsräumen eigentlich erst seit Corona stärker im Blickpunkt der Stadtplaner und -planerinnen. Wir können nicht nur in dieser Hinsicht viel von den Menschen lernen, die aus aller Welt hierher kommen und diesen Raum zu ihrem machen.