Klassenzimmer der Zukunft

Die Neuerfindung der Schule

×

Auf den Punkt gebracht

  • Veraltetes System. Fächerkorsett, Notendruck, Zeitmangel, Frust: Schule, wie sie jetzt funktioniert, ist im letzten Jahrhundert steckengeblieben.
  • Überforderung. Schüler werden zu wenig auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet, Lehrer straucheln unter den Anforderungen eines zu starren Systems.
  • Innovationsbedarf. Schulen müssen offener, diverser und kreativer werden. Zu viele Potenziale bleiben ungenutzt, zu viele Bildungsbiografien verkümmern.
  • Mut zur Veränderung. Reformen dürfen nicht nur darauf abzielen, Schönheitsfehler zu kaschieren. Es gilt, an den Fundamenten des Schulsystems zu rütteln.

Neun Sätze sagen bereits alles. Sie stehen auf der Website des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung und erzählen von den Meilensteinen des österreichischen Bildungssystems. Den meisten Platz nimmt die Einführung der Schulpflicht 1774 unter Kaiserin Maria Theresia ein; die letzte große Reform fand 2009 statt, als die Hauptschule in Neue Mittelschule umbenannt wurde – jedoch ohne eine Gesamtschule daraus zu machen. Die wichtigste Erkenntnis, die sich aus der Lektüre ergibt: Das heimische Schulsystem ist ziemlich veränderungsresistent.

Historische Überbleibsel

Noch immer sitzen Schüler gleichen Alters über Bücher gebeugt, die Füllfeder in der Hand und den monologisierenden Lehrer an der Tafel vor sich. Das war schon immer so, heißt es. Ob es jemals wirklich gut war, fragen die wenigsten. Und die meisten vergessen, dass es der Geist Preußens ist, der hier nach wie vor durch die Klassenzimmer weht. Zucht und Ordnung, Gleichmacherei und Obrigkeitsdenken halten sich im Bildungssystem – statt Entfaltung, Kreativität und freiem Denken.

Bilingualer Unterricht in Großbritannien 1936
1936, London: Mitunter liegt es nicht nur an der Starrheit der Bildungssysteme, dass sich innovative Bildungsansätze – wie hier bilingualer Unterricht in Deutsch und Englisch – nicht durchsetzen. Bildung unterliegt auch stets den politischen Entwicklungen eines Landes. © Getty Images

Zugegeben: Von der körperlichen Züchtigung haben wir uns inzwischen verabschiedet. Den übrigen Eckpfeilern des militärisch-klerikalen Schulsystems folgen wir aber weiter, auch wenn es längst nicht mehr darum geht, Soldaten, Beamte und Priester en masse für den Staatsdienst heranzuziehen. Die Folge: frustrierte Lehrer, strauchelnde Schüler und stetig sinkende Leistungen.

Übrigens: Das sechsstufige Notensystem Deutschlands ist ebenfalls ein historisches Überbleibsel, das wir der Kirche – genauer gesagt dem Jesuiten­orden – zu verdanken haben. Eingebettet in ein veraltetes Schulsystem, stellt es eine unflexible Methode der Leistungsbeurteilung dar, die den wahren Beitrag, den ein Schüler oder eine Schülerin zu einer Gesellschaft zu leisten vermag, nur selten abbilden kann. Denn nicht jeder Einserschüler wird automatisch CEO.

I. System neu denken

Wirklich aufgefallen, wie es um das Schulsystem steht, ist es im Jahr 2000. Mit der PISA-Studie wurde erstmals ein umfassender Ländervergleich der Schülerkompetenzen durchgeführt, der in Ländern wie Deutschland (und in der nächsten Runde 2003 in Österreich) prompt zu einem Schock führte: Man lag in allen drei Testbereichen – Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften – weit weg von der Spitzengruppe.

×

Zahlen & Fakten

Natürlich sind nicht alle Schulsysteme der Welt gleich. Aber dass es bei Schulleistungen um mehr als nur persönliche Bildungsbiografien geht, zeigt das Beispiel Südkoreas: In den 1960er-Jahren war der asiatische Staat noch Entwicklungsland und hinkte südamerikanischen Nationen weit hinterher. Heute ist die Wirtschaftsleistung Südkoreas pro Kopf mehr als viermal so hoch wie jene Brasiliens. Und in den PISA-­Testergebnissen schneidet das Land konsequent unter den Top Ten ab.

„Man muss sich in Europa nicht unbedingt an asiatischen Systemen orientieren“, meint Ludger Wößmann, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik. „Länder wie Estland, Finnland oder Kanada schneiden ebenfalls hervorragend ab. Heuer findet bereits die achte PISA-Testreihe statt. Somit lassen sich Entwicklungen in einzelnen Ländern beurteilen, die bestimmte Reformen durchgeführt oder unterlassen haben. Außerdem ermöglicht es die große Fülle an Daten, einzelne Effekte statistisch zu isolieren“, meint er.

Die folgenden Erkenntnisse für die Bildungspolitik ruhen daher auf einem robusten Fundament:

II. Skills statt Wissen

Radfahren lernt man nicht durch die genaue Kenntnis aller Bestandteile eines Fahrrads. Schwimmen nicht im Physiksaal, sondern in einem Schwimmbecken. Schulgründer und Autor Andreas Salcher illustriert mit diesen Beispielen, wie wichtig es ist, erfahrungsbasiert zu lernen. „Diese Art zu lernen wird im 21. Jahrhundert lebensnotwendig. Der israelische Zukunftsdenker Yuval Harari geht davon aus, dass sich Menschen aufgrund des rapiden Fortschritts der Technik, etwa auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz, alle fünfzehn Jahre neu erfinden müssen, um die beruflichen Herausforderungen bewältigen zu können.“

Was genau bedeutet das für den Schulunterricht? Das vom Center for Curriculum Re­design, einem internationalen Forschungszentrum für Lehrpläne, entwickelte Modell der 21st Century Skills gibt Antworten: Demnach bedeutet Bildung, Dinge zu verstehen, statt sie auswendig zu lernen. Das erworbene Wissen sollten Schüler in der Praxis anwenden können. Im Unterricht sollten positive Charakter­eigenschaften wie Neugier, Mut oder Achtsamkeit gefördert werden. Und schließlich sei es wichtig, dass Kinder und Jugendliche Strategien entwickeln, wie sie sich Wissen aneignen können – also lernen zu lernen. In der Praxis bedeutet das: Der Unterricht, wie wir ihn kennen, muss neu erfunden werden.

×

Zahlen & Fakten

Illustration von Schülern, die eine Uhr auseinandernehmen
Die klassische 45- oder 50-Minuten-Unterrichtseinheit kommt weder den Lehrkräften noch den Lernenden entgegen. Flexibleres Zeitmanagement fördert Kreativität und bietet die Chance, Inhalte zu vertiefen. © Darja Eder

Was die Schule des 21. Jahrhunderts können sollte

  • Lernbüros statt Stundenplan: In einem offenen Lernformat trainieren Lernende grundlegende Fähigkeiten und wenden sie in Projekten mit realen Zielen an.
  • Weg mit 50-Minuten-Einheiten: Die Abkehr von der üblichen Fächerzersplitterung reduziert Stress sowohl für Lehrkräfte als auch für die Lernenden.
  • Strukturierte Lernphasen: In Lernbüros wird individuell gelernt, gefolgt von gemeinsamer Arbeit in Workshops. Täglich gibt es mindestens eine Bewegungseinheit.
  • Hightech hilft: Das Arbeiten erfolgt nach Lernplänen auf einer digitalen Plattform, auf der Lernende und Lehrkräfte transparent die individuellen Erfolge dokumentieren.
  • Persönliche Betreuung: Jede Schülerin und jeder Schüler hat eine Lehrperson als Coach. Dieser hat den Überblick über Lernfortschritte, Lernziele, Projekte, Noten usw.
  • Persönliche Portfolios statt Noten: Statt mit Ziffernnoten für Prüfungen und Schularbeiten wird der Lernerfolg mit sogenannten Lernbeweisen dokumentiert.
  • Fokus auf soziale Kommunikation: Schüler lernen das zwischenmenschliche Miteinander in unterschiedlich zusammengesetzten, altersübergreifenden Gruppen.
  • Externe Hilfe: Externe Experten und Eltern sind in den Unterricht eingebunden. 
  • Epochenunterricht: Für eine gewisse Epoche wird das Nebeneinander der Fächer aufgehoben, um ein Thema aus unterschiedlichen Perspektiven zu bearbeiten.
  • Silence Room: Hier dürfen Kinder in Ruhe und selbständig arbeiten. 
  • Open Lab: Hier bearbeiten Lernende Projekte, die sie selbst ausgewählt haben. 
  • Flexibler Unterrichtsstart: Schüler können zwischen 8-9 Uhr in der Schule eintreffen.
  • Marketplace: Themen, Wünsche, To-do-Listen erlauben die Mitgestaltung der Schule.
  • Körper und Geist: Tägliche Achtsamkeitsübungen, Körperarbeit und Meditation. 
  • Lehrerteams: Teams von 5-8 Lehrkräften, die den gesamten Fächerverband abdecken.

Auch die Beziehung zwischen den Pädagogen und den Schülern, die in den Bildungswissenschaften gern „Lernende“ genannt werden, spielt eine wesentliche Rolle. Beziehungen aufzubauen, statt auf Autorität durch Notendruck und Strafen zu hoffen, ist wichtig, um die emotionalen Kompetenzen von Schülern zu entwickeln. Im Gegensatz zum Intelligenzquotienten können Menschen ihre soziale Kompetenz nämlich deutlich verbessern: Zum Beispiel haben Forscher festgestellt, dass sich Selbstdisziplin im Laufe des Lebens trainieren lässt wie ein Muskel.

Ein moderner Unterricht zieht Eigenschaften wie Frustrationstoleranz, Beharrlichkeit, Sorgfalt und Geduld mit ein. Genauso wichtig wie die Vermittlung der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen sowie einer umfassenden Allgemeinbildung ist es in Zukunft, die sportlichen, kreativen und sozialen Talente der Schüler regelmäßig systematisch zu erfassen und weiterzuentwickeln. Dazu zählt auch, emotionale Intel­ligenz zu erlernen. Für Salcher ist klar:

Wer Erfolg im Leben haben will, muss das emotionale Alphabet beherrschen.

Andreas Salcher (Bildungsexperte)

All diese – nachweisbar erfolgreichen – Bildungskonzepte setzen sich in unserem Bildungssystem aber kaum durch. „Grundsätzlich ist das bei sozialen Innovationen schwieriger als bei technischen, weil soziale Problemlagen viel individueller sind. Das ‚Not invented here‘-Syndrom – alles, was nicht von uns kommt, kann nicht gut sein – spielt ebenfalls eine große Rolle, besonders im politisch-bürokratischen Bereich“, bedauert Bildungsexperte ­Salcher.

Doch es gibt auch positive Beispiele in Europa: In Estland etwa gibt es flächendeckend echte Ganztagsschulen mit intensiver individueller Förderung. Nur fünf Prozent der estnischen Schüler fallen in die Kategorie „leistungsschwach“. Dem stehen mehr als 20 Prozent Leistungsstarke gegenüber. Zum Vergleich: In Österreich erreichen nur 16 Prozent das Top-Niveau, knapp 14 Prozent fallen jedoch in die Kategorie „leistungsschwach“. Und auch im hiesigen verkrusteten System gibt es Erfolgsgeschichten. So zeigen etwa die mit dem Deutschen Schulpreis oder dem österreichischen Staatspreis für Innovative Schulen gekürten Einrichtungen, wie man das Wissen der Lernforschung erfolgreich umsetzen kann.

III. Demokratieschule

Griechenland gilt gemeinhin als Wiege der Demokratie. Blickt man jedoch genauer auf den antiken Stadtstaat Athen, kann man feststellen, dass nach Abzug der Frauen, der Sklaven und aller Ausländer gerade einmal 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung politische Mitsprache hatten. Wählen durften nur Männer, die den Militärdienst abgeleistet hatten. Doch vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine stellt sich die Frage: Könnte Russland seinen Angriffskrieg gegen das Nachbarland auch dann führen, wenn alle Soldaten, die nun ihr Leben riskieren, ein Mitspracherecht darüber hätten, wer im Kreml sitzt?

An dieser Stelle kommen unsere Schulen ins Spiel: „Demokraten fallen nicht vom Himmel – vielmehr muss Demokratie erlernt und erprobt werden“, schreiben Robert Hummer und Elfriede Windischbauer vom Institut für Gesellschaftliches Lernen und Politische Bildung der Pädagogischen Hochschule Salzburg. Ihre These: Ohne politische Mündigkeit keine politische Teilhabe. Letztere werde in einer Demokratie in unterschiedlichen Rollen gelebt: Die reflektierte Beobachterin zählt ebenso dazu wie der interventionsfähige Bürger oder die politisch engagierte Aktivbürgerin.

×

Zahlen & Fakten

„Sie sind klar abzugrenzen von einer vierten Rolle – den politisch Desinter­essierten. Dieser Typus birgt für die demokratische Ordnung erhebliche Risiken“, sagen die Experten. Junge Menschen in Österreich sind aber sehr wohl an Politik interessiert. Die Lebenswelten 2020-Studie der österreichischen Pädagogischen Hochschulen zeigt, dass unter Jugendlichen im Alter von 14 bis 16 Jahren fast jeder Zweite entweder stark oder zumindest etwas an der Politik interessiert ist. Aus anderen Befunden wisse man, dass dieser Wert mit zunehmendem Alter noch steigt. „Das den Jugendlichen oft unterstellte Desinteresse an Politik kann durch die Tatsache entstehen, dass Politik häufig gleichgesetzt wird mit Parteipolitik“, erklären die Forscher. Die „Fridays for Future“-Bewegung führt vor Augen, dass aus Interesse auch konkrete politische Handlungen erwachsen können.

Was bedeutet all das für das schulische politische Lernen? Den Lehrplan für Politische Bildung bewerten Hummer und Windischbauer durchaus positiv, denn er macht nur grobe Vorgaben und lässt Lehrpersonen bei der Themenwahl weitgehend freie Hand. Die auf dem Papier viel gepriesene Autonomie wird in der Praxis aber selten gelebt. Zu oft wirkt die Tradition der staatsbürgerlichen Erziehung fort, die politische Bildung vor allem als „unpolitische“ Institutionenkunde versteht.

Die Anstiftung junger Menschen zum politischen Selbst­denken ist die beste Prävention sozialer Problemlagen.

Elfriede Windischbauer und Robert Hummer (PH Salzburg)

Nicht dass es unwichtig wäre zu wissen, dass ein „Bundesrat“ in Österreich Gesetze meist nur verzögern, in Deutschland blockieren kann und sie in der Schweiz umsetzt. Doch echte Mündigkeit erwächst nicht aus grauer Lehrbuchtheorie, sondern aus der wiederholten, gelebten Erfahrung, etwas bewirken zu können. Der eigenen Stimme Gehör zu verschaffen wirkt länger nach, als die Amtszeiten aller Bundespräsidenten auswendig zu lernen. Und die Kunst, Kompromisse zu finden, lehrte schon Sokrates auf den Marktplätzen Athens und nicht im stillen Kämmerlein.

Leider kommen Diskussionen, Debatten und greifbare Selbstwirksamkeitserfahrungen in unseren Schulen viel zu kurz – nicht zuletzt, weil politische Bildung nicht fächerübergreifend gelehrt wird und nur wenige Stunden pro Woche zur Verfügung hat. Dabei berührt Politik fast jeden Bereich unseres Alltags, und das Potenzial für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit im Lehrerkollegiat ist groß. Viele Lehrkräfte in Biologie und Physik, aber auch in Kunst und Geschichte flüchten jedoch vor schwierigen und tagesaktuellen Themen, um nicht den Vorwurf der politischen Indoktri­nation aufkommen zu lassen.

×

Zahlen & Fakten

Eine solche inhaltliche Bereinigung und Entkoppe­lung des Unterrichts vom Zeitgeschehen dient aber niemandem – am wenigsten den heranwachsenden Bürgern. „Spätestens in jenen Momenten, wenn die öffentliche Klage über zeittypische Verwerfungen wie Verschwörungsgläubigkeit oder Demokratie­müdigkeit wieder laut wird, sollten wir uns als Gesellschaft ins Bewusstsein rufen, dass die Anstiftung möglichst vieler junger Menschen zum politischen Selbst­denken die beste Prävention solcher Problemlagen ist“, argumentieren Hummer und Windischbauer. Dafür müsse politische Bildung in der Ausbildung aller Lehrerinnen und Lehrer – von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe II – fest verankert werden und dürfe nicht bloße Wahlveranstaltung bleiben.

Der Reformbedarf in der Lehrerausbildung ist damit aber nicht annähernd vollständig beschrieben.

IV. Traumjob Lehrer

In Finnland weiß man um den Wert guter Lehrer. „Der Schwerpunkt, den das Land auf die Ausbildung qualifizierter Lehrkräfte legt, ist einer der Hauptfaktoren für den finnischen Bildungserfolg“, meint Jari Lavonen, Direktor des Nationalen Forums für Lehrerbildung im finnischen Ministerium für Bildung und Kultur. Die PISA-Studienergebnisse geben ihm recht: Finnland zählt seit 2000 durchgängig zu den Top-Nationen der weltweiten Leistungsuntersuchung.

Die Skandinavier ruhen sich auf diesem Erfolg aber nicht aus. Zwischen 2016 und 2019 hat das Land ein umfassendes Reformpaket in der Lehrerausbildung umgesetzt. Es wurde – statt wie in anderen Ländern üblich – nicht auf Ministerialebene oder von einer kleinen Gruppe von Experten erarbeitet, sondern in einem 70-köpfigen Forum unterschiedlichster Bildungsexperten: vom Universitätsrektor über den Bildungsgewerkschafter bis hin zu Studentenvertretern.

×

Zahlen & Fakten

Szene aus dem Film Feuerzangenbowle
Noch einmal die Schulbank drücken: Heinz Rühmann war in der Rolle von Hans Pfeiffer (mit drei f) in Topform. © Getty Images

Verfänglicher Kultfilm: Die Feuerzangenbowle

  • Die Feuerzangenbowle ist eine deutsche Komödie mit einer einfachen Prämisse: „Dieser Film ist ein Loblied auf die Schule, aber es ist möglich, dass die Schule es nicht merkt.“
  • Tatsächlich lässt der Film mit seinen zahlreichen Schülerstreichen Wehmut für den jugendlichen Leichtsinn des Schulalltags aufkommen. Gleichzeitig thematisiert er aber die Rolle des Lehrers in der Gesellschaft – auf ganz unterschiedliche Weise:
    • Als Vertreter der Weimarer Republik finden sich der altgediente Professor Bömmel, der Freund seiner Schüler ist, aber deren Respekt nicht genießt, und der schrullige Professor Crey, der befindet: „Mit der Schule ist es wie mit der Medizin: Sie muss bitter schmecken, sonst nützt sie nichts!“
    • Als Vertreter einer „neuen Zeit“ tritt der junge Oberlehrer Dr. Brett auf, der die Kontrolle im Klassenzimmer wahrt und seinen ganz eigenen Blick auf die Schülerschaft hat: „Junge Bäume, die wachsen wollen, muss man anbinden, dass sie schön gerade wachsen, nicht nach allen Seiten ausschlagen, und genauso ist es mit den jungen Menschen. Disziplin muss das Band sein, das sie bindet – zu schönem geraden Wachstum!“
  • Wer hier einen ideologischen Hintergrund wittert, liegt ganz richtig: Die Feuerzangenbowle wurde 1944 veröffentlicht und war trotz – oder gerade wegen – ihres hohen Unterhaltungsfaktors Teil der NS-Propaganda. Der Charakter Bretts, der seine Schüler vor die Wahl von „Krieg oder Frieden“ im Klassenzimmer stellt, ist in seiner Essenz eine Verkörperung nationalsozialistischer Ideologie.

Teams, die auf Augenhöhe miteinander arbeiten: Darin liegt eine der größten Stärken des finnischen Bildungssystems. Lehrer stehen im ständigen Austausch mit Sonderpädagogen und Psychologen, mit Bildungsexperten und Sozialarbeitern, aber auch mit Schülern und Eltern. Auch wurde die Beurteilung von Lehrern durch eine übergeordnete Behörde abgeschafft. Das wichtigste Feedback kommt von Eltern, Kollegen und natürlich den Schülern. Lehrer gelten in Finnland als Teil eines großen Ganzen – und können sich nicht nur auf andere stützen, sondern sollen das sogar.

Dieses Miteinander funktioniere in Finnland besonders gut, weil finnische „Lehrkräfte, Schulen, Gemeinden und Universitäten ein extrem hohes Maß an Autonomie genießen“, so Lavonen. Statt sich sklavisch an einen Lehrplan halten zu müssen, seien finnische Lehrkräfte es gewohnt, die Zügel selbst in die Hand nehmen zu dürfen. Das Bildungssystem erlaube es ihnen unter anderem, Lehrpläne auf kommunaler Ebene mitzugestalten und selbst zu entscheiden, welche Lehrmaterialien und -umgebungen sie für ihre Schüler für am besten geeignet halten.

In Finnland sind Lehrer Reformer, nicht das Objekt oder die Zielscheibe von Reformen.

Jari Lavonen (Professor für Wissenschafts­pädagogik)

Eigene Ideen und pädagogische Innovationen können ohne großen bürokratischen Aufwand getestet werden und erhalten staatliche Förderung: Zwischen 2017 und 2021 flossen 27 Millionen Euro an Ministeriumsgeldern in insgesamt 31 Pilotprojekte, die eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Schulen fördern und der Bildungsforschung neue Impulse geben sollten.

Lernpflicht statt Schulpflicht

„In Finnland nehmen Lehrer eine besondere Rolle in der Gesellschaft ein: Sie sind Reformer, nicht das Objekt oder die Zielscheibe von Reformen“, bestätigt Lavonen. Dieses hohe soziale Prestige macht sich schon bei der Auswahl der künftigen Pädagoginnen und Pädagogen bemerkbar: Weniger als 10 Prozent der Bewerber für ein Grundschul-Lehramtsstudium werden überhaupt angenommen. Zu Recht, findet Lavonen: „Finnische Lehrer genießen nicht nur ein hohes Maß an Autonomie, sondern tragen auch ein hohes Maß an Verantwortung – sowohl dafür, wie sie ihre Schüler unterrichten, als auch dafür, wie sie sich selbst weiterbilden.“

Die Lernpflicht, die für finnische Schüler gilt – eine offizielle Schulpflicht existiert nicht –, gibt es auch für die Lehrer. Die weitreichenden Forschungs­kompetenzen, die sie im Rahmen ihres kostenlosen fünfjährigen Masterstudiums erwerben, sind notwendig, um sich auch nach dem Berufseinstieg fortbilden zu können, sei es im Bereich der Integration, der Inklusion oder im Bereich der Digitalisierung. Es ist eine Art Faust’scher Wissensdrang, der von den Lehrenden vorgelebt und – wie es aussieht – von den Lernenden übernommen wird.

Alles in allem ein guter Ansatz, um sich den Herausforderungen der Schule im 21. Jahrhundert zu stellen. Denn: Allwissend sind wir nicht, doch vieles ist uns bewusst. Dieser Leitsatz bleibt wahr, selbst wenn Goethe und sein Protagonist eines Tages aus dem Lehrplan gestrichen werden sollten.

×

Conclusio

Unsere Schulen werden den Anforderungen einer sich rasch verändernden Welt nicht gerecht. Schüler im deutsch­sprachigen Raum hinken etlichen Ländern hinterher. Dabei ist der Wohlstand einer Nation zu drei Vierteln mit der Bildung ihrer Bürger zu erklären. Erfolg hat dabei nicht, wer mehr Geld ins System steckt, sondern wer neue Ideen ausprobiert. Der Stillstand hierzulande zeigt sich in ideologischen Debatten, bei denen wissen­schaftliche Erkenntnisse ignoriert werden. Die Schulen der Zukunft sollten den Unterricht selbst gestalten und Freiräume zur Selbstverwirklichung bieten. Dort, wo Schüler nicht frontal unterrichtet werden, sondern eigenständig Probleme lösen können, steigen die Leistungen. Lehrer sollten als Gestalter eines solchen Systems ausgebildet werden, statt als dessen Vollstrecker zu agieren.

Anmerkung: In einer früheren Version hieß es in der Einleitung:"Albert Einstein kassierte eine Sechs in Physik." Das stimmt zwar, nur war das in der Schweiz die beste Note. Dass Albert Einstein ein schlechter schlechter Schüler war, ist ein Mythos.